Leseprobe

11 Abschied von der warmen, als gescheitert betrachteten »Hippie-Kultur« der 70er Jahre. Er thematisierte Individualisierung und Vereinzelung, Entfremdung von der Natur, Zweifel am Konzept der romantischen Liebe oder die Wirkung von Medien an der Schwelle zur Digitalisierung. Als strukturbildende Stilmittel setzte er Selbstironie, Witz und Parodie ein, ferner eine gewisse avantgardistische Düsternis, Coolness und bewusste Übertreibung, die seine oberflächlichmimetische Annäherung an eine als »Welt aus Beton« empfundene Gegenwart stets begleiteten.  Umtriebig, fast atemlos war Ingolf Thiel in vielen Künsten unterwegs, kehrte aber »immer wieder zu seiner größten Leidenschaft, seinem stärksten Talent zurück: der Fotografie«,9 so auch für die skurrilen Rauminstallationen der Serie Schauraum, die ab Ende 1983 im Auftrag von Kodak entstand, eine der ersten Arbeiten in seinem neuen, größeren Studio in der Landhausstraße 37a in Stuttgart, das er am 1. August 1983 bezogen hatte. Im September 1983 war ein umfangreiches Porträt über ihn in ZOOM erschienen;10 1984 folgten Portfolios in Photographie,11 w&v12 und foto magazin.13 Im gleichen Jahr fotografierte Thiel auf Lanzarote Rolf S. Wolkenstein für die Serie Kraft durch Freude, imMärz 1985 wollte er unbedingt wieder auf die Kanarischen Inseln. Das letzte seiner zahlreichen Selbstporträts entstand dort (Abb. 2). Mit langen Lupen schaut er in die Erde. Jutta Rößner erklärte er das Bild mit den Worten »Meine Zukunft liegt unter der Erde«14. Die Ausstellung dieser Fotografie erlebte er nicht mehr.15 Seine zusehends angeschlagene Gesundheit zwang ihn zur vorzeitigen Rückreise, in ein Stuttgarter Krankenhaus. Thiel starb am 16. März 1985. Am zweiten Herzinfarkt. Auf der Überholspur. Sein Selbstporträt für die Mustang-Kampagne tourte da in der Ausstellung Foto-Design als Auftrag des BFF bereits über mehrere Jahre von Köln über Tokio, Osaka, New York, Rochester, Toronto, Berlin, Bradford, Paris, Budapest und Belgrad bis nach Singapur. „ 9 Jutta Rößner-Kropp: Ingolf Thiel, Vortrag für den BFF (unveröffentlichtes Manuskript), 7. 3. 1986. „ 10 Vgl. Hans W. Rolli, 1983, S. 88 – 93. „ 11 Ingolf Thiel. Portfolio, in: Photographie. Das internationale Monatsmagazin für Fotografie und Film, Juni, 8. Jg. (1984), S. 71–76. „ 12 Ektaflex-Unikate, w&v [Werben & Verkaufen] Nr. 9 (2. 3. 1984), S. 44. „ 13 eh: Foto-Geometrie mit Schaumstoff, Licht und Lurex. Profi-Report: Ingolf Thiel, in: foto magazin, April (1984), S. 94 – 97. „ 14 Auskunft Ulla Rogalski, 2022 „ 15 Das Selbstportrait im Zeitalter der Photographie. Maler und Photographen im Dialog mit sich selbst, hg. v. Erika Billeter, Ausst.-Kat. Musée Cantonal des Beaux-Arts Lausanne, 18.1.–24. 3. 1985, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 19. 4.–9. 9. 1985, Akademie der Künste Berlin, 1. 9.–6. 10. 1985, Bern 1985. 2 Selbstporträt Ingolf Thiel auf Lanzarote, 1985

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