Leseprobe

 301 301 Arbeit, die einen Schützengraben des Ersten Weltkriegs abbildet, gefüllt mit zerfetzten, verstümmelten toten Körpern, bedeckt mit blutigen Eingeweiden und Maden und weiterer solch schockierender Details. Dieses brillante Kunstwerk und kraftvolle Instrument der Antikriegspropaganda zog Massen an Publikum an, sogar viele Deutsche, die gerade selbst erst Gräuel dieser Art erlebt hatten. Das Gemälde blieb nur zwei Tage lang ausgestellt und wurde dann auf Geheiß der sowjetischen Militärverwaltung an einen unbekannten Ort verbracht, so wie auch der Rest der progressiven Kunst, die die Russen – wie die Nazis vor ihnen – aus ideologischen Gründen ablehnten. Der Kalte Krieg begleitete uns von nun an auf allen Ebenen, von der Berlin-Blockade bis zur Luftbrücke, und Christine und ich arbeiteten endgültig unseren Fluchtplan nach dem Westen aus. Sie hatte die Ost-West-Grenze bereits vorher überquert und kannte die richtigen Routen und die notwendigen Zwischenstopps unterwegs. Dazu gehörte zum Beispiel eine Übernachtung bei Freunden von ihr in Quedlinburg (was noch in Ostdeutschland lag) und Hannover (was in der britischen Besatzungszone lag). Unser Endziel war natürlich Kanada. Mein Onkel Czesław, mit dem ich seit Ende 1946 in Briefkontakt stand, hatte mich gedrängt, nach Westdeutschland zu gehen und dort zu warten, bis es ihm gelänge, uns die Weiterreise nach Kanada zu erleichtern. Wir verließen Dresden im Juli mit gemischten Gefühlen, doch im Großen und Ganzen waren wir froh, auf dem Weg woandershin zu sein. Wir nahmen nur ein Minimum am Gepäck mit, was sich als gute Entscheidung herausstellte. In Quedlinburg übernachteten wir bei Christines Freunden und fuhren am nächsten Morgen weiter nach Halberstadt, eine Stadt unweit der Grenze zwischen sowjetischer und britischer Zone. Von dort aus machten wir uns weiter auf den Weg zum bescheidenen Haus eines jüngeren Mannes, der uns von den Quedlinburger Freunden als zuverlässiger Lotse über die Grenze empfohlen worden war – natürlich bei angemessener Bezahlung. Es stellte sich heraus, dass er disponibel war, und wir machten uns zu Fuß auf den Weg durch dichten Wald in nordwestliche Richtung. Wir liefen länger als eine Stunde und gelangten schließlich an den Rand des Waldes, von wo aus eine offene, grasbewachsene Hochebene zu einer Reihe kleiner Büsche an einem kleinen Bach hinunterführte. Zwischen den Bäumen hindurch deutete unser Lotse auf diese Büsche und sagte: »Da unten, da ist die Grenze.« Während er sich umdrehte, um den Heimweg anzutreten, riet er uns

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