Leseprobe

236 236 gedient und musste dringlichst ersetzt werden. Wonach ich Ausschau hielt, waren nicht so sehr die typischen deutschen Infanterie-Stampfer mit Hakennägeln, sondern diese gut verarbeiteten, kniehohen Offiziersreitstiefel, die ich schon in dem großen Haufen mit verschiedenem militärischem Schuhwerk entdeckt hatte. Leider lagen diese hübschen Stiefel nicht paarweise herum. Wenn man also zum Beispiel einen linken Stiefel erwischt hatte, musste man so lange herumkramen, bis man das rechte Gegenstück dazu gefunden hatte. Es war jedoch nichts dabei, und ich musste weitersuchen, bis ich ein Paar gefunden haben würde, das passte. Angesichts Dutzender von Stiefeln, die ich absuchen musste, war diese Aufgabe schwierig und wurde immer entmutigender, je mehr Zeit verging. Irgendwann war ich frustriert und fluchte auf Polnisch: »Psiakrew!« (»Hundsblut!«), woraufhin ein Mann, der neben mir stand, auflachte und fragte, ob ich Pole sei. Ich bejahte und wir unterhielten uns daraufhin ein paar Minuten auf Polnisch, bis es mir endlich gelang, ein zusammengehörendes Paar Stiefel zu finden, das noch wie neu war. Der Mann hatte bereits gefunden, was er wollte, und sagte im Gehen, dass er hoffte, wir würden uns mal wieder irgendwo begegnen. Franziska schien noch an anderer Stelle beschäftigt, und so nahm ich meinen »unbezahlbaren« Fund und ging los, um mir noch andere Teile des Gebäudes anzusehen. Nachdem ich in ein paar Diensträume geschaut hatte, die die üblichen Standardschreibtische, Stühle und Aktenschränke hatten, genauso wie die übliche große standardmäßige Fotografie des verstorbenen Führers, kam ich in einen Raum, der als Konferenzraum genutzt worden sein musste. Ein langer Tisch mit mehreren Stühlen auf jeder Seite füllte den größten Teil des Raumes aus. Über dem Tisch wachte ein riesiges, in Massenproduktion gefertigtes, goldgerahmtes, lebensgroßes Farbporträt Hitlers. So viele Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich jetzt auf dieses Porträt starrte. Ich ging zurück in einen Korridor, indem ich einiges an Feuerwehrausrüstung gesehen hatte, fand dort eine Axt, ging zurück zum Konferenzraum und rammte mit einem einzigen wütenden Schlag die Klinge der Axt in dieses verhasste Gesicht. Dann warf ich die Axt auf den Konferenztisch und ging, während ich darüber nachdachte, wie seltsam es sich anfühlte, etwas tun zu können, wofür ich ein paar Tage zuvor noch unter die Guillotine gekommen wäre. Die vielen Jahre, die ich in einem Zustand beinahe ständiger Angst und Befürchtungen gelebt hatte, in denen ich meine Gedanken und Gefühle verstecken und in der Dunkelheit

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