Leseprobe

124 124 klar wurde, dass die Dinge sehr schlecht für mich hätten ausgehen können. Im Vergleich zu dem, was mir gerade passiert war, war der kleine Vorfall am Bahnhof von Bad Schandau geradezu ein Kinderspiel gewesen. Dort war ich nur einer von vielen, hier war ich der Gefahr ganz allein ausgesetzt; die ganze Aufmerksamkeit des Gestapo-Mannes war allein auf mich gerichtet. Ich war 19 Jahre alt, und obwohl ich schon einige wirklich angsteinflößende Erfahrungen gemacht hatte, waren mir doch ein paar typische Teenagerzüge erhalten geblieben, unter anderem eine diffuse Verdrängung meiner eigenen Sterblichkeit und ein kindlicher Begriff von Heldentum – der noch aus Märchen, Geschichtsbüchern und Vorkriegsfilmen über St. Georg, der den Drachen erlegt, oder über Napoleons polnische Kavallerie, die den spanischen Somosierra Pass stürmt, stammten. Sie alle waren furchtlos, also musste ich sein wie sie! Doch in Bad Schandau war mir klar geworden, dass ich kein Held war – und jetzt wusste ich, dass diese Sache, die man Angst nennt, mein ständiger Begleiter bleiben würde, solange, bis der Krieg endlich vorbei war. Durch diese Erkenntnis lernte ich viel über mich selbst. Wegzulaufen, das war undenkbar, und Fahnenflucht stank nach Verrat. In ständiger Angst zu leben, das war jedoch an sich schon eine beängstigende Perspektive. In Bad Schandau war es sehr leichtsinnig und unvorsichtig von mir gewesen, zwei unterschiedliche Dokumente bei mir zu tragen. Und es hatte andere Situationen gegeben, in denen ich nicht umsichtig genug gewesen war, in denen ich mir nicht die Zeit genommen hatte, mich zu vergewissern, dass die Luft rein war – wenn ich meine allzeit riskanten Nachrichten-Bulletins in den Zwangsarbeiterlagern verteilte. War Halina vertrauenswürdig? Hatte Mirko den Mund gehalten? Das Problem war natürlich, dass ich gar keine Handhabe hatte, diese Leute wirklich zu überprüfen. Ich konnte hier nur meinem Instinkt folgen oder reiner Spekulation. Mein Mentor Zenek hätte sich vermutlich angesichts meiner mangelnden Vorsicht vor Entsetzen die Haare gerauft. Die Arbeitszeiten in den Boehner-Studios waren so geregelt, dass sie mir gestatteten, auch künstlerischen Tätigkeiten etwas Zeit zu schenken. Ich malte zwar sehr wenig, aber mein neu entdecktes Interesse am Holzschnitt führte unvermeidbar dazu, dass ich dieses Medium erkundete. Seine Ausdrucksstärke gefiel mir gut, besonders in diesen turbulenten Zeiten. Ich fand, dass mir der Holzschnitt für die düstere Darstellung von Kriegstragödien erlaubte, meine innersten Gefühle darüber

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