Leseprobe

13 Entgegen den Grundsätzen des Fotojournalismus, dem es vor allem auf die schnelle Momentaufnahme in einer überraschenden Situation ankommt, arbeitet die Dokumentationsfotografie vielmehr mit dem Erforschen, Formulieren und Verdeutlichen des bestehenden Zustands. Für die Beschreibung einer gesellschaftlichen Situation ist diese Art des Dokumentierens daher die geeignetste Form. Nur so lassen sich sowohl Verhältnisse, Positionen und Intentionen als auch Raumgefüge, Baukunst und Landschaftsgestalt konturiert und tiefenscharf zeigen. Die Kunstwissenschaftlerin und Fotografin Eva Mahn (*1947) hat in ihrer beachtenswerten Dokumentation der Jugendlichen in Ostdeutschland kurz nach dem Mauerfall in den Fotos auf einmalige Weise auch das bestehende Lebensgefühl eingefangen, weil sie die Dargestellten im Übergangsalters zwischen Kind und Erwachsensein authentisch abbilden konnte. Der Kunsthistoriker Hans-Georg Sehrt würdigt diese Arbeit und zieht soziologische Schlussfolgerungen: »Und doch wird es in dieser Gesellschaft in Zukunft weit mehr darauf ankommen, aus Verständnis Zeit zu haben und Wirtschaftlichkeit und Geld nicht zum maßgebenden Zeichen gesellschaftlicher Reputation und gesellschaftlicher Existenz überhaupt zu machen. Daß die Künste – und dazu gehört auch die Fotografie, wie das geschriebene und gesprochene Wort – eine besondere Aufgabe haben, ist nicht neu. Insofern ist es – über alle persönliche Betroffenheit der Fotografin Eva Mahn hinweg – von einer uns alle berührenden Brisanz, anhand der konkreten Erfahrungen, dokumentiert in Ausstellung und Publikation der Fotos und Texte, das verallgemeinernde Nachdenken über gegenwärtig dringend zu Änderndes zu bewegen.«7 Den Grundstein derartiger Dokumentationen hat bereits die bekannte Fotografin Evelyn Richter (1930–2021) gelegt. Ihre interdisziplinäre Arbeitsweise, die basierend auf individuellmenschlichen Beziehungen, Haltungen und Leidenschaften bilddramaturgischen Notwendigkeiten Rechnung trägt, erzählt Grundsätzliches über die Charaktere und Lebensumstände.8 Wie dokumentieren wir heute unsere Gesellschaft und die Fortschreibung unseres baukulturellen Erbes in einer Zeit, in der die Digitalfotografie uns unzählbar viele Fotografien schenkt, unzählige Server füllt und das Gefühl vermittelt, keinen einzigen Moment verpasst zu haben? Erinnerungstechnisch ist Letzteres jedoch ein Trugschluss. Nicht die Vielzahl der Fotografien ist uns Gedankenstütze, vielmehr ermöglicht uns deren gezielte Auswahl, Aussagen über unsere gesellschaftliche Situation, über soziologische Zusammenhänge und damit über die eigene Geschichte zu treffen. So können wir auch zukünftigen Generationen ein Fenster in die Vergangenheit öffnen. Das Projekt »Beziehungsspiegel – Mensch und Kulturdenkmal« führt als Beitrag zur heutigen Gesellschaftsdokumentation die geschilderte Entwicklung fort. Mit dem Ziel, das bürgerschaftliche Engagement zu würdigen, schneidet es nicht nur denkmalpflegerische Themen der Baukultur an, sondern dokumentiert auch Aspekte der kulturellen und künstlerischen Entwicklung innerhalb der Stadt Dresden. Da die Denkmalpflege nicht nur dem Schutz alter Gebäude, sondern gewissermaßen auch der Bewahrung und Überlieferung historischen Handwerks dient, haben wir uns bewusst für ein traditionsreiches und analoges Fotoformat mit der Hybrid-Plattenkamera (50×60) entschieden, nicht etwa um der Digitalisierung entgegenzustehen, sondern um der sowohl in künstlerischer als auch technischer Hinsicht großen Bedeutung Dresdens für die Fotografie Respekt zu erweisen.9 Die Klarheit und die Differenzierbarkeit der Schwarz- und  S. 74 | 75

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