Leseprobe

 253 253 Doch beim Anblick kleiner Kinder wurden diese trinkfesten, Trophäen jagenden russischen Krieger sentimental und gefühlsduselig. Als ich einmal an ehemaligen deutschen Kasernen vorbeilief, sah ich einen Soldaten der Roten Armee, der offenbar als Wachposten am Tor Dienst hatte. Er saß auf einer alten Holzkiste und hatte seine Thompson-Maschinenpistole gegen einen Pfosten gelehnt. Ein kleines deutsches Mädchen saß auf seinen Knien, beide lachten herzhaft, während die Mutter des Mädchens dabei stand und ebenfalls strahlte. Kurz nachdem die Russen in Dresden einmarschiert waren, hatte die Frau meines Freundes und Kunstlehrers, des Bildhauers Walter Flemming, ihr erstes Kind zur Welt gebracht, einen Jungen.2 Eines nachmittags, als das Baby friedlich in seiner Wiege lag, hörte man polternde Geräusche auf der Treppe, die zur Wohnung der Flemmings im zweiten Stock führte. Augenblicke später stürmte ein russischer Soldat herein, bewaffnet und mit schweren Stiefeln – offenbar ein Plünderer auf der Suche nach Beute. Versteinert vor Angst, trauten sich Walter und seine Frau kaum hinzusehen, als der Mann die Wohnung durchsuchte. Irgendwann entdeckte er die Wiege, beugte sich über das Baby und betrachtete es. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, und er legte einen Finger auf die Lippen, während er dabei leise ein »Schhh« hauchte. Dann verließ er in seinen dicken Stiefeln die Wohnung. Draußen auf der Treppe hörte man, wie die schweren Schritte des Soldaten sich langsam entfernten, bis sich die Haustür hinter ihm schloss. Dies waren nur ein paar von vielen Situationen, die ich erlebte oder von denen ich hörte, die den Sanftmut der durchschnittlichen russischen Soldaten im Umgang mit den Kindern ihrer Feinde zeigte. Dieser stand im direkten Kontrast zu der Unmenschlichkeit, mit der die Deutschen die Kinder ihrer Feinde behandelt hatten. Mit gefangenen Naziparteifunktionären allerdings, die oft von ihren Nachbarn oder sogar von der eigenen Familie denunziert worden waren, gingen sie nicht zimperlich um, oft sogar ziemlich brutal. Wenn ich in die freundlichen, lächelnden Gesichter dieser jungen russischen und ukrainischen Soldaten schaute, war es für mich schwer zu glauben, dass sie aus dem gleichen Stall kamen wie ihre Vorgänger aus der Roten Armee und der paramilitärischen NKWD, die im Einvernehmen mit der Wehrmacht nach Ostpolen einmarschiert waren und dort unaussprechliche Verbrechen durch Völkermord, Unterdrückung, Raub und mutwillige Zerstörung verübt hatten. Sie waren es auch, die die Zwangs-

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