Leseprobe

300 300 Etwas später im selben Jahr begegnete ich Christine Bollerhoff, einer jungen und talentierten Künstlerin, die an der Akademie in der Obhut des wohlbekannten Illustrators Josef Hegenbarth studierte. Unsere Freundschaft mündete irgendwann in eine Heirat, unsere Hochzeit fand imMärz 1948 statt. Fast unmittelbar danach begannen wir mit der Planung, Ostdeutschland zu verlassen und in die britische Besatzungszone umzusiedeln. Wir hatten sehr gute Gründe für unsere Entscheidung wegzugehen. Erstens war da der ständige, unablässige Hunger, der praktisch alles, was man dachte oder tat, dominierte. Und dann war da diese enorme Welle sowjetisch-motivierten politischen Gedankenguts, das anfing, alle neuen künstlerischen Ideen zu unterdrücken und uns praktisch wieder zum Superrealismus zurückzuführen. Dieser war zuvor von den Nazis befohlen und erzwungen worden, und wir Künstler waren so froh gewesen, ihn endlich hinter uns gelassen zu haben. Meine zermürbende Erfahrung mit der Antikriegszeichnung, die einem sowjetischen Zensor zum Opfer fiel und konfisziert wurde, hallte nun in den Klassenräumen der Akademie nach – vielleicht etwas milder, aber dennoch allgegenwärtig. Es gab die Eröffnung einer öffentlich zugänglichen Ausstellung von Bildern, die aus der berühmt-berüchtigten Wanderausstellung der Nazis von 1934 unter dem Titel Entartete Kunst gerettet worden waren. Es handelte sich um Werke progressiver Künstler der ersten 30 oder 35 Jahre des 20. Jahrhunderts: Gemälde, Skulpturen und Grafiken, die den Nazis aus ideologischen Gründen missfielen oder aufgrund ihres eigenen kleinbürgerlichen Geschmacks. Unter den geretteten Werken, die nun in zwei großen Räumen der Akademie ausgestellt wurden, befand sich das einst berühmte, große Triptychon von Otto Dix mit dem Titel Der Graben, eine meisterhaft ausgeführte, realistische und äußerst schaurige Flucht in die Freiheit

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