Leseprobe

36 zu den Schau-, sondern zu den Kehrseiten der Stadt, in die Seitenstraßen, an die Ränder und auf die Schutt- und Bauplätze. Bezeichnenderweise gab Reichmann dieser Werkgruppe zwischenzeitlich den Titel Ohne Kompass. Er richtete seine Kamera auf kleine, unspektakuläre Fundstücke: kaputte, achtlos weggeworfene Dinge – objets trouvés, die er durch die Wahl des Kamerastandpunkts, der Perspektive und des Ausschnitts in Nahaufnahme isolierte, in den Vordergrund stellte und zu Sinnbildern menschlichen Lebens transzendierte – nicht selten in Anlehnung an die christliche Ikonografie, etwa in der Form des Kreuzes (Kat.5). In einem »erklärenden Kommentar zu einigen meiner Bilder« äußert Reichmann 1958 dazu: »Die magische Wirkung ist durch den Ausschnitt erzielt, der die erklärende Basis der Objekte eliminiert.«4 In vielen Aufnahmen hat man das Gefühl, die eigentlich leblosen Objekte wären lebendig, würden eine eigene, von uns bloß in der Regel übersehene Existenz führen. Die Kamera nähert sich den Dingen so sehr, dass man meint, für einen kurzen Moment in diese Welt eintauchen zu können, die sich scheinbar beständig neben oder unter der unseren dreht. Überall begegnen uns Puppen oder andere Objekte der belebten und unbelebten Natur wie eine Schneewehe, ein Baum oder ein gebogener Draht, deren Umrisse an menschliche Figuren erinnern (Kat.6–9). Besonders beeindruckend sind jene Bilder, in denen der Fotograf die Gegenstände in Bewegung setzt, sie fast buchstäblich animiert – ihnen Leben einhaucht. Dies gelingt vor allem dort, wo mehrere Figuren miteinander in Austausch treten, wie im Fall der Begegnung mit sich selbst (1967) oder der Königsdramen (1970; Kat.9–11). Durch die Wahl der Perspektive und das Licht werden die Objekte verwandelt und belebt. Reichmanns Blick ist fraglos von der Kunst des Surrealismus geprägt. Das gilt für die Wahl seiner Motive, der Puppen und Jahrmarktszenen, wie auch für deren fotografische Umsetzung. Otto Steinert, einer der einflussreichsten Akteure auf dem Feld der Fotografie in der jungen Bundesrepublik, formulierte es anlässlich einer Ausstellung tschechoslowakischer Fotograf:innen im Museum Folkwang in Essen 1966 wie folgt: »Für die veristische Form des Surrealismus, der konkrete Gegenstände in einer ver-rückten Sinnzusammenstellung und in einer ihrem Wesen fremden Umwelt zeigt, ist die reale Bildsprache der Fotografie, verbunden mit dem Glauben an deren Objektivitätscharakter, ein prädestiniertes Mittel. Im fotografierten ›objet trouvé‹ wird die Überwirklichkeit durch das fotografische Ausschnittsehen mit seiner schroffen Isolierung aus der Situation der natürlichen Gegebenheiten gefunden.«5 Wesentlich für dieses Konzept des fotografischen Bildes ist der Aspekt des »Findens«. Demnach ist es nicht der Fotograf, der das Objekt verwandelt. Es ist das Objekt selbst, das sein »eigentliches« Wesen enthüllt. Ludvík Kundera spricht 1958 angesichts der Fotografien von Vilém Reichmann von der »Stadt, die in der Stunde der Verlassenheit – im nostalgischen Morgendämmern, an Feiertagsmittagen, in unerwarteten Augenblicken wann immer – urplötzlich sich selbst enthüllt, ihr Wesen«.6 Herbert Molderings findet diesbezüglich den Ausdruck der »Evidenz des Möglichen«.7 In den Titeln der beiden zentralen Werkgruppen Kouzla/Zaubereien und Metamorfózy/Metamorphosen macht der Fotograf eben diesen Aspekt des Magischen und der Verwandlung zum Thema.

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