Leseprobe

 125 125 zum Ausdruck zu bringen, was mein eigenes Land und, darin impliziert, auch alle anderen Länder unter deutscher Herrschaft befallen hatte. Knappe Nachrichten über die verheerende Niederlage und Kapitulation der Deutschen in Stalingrad wurden von öffentlichen Lautsprechern übertragen, die bis dahin stets dafür genutzt worden waren, Nachrichten über Deutschlands großartige Erfolge zu Wasser, Land und Luft unters Volk zu trompeten. Am kalten, regnerischen Morgen des 3. Februar 1943, als ich gerade am Dresdner Postplatz stand, um in eine andere Straßenbahn umzusteigen, gaben die Lautsprecher nüchtern bekannt, dass die Sechste Armee gezwungen war, ihren heroischen Kampf aufzugeben, den sie jedoch mutig »bis zum letzten Mann« gekämpft hatte. Weder von den Verlusten wurde etwas erwähnt – von denen inzwischen jeder wusste, dass sie entsetzlich hoch waren – noch von denjenigen, die die Hölle von Stalingrad möglicherweise überlebt hatten. Diesmal folgte auf den Bericht der Wehrmacht nicht wie sonst der Klang triumphierender Militärmärsche, sondern der des düster-tragischen Trauermarsches aus Beethovens Eroica-Sinfonie. Mit dieser feierlichen Musik proklamierte das Propagandaministerium de facto, dass es die noch lebenden Soldaten der Sechsten Armee neben ihren gefallenen Kameraden bereits für tot erklärte! Viele deutsche Durchschnittsbürger waren der Auffassung, dass dies völlig unverständlich sei und demonstrierten mit unglaublicher Grobheit gegen die Sender, die für diese Berichterstattung verantwortlich waren. Außerdem, so erfuhr ich, war selbst der Glaube vieler loyaler Parteimitglieder stark erschüttert. Ich schrieb daher mit einer gewissen ungerührten Genugtuung in meinem Bulletin über das Debakel von Stalingrad, nachdem ich die BBC-Nachrichten gehört hatte. Diese bezifferten die Zahl der gefallenen, verwundeten oder in Gefangenschaft geratenen Deutschen mit 260 000 Mann. Dies war somit die Zahl, die ich auch in mein Bulletin schrieb und als Information an die polnischen Zwangsarbeiterlager weitergab. Eine etwas zerfledderte und öfters wieder zusammengeflickte Ausgabe von Theodore Plieviers Stalingrad, die gut verstaut in meiner Bibliothek stand, erinnerte mich nicht nur an die tödliche Falle, in die Hitler seine gesamte Sechste Armee geschickt hatte – fast alle Soldaten fielen im Kampf oder kamen in Gulag-Lagern um –, sondern auch an den Mann, der mir das Buch 1946 gab. Dr. John Ulrich Schroeder war ein Anwalt, Freund und Nachbar der Familie Ulich und, so wie Dr. Ulich auch, ein

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