Leseprobe

Um 1980 zählte Ingolf Thiel (1943–1985) zu den innovativsten Fotografen in Deutschland. Darüber hinaus war er Modedesigner, Bühnenbildner, Schauspieler, Performer sowie Balletttänzer und scheint die ungeheure Dynamik des Punk in einer Person aufgesogen zu haben. Das genreübergreifende, die Grenzen von High und Low verwischende Experimentieren und der intensive Austausch zwischen den Akteuren und Akteurinnen waren kennzeichnend für die künstlerische Alternativszene um 1980. Die gleichzeitig stattfindenden Entwicklungen in Kunst, Film, Performance, Mode und Design beeinflussten sich gegenseitig. Und mittendrin: Ingolf Thiel.  Als Fotograf lebte er von Aufträgen für Industrie und Modeunternehmen. So erschienen seine Fotografien in Elle, Gala, Linea Italiana, Nora oder Playboy. Parallel und mit zunehmendem Erfolg entstanden immer auch freie Arbeiten. Überraschend und faszinierend ist dabei die erstaunliche Konvergenz von Motivkanon, Ästhetik und Stilmitteln in seinen angewandten und freien Fotografien: gleichermaßen verdichteter Ausdruck und Reflexion von Zeitgeist.  Bis Ende der 70er Jahre setzte Thiel seine Ideen bevorzugt mittels Fotomontage um. Danach änderte sich sein Zugang zu den Motiven, und seine Arbeiten wurden gewissermaßen fotografischer. Visuell beeinflusst von der NewWave-Szene, die ihn 1979 in New York in den Bann gezogen hatte, entwickelte er konzeptionelle Serien in klassischem Schwarzweiß. Die Bildmanipulation durch Montage wird abgelöst durch exakte, unterkühlte Inszenierungen. Die melancholisch-romantische, desillusionierte Stimmung der No Future-Generation wird schließlich zur bestimmenden Grundierung seiner Motive: Schönheit mit Widerhaken.

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