Leseprobe

Ulrich Hübner und Christine Starke Beziehungsspiegel Beziehungsspiegel Mensch und Kulturdenkmal

SANDST E I N Amt für Kultur und Denkmalschutz der Landeshauptstadt Dresden Ulrich Hübner und Christine Starke Beziehungsspiegel Mensch und Kulturdenkmal

Inhalt 6 Vorwort 7 Geleitwort 9 Beziehungsspiegel – Mensch und Kulturdenkmal E in Blick auf die Dresdner Gesellschaftskultur 17 Eigentümer und ihre Kulturdenkmale 45 Grabdenkmale und ihre Paten 83 Vereine und ihre Denkmale 121 Denkmalpfleger im Ehrenamt 142 Biografien 144 Impressum

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9 Prolog »Dresden! Wem weckt das Wort nicht freundliche Bilder. Eine Stadtsilhouette taucht auf, wie es wenige in der Welt gibt…«1 So urteilt der Reformarchitekt Fritz Schumacher im Rückblick auf seine Dresdner Wirkungsjahre am Anfang des 20. Jahrhunderts. Das heutige Tourismusziel Dresden schöpft seine Bekanntheit nicht nur aus den zahlreichen kulturellen Einrichtungen, sondern vor allem auch aus seinem architektonischen Stadtbild. Die malerische Lage an der Elbe und die vielen kulturhistorisch wertvollen Bauwerke stehen im Einklang miteinander und bilden einen einzigartigen Stadtorganismus. Der Denkmalpflege kommt in Dresden daher eine ganz besondere Rolle zu. Neben der Erhaltung des großen Bestands an Altbausubstanz besteht ihre Aufgabe auch darin, die städtische Baukultur angemessen und sensibel weiterzuentwickeln. Beispielsweise hat der Dresdner Stadtrat mehr als ein Dutzend Denkmalschutzgebiete festgelegt, in denen neben Einzelkulturdenkmalen vor allem die Struktur, die Maßverhältnisse und die besondere Eigenart der städtebaulichen Organisation zu bewahren sind. Im Vergleich wird dabei die Unterschiedlichkeit der Gebiete in ihrer sozialen, topografischen und architekturhistorischen Ausprägung deutlich. Eine zukunftsweisende und nachhaltig agierende Denkmalpflege ist dabei essenziell. Der ehemalige sächsische Landeskonservator Gerhard Glaser (*1937) beschreibt die Aufgabe der Denkmalpflege sehr treffend, dass es nicht darum gehen kann, »[. . .] ängstlich darüber zu wachen, dass an den Kulturdenkmalen nichts verändert, dass alles unter eine Glasglocke gestellt und jedwede Entwicklung verhindert wird [. . . sondern vielmehr . . .] die Kunst darin besteht, den Bedürfnissen baulich so gerecht zu werden, dass die ursprüngliche Botschaft des Denkmals noch hinreichend anschaulich bleibt, nämlich von der Zeit seiner Entstehung, aber auch von seinem Schicksal im Laufe der Zeiten zu erzählen.«2 In der praktischen Denkmalpflege zeigt es sich, dass die Kommunikation und die Zusammenarbeit mit den DenkmalBeziehungsspiegel – Mensch und Kulturdenkmal Ein Blick auf die Dresdner Gesellschaftskultur Ulrich Hübner eigentümern wichtige Grundlagen dafür sind, die erhaltenswerten Objekte zu bewahren. Davon soll das Projekt »Beziehungsspiegel« erzählen. Es bietet Einblick in die Art und Weise, wie Denkmalpflege innerhalb der Gesellschaft gelebt werden kann und welch hohen Stellenwert sie in unserer Kultur hat. Das Projekt »Beziehungsspiegel« (2016–2021) Was können wir über unsere Welt, unsere Umgebung und unser Zusammenleben berichten und wie werden wir unsere Geschichte weitergeben? Im Bereich der Denkmalpflege ist es verhältnismäßig einfach, darauf eine schlüssige Antwort zu finden, denn der gesetzliche Auftrag des Bewahrens und Erhaltens impliziert bereits die Weitergabe des Erbes an die Folgegenerationen. Diese Aufgabe wäre jedoch ohne das Mitwirken jeder und jedes Einzelnen kaum zu erfüllen. Es ist der Mensch, der hinter dem Kulturdenkmal steht, es einst erschaffen hat und nun dessen Erhalt und Pflege übernimmt. Der Begriff »Beziehungsspiegel« soll dabei die Wechselbeziehung in der Interaktion zweier Ebenen beschreiben: Subjekt und Objekt. Die enge Beziehung des Menschen zu dem von ihm in Obhut genommenen baulichen Zeugnis zeigt uns seine Hingabe zum Objekt, seine Liebe für die architektonische Eigenart und seinen Stolz über das Erreichte. Dabei stehen häufig eigene Interessen gleichwertig neben der Intention, einen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis zu leisten. Wie aber die Wahl der Eigner auf die Denkmale fällt, bleibt deren persönliche Geschichte. Die einen haben sich in ein Haus verliebt – die anderen sehen in der Restaurierung ihres ererbten Gebäudes ein Stück Familientradition. Ganz anders ist die Situation bei Vereinen und ehrenamtlichen Denkmalpflegern. Hier geht es in erster Hinsicht um die Vermittlung und die Weitergabe allgemeiner Kulturgeschichte. Nicht jeder will und kann Eigentümer sein. Daher verbinden sich Gleichgesinnte, um

10 ihr Anliegen in gemeinsamer Tätigkeit zu verwirklichen. Viele Menschen organisieren sich dazu in Vereinen oder erforschen ehrenamtlich die Geschichte besonders erhaltenswerter Objekte. Die Fotografien und Texte des Projekts spiegeln und beschreiben die Beziehung der Einzelpersonen oder Personengruppen zum Bauwerk und machen den Betrachter neugierig auf die verschiedenen Beweggründe und Lebensentwürfe. Das Buch gliedert sich in vier verschiedene Sparten und zeigt auf diese Weise auch die Unterschiedlichkeit der Menschen und ihres Engagements auf. Kulturdenkmal und Eigentümer Die fotografische Inszenierung von Eigentümern mit ihren Kulturdenkmalen beschreibt deren Nähe auf ganz einzigartige Weise. Aus ihrem Einsatz, den Verfall eines Objekts zu verhindern, mit größter Hingabe die Details eines Bauwerks wiederherzustellen oder ein schwer nutzbares Gebäude weiterzuentwickeln, erwuchsen diese intensiven Verhältnisse. Nicht nur die Positionierung der Personen an den für sie »liebsten« Seiten oder Ecken des Hauses erzählt von deren Charakteren, sondern auch die Haltungen und Gesichtsausdrücke vermitteln den Betrachtern einen tiefen Einblick in die gegenseitige Beziehung. Die Schwierigkeit bestand bei den Aufnahmen fast immer darin, im Bildformat einen Einklang zu dem monumentalen Objekt und den individuellen Personen herzustellen, was die Fotografin Christine Starke bestens vermocht hat, ohne dabei die jeweiligen Eigenarten von Mensch und Gebäude aus den Augen zu verlieren. Verblüffend realistisch zeigt sich in sämtlichen Fotografien aber auch die Ambivalenz dieses nicht immer freiwilligen Verhältnisses. Die Beherrschung und Erhaltung der Objekte erfordert vom Menschen meist überdurchschnittlichen Kräfteeinsatz und außerordentliches Durchhaltevermögen. Gleichzeitig verdeutlichen die Bilder auch die erstaunliche Überlebensfähigkeit der »steinernen Zeugnisse«. Grabdenkmal und Paten In der zweiten Etappe des Projekts wurde das besondere Engagement von Grabpaten auf den Dresdner Friedhöfen in den Fokus genommen. Der fortschreitendende Wandel in der Sepulkralkultur hat eine völlig neue Variante der Bestattung hervorgebracht: Paten übernehmen Grabanlagen, für deren Pflege keine Angehörigen der Verstorbenen mehr aufkommen, kümmern sich um die Restaurierung und können später selbst an diesem Ort bestattet werden. So werden aufwendige Grabskulpturen und architektonische Kleinbauwerke vor dem Verfall gerettet und erhalten. Da Dresden ohnehin innerhalb der deutschen Friedhofkunst eine besonders herausragende Rolle einnimmt,3 ist es umso erfreulicher, dass Patenschaften für historische Bestattungsplätze derartigen Zuspruch erfahren. Sowohl die Restaurierung als auch die kontinuierliche Pflege obliegen den Paten. Diese Form der Kulturpflege liegt ganz besonders im öffentlichen Interesse, weil damit die unwirtschaftlichen Grabmale mit zum Teil außerordentlich qualitätvollen Skulpturen berühmter Bildhauer eine unvergleichliche Aufmerksamkeit erfahren und der Gesellschaft erhalten bleiben können. Der Friedhof ist damit nicht mehr nur Bestattungsplatz, sondern wird auch zum Entspannungsraum mit quasi museal präsentierten Kunstobjekten. Vor allem seit Beginn der Coronapandemie sind die innerstädtischen Friedhöfe als Verweilorte und Erholungsräume von der Gesellschaft wiederentdeckt worden. Kulturdenkmal und Verein Vereine oder Organisationen, die das gemeinsame Anliegen verbindet, Kulturdenkmale zu erhalten und deren Geschichte zu tradieren und weiterzuschreiben, wurden in der dritten Etappe mit ihren Objekten dokumentiert. Dabei bestand die Herausforderung nicht ausschließlich in der fotografischen Aufnahme der großen Menschengruppe, sondern ebenso in der Koordinierung der zahlreichen Mitglieder. Die ehrenamtlich wirkenden Personen, die sich zusammengeschlossen haben, um ein gemeinsames Anliegen zu verfolgen, sind Träger größerer Projekte, die für Einzelpersonen in dieser Form nicht realisierbar wären. Mit zahlreichen Veranstaltungen machen sie ihre Objekte einer breiten Öffentlichkeit zugänglich, tragen damit grundlegend zur kulturellen Bildung bei. Sie beschäftigen sich auch oft mit gesellschaftlichen Randthemen wie Grab- und Kleindenkmalen, deren baugeschichtliche Zeugnisse wenig beachtet werden, aber maßgeblich für die Vielfalt der Kulturlandschaft der Stadt Dresden sind. Während der Bismarckturm in Räcknitz als Beispiel für die Gedenkkultur steht, ist der Chinesische Pavillon exemplarisch für die grandiose Ausstellungskultur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Das Zschonergrundbad erzählt vom Badewesen der Stadt und die Villa Wigman wurde für die Tanzkultur reaktiviert, sie ist heute ein zentraler Ort der Freien Tanzszene in Dresden. All diese großen und auf viele Jahre angelegten Projekte für die Wiedergewinnung von Orten der Gesellschaft bedürfen eines besonderen Weitblicks, eines sich immer wieder regenerierenden Enthusiasmus und eines ausgeprägten Gemeinschaftsdenkens. Das Miteinander ist dabei die Grundlage für das ehrenamtliche Engagement.

11 Kulturdenkmal und Ehrenamt Schließlich erfuhren im vierten Teil ehrenamtlich beauftragte Denkmalpfleger der Landeshauptstadt Dresden eine Würdigung ihrer Arbeit, indem sie vor ihrem Lieblingsobjekt abgelichtet wurden. Sie widmen ihre Freizeit der Verbreitung baugeschichtlichen Wissens und der Erforschung einzelner Gebäude, um damit zur Bewahrung der Architekturgeschichte beizutragen. Ihnen ist es zu verdanken, dass bestimmte Spezialgebiete, wie zum Beispiel die Universitätsbauten, und schlummernde Werte entdeckt und entsprechend gewürdigt werden können. Die zumeist im Rentenalter befindlichen Experten sind manchmal selbst Architekten oder Bauingenieure, entstammen aber auch häufig ganz anderen Professionen. Ihre Liebe zur Kunst und Architektur haben sie mitunter erst spät entdeckt bzw. für das schon lange vorhandene Interesse erst im Ruhestand die Zeit gefunden. Heute unterstützen sie mit ihrem außerordentlichen Wissen die hauptamtlichen Denkmalpfleger bei der Dokumentation und in der Archivrecherche. Fotografiegeschichte Aus fotografiehistorischer Sicht ist mit diesem Projekt ein neues Sujet entstanden und ein spannendes Feld beschritten worden: der Mensch als Subjekt im Verhältnis zu dem von ihm gewählten Objekt, dem Bauwerk. Das wird besonders vor dem Hintergrund der professionellen sozialdokumentarischen Fotografien deutlich, die bis in die 1990er Jahre die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts reflektierten. Während uns die künstlerischen Dokumentationsfotografien von August Sander (1876– 1964) und Hugo Erfurth (1874 – 1948) aus den 1920er Jahren sowohl die arbeitende Bevölkerung als auch die inszenierte Porträtfotografie der Avantgarde vor Augen  S. 34 | 35

12 führen, wurden in der Nachkriegszeit vor allem die zerstörten Städte dokumentiert. Die fotografische Veranschaulichung der Gesellschaft mit den Menschen, der Mode und der Wirtschaft erfuhr in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine sehr umfangreiche Beachtung, die uns heute zum besseren Zeitverständnis verhilft. Große Bekanntheit erreichten die sozialdokumentarischen Fotografien von Christian Borchert (1942 –2000) im Osten und Herlinde Koelbl (*1939) im Westen Deutschlands aus den 1970er und 1980er Jahren, die in bis dahin ungekanntem Maße die persönliche Intimität aufbrechen. »Das deutsche Wohnzimmer«4 von Koelbl oder »Familienporträts«5 von Borchert sind Serien, die den Menschen in seinem ganz privaten und familiären Umfeld porträtieren. Unsere Neugier ansprechend, beschreiben diese Fotografien exemplarisch die gesellschaftlichen Umstände, Lebensweisen und Einzelschicksale. Sie sind heute nicht nur zeitgenössisches Dokument, sondern bereits Forschungsgegenstand in der Kunstgeschichte, der Politik- und Kommunikationswissenschaft sowie der Soziologie. Daneben etablierte das Fotografenpaar Bernd (1931 –2007) und Hilla (1934 –2015) Becher die Dokumentation von Industriebauten, deren sachliche Behandlung mit mehreren Aufnahmen zugleich eine Bestandsaufnahme des Industriezeitalters darstellt. Die Fotografen werden damit zu Chronisten unserer Kultur- und Zeitgeschichte. Die Fotografin Ursula Arnold (1929–2012), eine bekannte kritische Betrachterin der Wirklichkeit in der Deutschen Demokratischen Republik, formulierte dazu sehr treffend: »Das Foto kann die Zeit stillstehen lassen, das Moment der Vergänglichkeit, das Moment der Unwiederbringlichkeit visuell erhalten. Zeugnis der Zeit zu geben ist Intention der Fotografie.«6 In dem Zitat wird deutlich, welch großes Potenzial der als Disziplin der Kunstgeschichte noch verhältnismäßig jungen Gattung »Fotografie« eigen ist.  S. 30 | 31

13 Entgegen den Grundsätzen des Fotojournalismus, dem es vor allem auf die schnelle Momentaufnahme in einer überraschenden Situation ankommt, arbeitet die Dokumentationsfotografie vielmehr mit dem Erforschen, Formulieren und Verdeutlichen des bestehenden Zustands. Für die Beschreibung einer gesellschaftlichen Situation ist diese Art des Dokumentierens daher die geeignetste Form. Nur so lassen sich sowohl Verhältnisse, Positionen und Intentionen als auch Raumgefüge, Baukunst und Landschaftsgestalt konturiert und tiefenscharf zeigen. Die Kunstwissenschaftlerin und Fotografin Eva Mahn (*1947) hat in ihrer beachtenswerten Dokumentation der Jugendlichen in Ostdeutschland kurz nach dem Mauerfall in den Fotos auf einmalige Weise auch das bestehende Lebensgefühl eingefangen, weil sie die Dargestellten im Übergangsalters zwischen Kind und Erwachsensein authentisch abbilden konnte. Der Kunsthistoriker Hans-Georg Sehrt würdigt diese Arbeit und zieht soziologische Schlussfolgerungen: »Und doch wird es in dieser Gesellschaft in Zukunft weit mehr darauf ankommen, aus Verständnis Zeit zu haben und Wirtschaftlichkeit und Geld nicht zum maßgebenden Zeichen gesellschaftlicher Reputation und gesellschaftlicher Existenz überhaupt zu machen. Daß die Künste – und dazu gehört auch die Fotografie, wie das geschriebene und gesprochene Wort – eine besondere Aufgabe haben, ist nicht neu. Insofern ist es – über alle persönliche Betroffenheit der Fotografin Eva Mahn hinweg – von einer uns alle berührenden Brisanz, anhand der konkreten Erfahrungen, dokumentiert in Ausstellung und Publikation der Fotos und Texte, das verallgemeinernde Nachdenken über gegenwärtig dringend zu Änderndes zu bewegen.«7 Den Grundstein derartiger Dokumentationen hat bereits die bekannte Fotografin Evelyn Richter (1930–2021) gelegt. Ihre interdisziplinäre Arbeitsweise, die basierend auf individuellmenschlichen Beziehungen, Haltungen und Leidenschaften bilddramaturgischen Notwendigkeiten Rechnung trägt, erzählt Grundsätzliches über die Charaktere und Lebensumstände.8 Wie dokumentieren wir heute unsere Gesellschaft und die Fortschreibung unseres baukulturellen Erbes in einer Zeit, in der die Digitalfotografie uns unzählbar viele Fotografien schenkt, unzählige Server füllt und das Gefühl vermittelt, keinen einzigen Moment verpasst zu haben? Erinnerungstechnisch ist Letzteres jedoch ein Trugschluss. Nicht die Vielzahl der Fotografien ist uns Gedankenstütze, vielmehr ermöglicht uns deren gezielte Auswahl, Aussagen über unsere gesellschaftliche Situation, über soziologische Zusammenhänge und damit über die eigene Geschichte zu treffen. So können wir auch zukünftigen Generationen ein Fenster in die Vergangenheit öffnen. Das Projekt »Beziehungsspiegel – Mensch und Kulturdenkmal« führt als Beitrag zur heutigen Gesellschaftsdokumentation die geschilderte Entwicklung fort. Mit dem Ziel, das bürgerschaftliche Engagement zu würdigen, schneidet es nicht nur denkmalpflegerische Themen der Baukultur an, sondern dokumentiert auch Aspekte der kulturellen und künstlerischen Entwicklung innerhalb der Stadt Dresden. Da die Denkmalpflege nicht nur dem Schutz alter Gebäude, sondern gewissermaßen auch der Bewahrung und Überlieferung historischen Handwerks dient, haben wir uns bewusst für ein traditionsreiches und analoges Fotoformat mit der Hybrid-Plattenkamera (50×60) entschieden, nicht etwa um der Digitalisierung entgegenzustehen, sondern um der sowohl in künstlerischer als auch technischer Hinsicht großen Bedeutung Dresdens für die Fotografie Respekt zu erweisen.9 Die Klarheit und die Differenzierbarkeit der Schwarz- und  S. 74 | 75

14 Graustufen schaffen eine perfekte Bildatmosphäre. Die Fotografin Christine Starke äußert dazu: »Schwarz-Weiß-Fotografie ist seit Beginn meiner Arbeit als Fotografin das zentrale gestalterische Mittel für mich. Dieser Abstraktionsschritt im Verzicht auf die Farbe konzentriert den Blick auf die Form oder den Ausdruck, je nach dem, um welches Motiv es sich handelt [. . .]. Der Film kommt aus der Entwicklung und die Bilder werden zum ersten Mal sichtbar – das sind magische Momente. Und mitunter Überraschungsmomente, wenn bestimmte Aspekte sichtbar werden, die ich vorher nicht erwartet oder geplant hatte.«10 Die Fotografien von Christine Starke gehen weit über den reinen Wiedergabewert hinaus. Sie verbinden die sachlichen Objekte hervorragend mit den subjektiven Zügen der Menschen. Gleichzeitig ist jedes Bild ein ästhetischer Genuss. Die Momentfotografien sind Zeitzeugen und haben ihren völlig eigenen Klang. Die 1951 in Dresden geborene Christine Starke ist seit 1985 freischaffend und seitdem mit und ohne Kamera in Dresden unterwegs und konstatiert sowohl Zustand als auch Veränderung der Dresdner Straßen, Quartiere und Gebäude. Nach Aufnahmen vom Festspielhaus Hellerau, dem Schlachthof im Ostragehege und einer Gründerzeitfabrik im Triebischtal hat sie auch den Umbau des Erlweinspeichers am Dresdner Elbufer fotografisch dokumentiert.11 Christian Borchert sprach einst von der »Fotografie gegen das Verschwinden«.12 Starke hat mit diesen Fotos einen entscheidenden Beitrag dazu geliefert, die Geschichte, das Stadtbild, die Architektur in unseren Köpfen zu bewahren und deren Veränderung annehmen und akzeptieren zu können. Genauso nähert sie sich auch den Personen. In ihrer jüngsten Serie zu selbstständigen Frauen in der Dresdner Neustadt13 beweist sie ihr Feingefühl sowohl gegenüber den Porträtierten als auch dem sie umgebenden Arbeitsbereich. Abschluss Was letztendlich allen Objekten des Projekts »Beziehungsspiegel« gemein ist: Sie sind außergewöhnliche Kulturdenkmale, die ökonomisch keinen Gewinn bringen, aber zur besonderen Identität der Stadt beitragen. Sie sind zumeist landschaftsgestaltende, personengeschichtlich bedeutende oder auch künstlerisch äußerst wertvolle und wegweisende Objekte. Aufgrund der Unwirtschaftlichkeit stehen diese Denkmale nicht im Zentrum des allgemeinen Sanierungsgeschehens und sind auf den Enthusiasmus und Mut der einzelnen Menschen angewiesen. Besonders neben den touristischen »Leuchttürmen« der Baukultur in der Kunststadt Dresden wird dieser »Nebenschauplatz« im kommunalen Organismus nicht nur zum reizvollen Kontrast, sondern rundet das Bild der prosperierenden Großstadt des 21. Jahrhunderts geradezu ab. Das Projektergebnis beinhaltet Aussagen über die Bauwerke, die Bewahrung, Veränderung und Fortschreibung der Kulturdenkmale sowie die sozialen Zusammenhänge und ist damit ein wichtiges Zeitdokument für die Zukunft. Die Fotografien eröffnen darüber hinaus ein völlig neues Thema innerhalb der Dokumentationsfotografie, das Akteure und Objekte gleichberechtigt »in den Vordergrund« stellt. Dank Vor allem gilt mein Dank der Fotografin Christine Starke, die die Fotografien mit größter Sensibilität und Hingabe erstellt hat. Auch wenn immer wieder deutlich wurde, dass der Spagat zwischen Personen- und Objektfotografie äußerst herausfordernd ist und einiger innovativer Lösungen bedarf, hat sie jedem Foto eine eigene Note verliehen. Genauso gilt der Dank allen Fotografierten, die uns Einblick in ihre privaten Bereiche gewährt haben und uns damit offen an ihrer Geschichte teilhaben lassen. Das Projekt wäre nicht  S. 32 | 33

15 zustande gekommen, wenn sie nicht mit ihrem ausgeprägten Bewusstsein für die Kulturgeschichte aktiv mitgewirkt hätten. So tragen die Beteiligten zu einer menschlichen, zugewandten und lebenswerten Gesellschaft bei. Das Amt für Kultur und Denkmalschutz hat das Projekt von Beginn an mitgetragen und finanziert. Die Offenheit, die dem Anliegen der öffentlichen Wahrnehmung der bürgerschaftlichen Beteiligung entgegengebracht wurde, war die Grundlage dafür, dass dieses Buch in vorliegender Form erscheinen konnte. Nach der erfolgreichen Ausstellung im Stadtarchiv Dresden im April/Mai 2022 kann dieses einzigartige Projekt nun der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und gleichzeitig weitere Anregung zur Beschäftigung mit dem Thema Mensch und Kulturdenkmal bieten. 1 Fritz Schumacher: Stufen des Lebens. Berlin/Stuttgart 1935, S. 215. 2 Zitiert nach: Kultur im Rückblick 2012. Jahresbericht des Amtes für Kultur und Denkmalschutz der Landeshauptstadt Dresden. Dresden 2012, S. 39. 3 Vgl. dazu Marion Stein: Friedhöfe in Dresden. Dresden 2000. 4 Herlinde Koelbl und Manfred Sack: Das Deutsche Wohnzimmer. München/Luzern 1980. 5 Christian Borchert: Familienporträts. Fotografien 1974 –1994. Leipzig 2014. 6 Ursula Arnold. In: Gabriele Muschter (Hg.): DDR Frauen fotografieren. Lexikon der Anthologie. Berlin (West) 1989, S. 28. 7 Hans-Georg Sehrt. In: Eva Mahn – Aufbruch in die Vergangenheit. Ein Dokument der Veränderung. Halle (Saale) 1994, S. 99. 8 Vgl. Astrid Ihle und Matthias Flügge: Evelyn Richter – Stillgehaltene Zeit. Heidelberg 2002, S. 12. 9 Vgl. dazu Kirsten Vincenz (Hg.): Fotoindustrie und Bilderwelten. Die Heinrich Ernemann AG für Camerafabrikation in Dresden 1889–1926. Bielefeld/Leipzig 2008. 10 »Ich bin keine Jägerin« Interview mit Christine Starke, geführt von Teresa Ende. In: Dresdner Neueste Nachrichten 5 (6. 1. 2017), S. 7. 11 Ulrich Hübner: Die Verwandlung des Erlweinspeichers in Dresden. In: Jahrbuch 2010. Mitteilungen des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen. Beucha/ Markkleeberg 2010, S. 98–102. 12 Zitiert nach Tanja Scheffler: Christian Borchert. Fotografien von 1960–1996. In: Bauwelt 8 (2012), S. 3. 13 Christine Starke: Die Selbständigen. Porträts von Chefinnen, Künstlerinnen, Freiberuflerinnen. Dresden 2016.  S. 116 | 117

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17 Eigentümer und ihre Kulturdenkmale

19 Einhart Grotegut vor der Alten Schule in Briesnitz

38 Alte Schule in Briesnitz Einhart Grotegut Eigentlich sollte das ehrwürdige Gebäude der alten Briesnitzer Schule am Fuße des Kirchbergs bereits Ende der 1980er Jahre abgebrochen werden. Es war alt, abgewirtschaftet und desolat. Jedoch wurde es von dem Künstler und Enthusiasten Einhart Grotegut entdeckt und, wie er selbst sagt, war es »Liebe auf den ersten Blick«. Als Grotegut die vernagelte Eingangstür sah und ihm klar wurde, dass das Haus verlassen war, meldete er sich bei der kommunalen Wohnungsverwaltung, die wiederum ihre Chance witterte, die Abbruchkosten zu sparen. Als Mitarbeiter im Büro des Stadtarchitekten wusste er nicht nur, dass Briesnitz großflächig durch Plattenbauten überformt werden sollte, sondern konnte auch mit bautechnischen Herausforderungen umgehen. Es galt dabei, ein spezielles System zu entwickeln, um die Statik des aus Plänergestein errichteten Baukörpers zu erhalten. Außerdem steht das Gebäude auf einer Schwemmschicht, die unter der Lehmtektonik den Weg zur Elbe sucht. Mit eigens dafür entwickelten Vernadelungen sicherte Grotegut das Haus am Hang. Bis heute bewegen sich die Wände. Seine Berufung empfand er aber auch in der geschichtlichen Aufarbeitung des Schul- und Schulmeisterhauses. Zahlreiche Zeugnisse fand er im Haus bei Aufräumarbeiten und Grabungen. Einen Raum hat er zum Historienkabinett umgestaltet und so wurde aus dem Gebäude auch ein kleines identitätsstiftendes Museum. Darin kann der Besucher nicht nur die althergebrachten Schulutensilien sehen, sondern auch das kleine Ortsgefängnis und den Schulraum besichtigen. Letzterer dient heute dem Künstler als Atelier. Als Sammler von Elbtreibgut zeigt – inszeniert und installiert – er der Gesellschaft, was sie selbst hinterlässt. Die Fotografien präsentieren Grotegut als einen Mann, der vor dem kolossalen Haus in der »Brandung« zu stehen scheint. Nur mit seiner Kraft und seinem Durchhaltevermögen konnte er dieses Kulturdenkmal vor dem Abbruch bewahren, die Seele des Hauses wiederbeleben und es bis heute pflegen. Seine eigenen Worte »Wir sind alle nur vorübergehende Gäste in diesem Haus« beschreiben einerseits unsere Vergänglichkeit und andererseits die Aufgabe, die uns anheimgestellt wird, ein Haus zu erhalten.

46 Grabpatin Petra Eggert auf dem Johannisfriedhof

48 Grabpate Magnus d’Oldenburg auf dem Trinitatisfriedhof

68 Johannisfriedhof – Der Monopteros Grabpatin Petra Eggert »Es heißt, ein Mann müsse in seinem Leben ein Haus bauen, einen Baum pflanzen und eine Familie gründen. Und was soll eine Frau tun? Sie kann das Gleiche tun oder einen Tempel adoptieren und einen Garten anlegen.« So formuliert Petra Eggert ihre Ursprungsintention, aktiv am Erhalt der Kulturlandschaft zu wirken. Dazu begab sie sich vor einigen Jahren auf die Suche nach einem Denkmal, das ihre »Hilfe« brauchte. Sie fand es auf dem Dresdner Johannisfriedhof. Östlich der Feierhalle entdeckte sie einen kleinen, damals noch etwas verwahrlosten Rundtempel, der Anfang des 20. Jahrhunderts als Grabmonument errichtet worden war. Es war Liebe auf den ersten Blick. Er, der Tempel, von schlanker, klassisch anmutender Gestalt. Sie, die Kunsthistorikerin mit Phantasie und Lust auf ein kleines Abenteuer. Das Grabmonument ist dem antiken Tempeltypus des Monopteros (altgriechisch: einzig, allein), einem Rundbau ohne abgeschlossenen Innenraum nachempfunden. Seine von acht wohlproportionierten, kannelierten Säulen mit Volutenkapitellen getragene Kuppel ziert ein Kreuz. Das Grabmonument ist von einem breiten, kreisrunden Pflanzstreifen umgeben. Petra Eggert entfernte zuerst den Efeu. Sie ließ alle Bauteile reinigen und reparieren und entwarf eine neue Bepflanzung. Es sollte ein schöner, lebendiger Ort entstehen, der zu jeder Jahreszeit blühende Blumen hervorbringt. Die Vorbeikommenden können damit am Werden und Vergehen der Natur teilhaben, ihre Erinnerungen und Hoffnungen empfinden sowie Geschichte und Gegenwart spüren. Frau Eggert hat die Patenschaft für eines der zahlreichen Kulturdenkmale auf dem Johannisfriedhof übernommen und sorgt seit vielen Jahren dafür, dass dieses eindrucksvolle Kleinod der Sepukralkultur erhalten bleibt. Auf der Fotografie sieht man ihr die Freude regelrecht an, mit der sie sich dieser Aufgabe widmet. Sie selbst beschreibt ihre Motivation folgendermaßen: »Auch wenn unser Tun endlich ist, werden uns unsere Taten wenigstens für eine gewisse Zeit überdauern. Und genau von diesem Gedanken kündet auch die Inschrift ›Wer Liebe säht, wird Liebe ernten‹, die in den Stein gemeißelt ist, über dem sich die Kuppel wölbt.«

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74 Trinitatisfriedhof – Der Sarkophag Grabpate Magnus d’Oldenburg Der schwedische Kunstliebhaber Magnus d’Oldenburg engagiert sich vielerorts für das kulturelle Leben sowohl im sozialen Bereich bei der Arbeit mit Jugendlichen in Polen als auch in der Erbepflege auf dem Dresdner Trinitatisfriedhof. Innerhalb der als Kulturdenkmal erfassten Sachgesamtheit des Friedhofs hat Magnus d’Oldenburg bereits zahlreiche Restaurierungen von Grabdenkmalen finanziell maßgeblich unterstützt und angeregt. Zwischen den hochwertigen Grabdenkmalen hat er auch eine Grabanlage für seine letzte Ruhestätte geschaffen. Das bis 2016 unbeachtete und etwas verwahrloste Grab wurde durch seine Idee zu einem besonderen Kunstwerk. Die Form des ursprünglichen Sarkophagsteins mit den dafür typischen Akrotherien und der modernen Metallkugel als Bekrönung stammt von dem polnischen Architekten Tomasz Tarasewicz, während die bildhauerische Ausführung Elmar Vogel übernahm. Rückwertig sind die chinesischen Schriftzeichen »wu wei« zu lesen: Sie beschreiben im Taoismus die »Kunst des Nichthandelns« und das Annehmen momentaner Situationen. Seiner Aussage nach hat er sich in Dresden verliebt, und seine häufigen Besuche in der Stadt zeugen von seiner Zuneigung gegenüber dieser Stadt. Sein Engagement für die Dresdner Bestattungskultur zeigt deutlich, auf welch hohem Niveau sich die Friedhofsgestaltung in Dresden bewegt. Magnus d’Oldenburg zeigt sich nachdenklich-philosophierend neben dem Grabstein und schaut bedächtig auf das von ihm Geschaffene. Leicht auf den Grabstein gelehnt und locker mit Stand- und Spielbein, unterstreicht seine Haltung die Besinnlichkeit dieser Aufnahme. Ebenso scheint der Grabpate innerlich zurückzublicken auf das von ihm auf seinen zahlreichen Reisen in der Welt Erlebte. Seine Sicherheit schöpft er aus seinem großen Erfahrungsschatz, den er auf seinen Weltreisen gesammelt hat. In der scharfen Kontur seines Gesichtsprofils spiegeln sich womöglich die verschiedenartigen Begebenheiten des bisher absolvierten Lebenswegs wider.

86 v. l. n. r. Marco Dziallas, Mandy Fischer, Matthias Hahndorf, Daniel Fischer, Ina Weise und Martin Neubacher von OSTMODERN.ORG vor der Robotron-Kantine

93 v. l. n. r. Jakoba Kracht, Fritz Wolf, Christiane Kittelmann, Karin Kracht, Antje Kirsch, Barbara Leibiger und Janina Kracht von dem Atelierhaus auf der Gostritzer Straße (Freie Akademie Kunst + Bau e. V.)

114 Atelierhaus Gostritzer Straße Freie Akademie Kunst + Bau e.V. Der Verein gründete sich 2001 mit dem Anliegen, das Atelierhaus auf der Gostritzer Straße sowohl in seiner Funktion als Künstlerhaus zu erhalten als auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ursprünglich ließ es der Dresdner Bildhauer Edmund Moeller als großzügiges Wohn- und Atelierhaus errichten. Die finanziellen Mittel dafür stammen aus dem Preisgeld des von ihm entworfenen und 1929 eingeweihten Freiheitsdenkmals in Trujillo (Peru). Kurz nach dem Tod Moellers 1958 erwarb die Produktionsgenossenschaft der angewandten Künste Dresden das Grundstück. Die Mitglieder entwickelten ein Experimentierfeld für Gestaltungselemente wie Strukturwände und Formsteine und völlig eigenständige Spielplatzgeräte, die ihre Realisierung im Betonguss erfahren sollten. Besondere Bekanntheit erfuhren dabei die großen Rutschelefanten in Dresden und Leipzig. Die Pflege dieses Erbes, die einerseits in seiner Bewahrung und Tradierung besteht, andererseits seine wissenschaftliche Aufarbeitung beinhaltet, hat der Verein in aller Gewissenhaftigkeit übernommen. Um auch die Lebendigkeit des Hauses zu erhalten, organisiert er zahlreiche Atelierausstellungen und in den Sommermonaten verschiedene Lesungen, Konzerte und Gesprächsrunden, die in dem liebevoll angelegten Blumengarten stattfinden. Damit wird das Objekt Zentrum gesellschaftlichen Austauschs und stadtteilübergreifender Kommunikation. Des Weiteren engagiert sich der Verein intensiv für die Vermittlung von Kunst im öffentlichen Raum. Dazu werden Rundgänge und Führungen innerhalb der Stadt organisiert, die den Reichtum der Kleindenkmale aufzeigen und schlussendlich das Auge schärfen für das architekturbezogene Detail. Auf dem Gruppenfoto haben sich die Akteure diffus im Garten aufgestellt. Inmitten der frühsommerlichen Blüte des Parks wirkt jede Person individualistisch und eigenständig, ohne dabei jedoch das gemeinschaftliche Anliegen aus den Augen zu verlieren.

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116 Robotron-Kantine OSTMODERN.ORG Das Netzwerk für nachkriegsmoderne Baukunst OSTMODERN.ORG hat sich 2006 formiert und zur Aufgabe gemacht, Anwalt für die baukünstlerischen Zeugnisse der DDR-Zeit zu sein. Allgemein geht es darum, eine gesteigerte Wertschätzung für die oft verkannten, vergessenen oder geschmähten Bauzeugen dieser abgeschlossenen Epoche zu erreichen. Besonders bemerkenswert ist dabei der Einsatz dieser größtenteils jungen Menschen für den Erhalt baulicher Werke, die zunächst aus der Mode geraten waren und durch die natürliche Verwitterung und oft unterlassene Baupflege häufig als Schandfleck wahrgenommen werden. Dabei zeigt sich der baukünstlerische Anspruch nicht nur in den Fassaden oder in innovativen Kubaturen, sondern ebenso durch eine vielfältige Ausstattung mit baugebundener Kunst. Das Netzwerk half, eine Basis dafür zu schaffen, dass sich immer häufiger Historiker, Architekten, Fachleute, Denkmalpfleger und Soziologen mit diesen Entwicklungen in der Architektur und der baubezogenen Kunst auseinandersetzen und in den Bauten der Nachkriegsmoderne auch wichtige Zeugnisse unserer regionalen Geschichte erkennen. Ebenso weisen sie auf die unzähligen bereits erlittenen Abbrüche von Bausubstanz jener Zeitschicht hin, die immer auch einen Verlust vorhandener Ressourcen und damit von Grauer Energie darstellen. Vor dem Hintergrund der dringend notwendigen ökologischen Wende im Baubereich ist das ein entscheidender Punkt, der im Erhalt der Gebäude durch Weiter- bzw. Umnutzung anstelle des Neubaus zu sehen ist. Ganz in diesem Sinne vermittelt das Netzwerk auch konkrete Nutzungen und unterstützt potenzielle Akteure bei deren Aktivitäten zur Belebung dieser Orte. Das Netzwerk nutzt vor allem moderne Medien wie Twitter, Instagram oder Facebook bei der Verbreitung seiner Anliegen. Deshalb und wegen kurzer Kommunikationswege ist oft eine sehr schnelle Handlungsfähigkeit und Abstimmungsmöglichkeit gegeben, was beispielsweise bei plötzlich bekannt werdenden Verlustgefahren eine zügige Reaktion ermöglicht. Nur so konnten auch bisher bestimmte Objekte, wie das Pinguin-Café im Zoo Dresden, vor dem kompletten Verschwinden bewahrt werden. Die Robotron-Kantine war ursprünglich für die Mittags-, aber auch die Kulturversorgung der Arbeiter beim VEB Kombinat Robotron errichtet worden. Die horizontale Lagerung des auf annähernd quadratischem Grundriss erbauten Baukörpers wird durch die Treppen, breiten Umgänge und strukturierten Betonbrüstungen akzentuiert. Im Inneren befinden sich in den zwei großen Speisesälen eigens für diesen Ort entworfene Formsteinwände des Bildhauers Eberhard Wolf. Das Netzwerk OSTMODERN war die erste Initiative, die nach den bekannt gewordenen Abrissplänen für das Robotron-Gebäude öffentlich intervenierte und der Dresdner Stadtgesellschaft Visionen einer alternativen, bürgeroffenen Nutzung unter dem Stichwort »Kultur-Kantine« präsentierte. Im Zuge dieser Entwicklung hat das Bauwerk heute eine hervorragende Bestandsperspektive. Die Akteure auf der Fotografie präsentieren sich vor dem nunmehr mit Graffiti besprühten Flachbau ausgelassen und ungehemmt als Gruppe. Deutlich wird auch, dass sie es verstehen, sich bereits durch ihre unüberhörbare Stimme gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu verschaffen.

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130 Christian-Peter Mallwitz vor dem Kraszewski-Haus

134 Kraszewski-Haus Christian-Peter Mallwitz Christian-Peter Mallwitz wuchs in der Meierei des Marcolinischen Vorwerks an der Bautzner Straße auf. Das im Krieg stark zerstörte Gebäude und die vielen Schäden am Dach, in der Raumstruktur und im elbseitig angelegten Garten sind dem 1947 geborenen Herrn Mallwitz noch bestens in Erinnerung. Dabei wurde ihm bereits als Jugendlichem bewusst, welch großen Verlust von Kunst und Kultur der Krieg verursacht hat. Um bestimmte Reparaturen am Gebäude ausführen zu können, hatte er schon früh Kontakt mit dem Nestor der Denkmalpflege Hans Nadler, der ihm in der Deutschen Demokratischen Republik einige Hilfestellungen, zum Beispiel in der Beschaffung von Baumaterial, durch Beratungen im Bereich der statischen Ertüchtigung und schließlich im denkmalgerechten Umgang mit der Originalsubstanz geben konnte. Den innovativen und an verschiedenen Technologien interessierten Maschinenbauingenieur Mallwitz bewogen sowohl seine Neigung zur Baukultur als auch sein persönliches Engagement im Kulturbund der DDR und der IG Kulturhistorisches Stadtzentrum, AG Innere Neustadt Dresden, selbst ehrenamtlicher Denkmalpfleger zu werden. Seine besondere Affinität zum Preußischen Viertel und seine intensive Beschäftigung mit diesem Stadtteil haben ihn zu einem ausgewiesenen Kenner dieses Denkmalschutzgebiets gemacht. Über fast jedes Bauwerk kann er spannende Geschichten erzählen. Die Mitarbeit an dem beliebten touristischen Faltblatt für diesen Bereich belegt sein Engagement nachdrücklich. Das Kraszewski-Haus, heute ein Literaturmuseum, das den Dialog zwischen Deutschland und Polen fördert, ist ein besonderes Kleinod am Rande des Preußischen Viertels. Mit seinem Holzsprengwerk, das den symmetrischen Putzbau auflockert, befindet sich das Gebäude inmitten des wunderschönen Gartens. Herr Mallwitz genießt den Frühsommer mit den Blumenbüschen. Man kann sein Wohlbehagen über das restaurierte Gebäude, das vom Elbhochwasser 2013 stark in substanzielle Mitleidenschaft gezogen worden war, förmlich an seinem Gesicht ablesen.

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S A N D S T E I N Jedes Gebäude hat seine Identität. Hinter jedem Gebäude stehen Personen, die sich um den Substanzerhalt und das Erscheinungsbild kümmern. Die reizvolle Beziehung zwischen Person und Gebäude – Subjekt und Objekt – wird in den Fotografien sowie Texten in diesem Band herausgearbeitet. Zahlreiche engagierte Menschen setzen sich für die Pflege und Tradierung einzelner Kulturdenkmale ein, ob als Eigentum oder im Rahmen einer Paten- oder Vereinsmitgliedschaft. Die Publikation trifft Aussagen über die Wohn- und Baukultur, die Bewahrung, Veränderung und Fortschreibung der Kulturdenkmale sowie die sozialen Zusammenhänge. Sie rundet das Bild der prosperierenden Großstadt Dresden mit ihrer herausragenden Baukultur ab. Die mit der Sozialfotografie vertraute Fotografin Christine Starke dokumentiert seit den 1980er Jahren das urbane Leben. Der Kunsthistoriker Ulrich Hübner ist Denkmalpfleger und betreibt die Galerie »kunstgehæuse« in der Dresdner Neustadt.

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