Leseprobe

10 PROMINENTES MITGLIED UNSERES BERUFSVERBANDES Ab 1975 hatte Thiel ein eigenes kleines Studio in der Römerstraße 67b in Stuttgart. Aufträge kamen unter anderem von den Zeitschriften Elle, Nora, Linea Italiana, Playboy und vor allem von zahlreichen Modelabels wie Bleyle, Breuninger, Einhorn, Jockey oder Lee Cooper und aus der Industrie, etwa von Daimler-Benz. Er hatte zunehmenden Erfolg. 1977 erlitt er einen Herzinfarkt, der zu einer Schaffenspause bis weit in das Jahr 1978 hinein führte. Dennoch scheint Thiel seinen Output noch forciert zu haben. Im gleichen Jahr folgte eine Ausstellung freier Arbeiten in der Stuttgarter Galerie Kubinski und die Aufnahme in den Bund Freischaffender Foto-Designer (BFF): »Seit 1978 wurde er mehr und mehr zum prominenten Mitglied unseres Berufsverbandes. Seine intensiven Beziehungen zu außergewöhnlichen Künstlerpersönlichkeiten, seine Nähe zu Theater und Ballett, seine Liebe zum Tanz schlugen sich immer wieder neu in seinen Fotografien nieder. Er hatte sich damit die unbestrittene Kompetenz erworben, seine fotografisch-künstlerischen Ideen jeweils dort durchzusetzen, wo er auf kongeniale Partner im Artwork traf.«8  Und Ingolf Thiel traf seine Partner in allen Sparten der Kunst, seine kreative Energie schien ab 1979 keine Grenzen zu kennen. Er entwarf Kostüme für die experimentelle, von Randi Bubat konzipierte und von William Forsythe inszenierte Modenschau-Performance Event, war Mitglied der Performancegruppe famili, mit der er, ebenfalls 1979, zu Auftritten nach New York reiste. Dort entstand die Serie Heimweh nach dem Traurigsein, die für viele seiner künftigen, zugleich der klassischen Schwarzweiß-Fotografie und dem Zeitgeist verpflichteten freien Arbeiten wegweisend wurde. 1980/81 wirkte Thiel als Tänzer in dem von William Forsythe choreografierten Ballett Schade, daß sie eine Hure ist in Montepulciano, Kopenhagen und Stuttgart mit. Bis 1982 war er in nicht weniger als vier Filmproduktionen zu sehen: 1979 in einer Nebenrolle in Neonschatten, 1981 an der Seite von Christine Kaufmann im Episodenfilm Inflation im Paradies sowie im Experimentalfilm Homo Saphires – der wertvolle Mensch seines Freundes Rolf S. Wolkenstein, 1982 schließlich im Stop Motion-Kurzfilm Der Tanz Mechanikk, ebenfalls unter Wolkensteins Regie. Besonderes Highlight war im Februar 1983 die Premiere der ersten, einmal mehr skandalträchtigen Forsythe-Choreografie für das Frankfurter Ballett, Gänge. Ein Stück über Ballett an der Alten Oper. Thiel entwarf die Kostüme des dritten Teils, außerdem übernahm er die Fotodokumentation der achtmonatigen, im Juni 1982 aufgenommenen Proben. Die Kostüme waren eine Weiterentwicklung seiner wiederum um 1979 begonnenen Ausflüge in das Modedesign: Schaumstoffkreationen, die auch Eingang in seine freien Arbeiten fanden und die er zeitgleich als »freie Arbeiten im Auftrag« für die Produktwerbung von Kodak in Szene setzte. Parallel zu all diesen genreübergreifenden Streifzügen arbeitete Thiel weiterhin an großen Aufträgen für Mode und Industrie, so an seiner preisgekrönten, überaus erfolgreichen Werbekampagne Leute von heute, von sich selbst fotografiert, seine bekannteste Arbeit, die er mit der Agentur Leonhardt + Kern, Stuttgart, für Mustang Jeans in Künzelsau produzierte. Die Kampagne war zwischen 1981 und 1983 allgegenwärtig – als ganzseitige Anzeigenmotive wurden die Aufnahmen millionenfach unter anderem in Stern, Spiegel, Freundin, Bravo, Motorrad, Kicker, Sounds oder Musikexpress geschaltet. AUF DER ÜBERHOLSPUR Wie getrieben auf dem Weg zum Erfolg hetzte Thiel Anfang der 80er Jahre von Engagement zu Engagement, bediente mit dem Cover der LP Herzklopfen der Münchner Neue Deutsche WelleBand Zero Zero auch Aufträge für die Musikindustrie und produzierte mit wachsendem Erfolg vermehrt freie Arbeiten, die ihren Weg in Einzel- und Gruppenausstellungen fanden. An seiner meistrezipierten, in mehreren Portfolios veröffentlichten Werkserie Moderne Gefühle arbeitete er mehrere Jahre. In ihr bannte Ingolf Thiel die gleichermaßen bunte wie kalte Neonwelt desillusionierter Individuen in strenges Schwarzweiß. Die Serie wurde damit zum Zeugnis einer Selbstvergewisserung und Selbstvermessung – einer Suche nach dem Selbst inmitten des von Punk angestoßenen Aufbruchs in eine nüchterne, antiromantische Phase, deren Name sich gerade herausbildete: New Wave. Mit seiner dezidiert coolen Ästhetik nahm Thiel endgültig „ 8 Walter E. Lautenbacher: Ingolf Thiel 20-8-43 16-3-85. Auszug aus der Trauerrede für den BFF (Manuskript), o. Datum (1985).

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