Leseprobe

 237 237 umherschleichen musste, in denen ich zwei voneinander getrennte und doch parallele Leben führen musste und deshalb sogar meine Freunde belog – all das war plötzlich vorbei, vergangen, zu Ende. Keine Autorität bedrohte mich mehr. Deutschland war besiegt, selbst wenn der Krieg noch andauerte. Dies war ein Interregnum im wahrsten Sinne des Wortes. Und eindeutig auch eine Art Anarchie. Natürlich war es nicht möglich, meinen Freunden oder Unterstützern wie den Ulichs zu erzählen, dass ich jahrelang aktiv im polnischen Widerstand gewesen war, und zwar im vollen Bewusstsein, dass eine Enttarnung meiner Aktivitäten auch ihr Leben in Gefahr gebracht hätte. Ja, der Nazialbtraum war zu Ende, schon bald würde niemand mehr die Gestapo fürchten müssen. Doch von einem der letzten Kuriere, die im November 1944 durch Dresden gekommen waren, hatte ich erfahren, dass die Sowjets, die zu dem Zeitpunkt schon die Hälfte Polens besetzt hatten, genauso gnadenlos mit dem ehemaligen polnischen Untergrund umgingen wie zuvor die Deutschen. Deshalb war es für mich oberstes Gebot, meinen Mund zu halten und darauf zu achten, mit wem ich sprach, ob es nun Deutsche waren oder (in naher Zukunft) Russen. Selbst jetzt, wo ich dies schreibe, verspüre ich noch einen Hauch von Schuldgefühlen gegenüber all den anständigen Menschen, die mir so sehr geholfen hatten, ohne zu wissen, wie fruchtbar gefährlich es für sie war, mit mir befreundet zu sein. Franziska und ich kehrten triumphierend nach Hause zurück, sie mit einer großen Ladung Lebensmitteln, vor allem Dosenfleisch, in einer improvisierten Tasche aus einem militärischen Waffenrock, und ich mit meinen neu »befreiten« Stiefeln. Ich erinnere mich, dass ich die alten Treter, die mir so treu gedient hatten, behalten hatte. Vielleicht dachte ich, ich würde sie noch einmal reparieren lassen oder sie vielleicht angemessen bestatten? In jenen Tagen schätzte man solche banalen und doch wichtigen Dinge und hing an ihnen. Es war nun der 5. Mai. Berlin hatte sich drei Tage zuvor ergeben. Der deutsche Rundfunk hatte das Senden eingestellt, doch über die BBC-Berichte, die jetzt völlig störungsfrei zu empfangen waren, erfuhren wir, dass es der Roten Armee gelungen war, die Schlinge um Berlin zuzuziehen und dass der deutsche Widerstand schnell zusammengebrochen war. Ein anderer BBCBericht gab die offizielle Anerkennung der neu gebildeten polnischen Regierung in Lublin vonseiten der britischen Regierung bekannt. Ich hörte das, sprachlos und konfus, doch Dr. Ulich ver-

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