Leseprobe

37 Besonders markant ist Reichmanns Nähe zum Surrealismus in Fotografien wie Memento (1948; Kat.1), wo das gewaltige, kreisrunde Loch in einer Hauswand klafft wie eine Wunde. Dieselbe Vermenschlichung der Dinge begegnet uns im Titel der Werkgruppe Verwundete Stadt. Reichmann unterlegt seinen Fotografien also mittels der Sprache einen bestimmten Sinn, wobei die Grenze zwischen denotativer und konnotativer Bedeutung bewusst durchlässig bleibt. Eine weitere semantische Zuspitzung erfahren sie durch die Kombination mit anderen Einzelbildern zu fotografischen Zyklen. So bekennt Vilém Reichmann 1958, dass »die Bilder (allerdings, wie ich gern zugebe, ganz besonders im Zusammenhange der Zyklen, denen sie entnommen sind) ihrem Wesen nach ganz bewußt nicht eindeutig sein wollen, sondern die Phantasie des Beschauers ansprechen, seine Interpretation provozieren«.8 Mit Memento und einigen anderen Fotografien, vor allem aus dem Agave-Zyklus (ab 1968),9 kommt Reichmann der surrealistischen Fotografie eines Brassaï – dem »Auge von Paris« – äußerst nahe (Abb.9, 10). Es handelt sich um prototypische surrealistische Motive, die einen Riss in der Wirklichkeit andeuten, hinter dem der Abgrund zu lauern scheint. Allerdings bilden diese Fotografien Ausnahmen in Reichmanns Werk. Im Gegensatz zu Brassaï geht es ihm nämlich nicht um die Nachtseite der Welt. Reichmanns metamorphe Objekte verunsichern nicht. Er erfindet vielmehr poetische, bisweilen auch humorvolle Analogien zu unserer eigenen Welt. In Fotografien wie Bombardón oder Mittags (Kat. 2, 13) 9 / Vilém Reichmann, Hommage à Dalí, 1968

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