Leseprobe

99 Zur angewandten Werbefotografie hatte Ingolf Thiel ein von Beginn an ambivalentes Verhältnis. Er lebte davon, hätte jedoch viel lieber nur frei gearbeitet. Aber die Werbung machte ihn bekannt.  Seine erste Anstellung als Studioleiter des Großraumstudios H. F. Wehrle KG in Freiburg im Breisgau hatte er gekündigt, da es ihm »bald zu blöd wurde, Handtuchstapel für Kataloge zu knipsen.«1 Die Arbeit als Assistent in kleineren Studios bot ihm mehr kreativen Freiraum, den er für freie und auch für gewerbliche Aufträge nutzen konnte. Seit Anfang der 70er Jahre kamen diese regelmäßig aus dem Kulturbereich, von Theatern wie dem Renitenztheater Stuttgart, dem Stuttgarter Theater der Altstadt, dem Tübinger Zimmertheater, demWürttembergischen Staatstheater (Stuttgarter Ballett) oder den Wuppertaler Bühnen (Abb. 2) sowie von bildenden Künstlern und Musikern wie Wolfgang Dauner. Er arbeitete für die ARD, insbesondere den Süddeutschen Rundfunk, auch lieferte er später häufig das Bildmaterial für die Werbekalender der Technischen Werke Stuttgart (TWS). Zur Gestaltung von Theaterplakaten oder Covern von Programmheften und Broschüren griff er häufig auf seine in freien Arbeiten erprobte Montagetechnik zurück, ebenso zur Illustration von Werbeanzeigen für Modelabel, Modeseiten im Playboy Deutschland (Abb. S. 17) oder Bildseiten in der Hauszeitschrift des Automobilkonzerns Daimler-Benz Mercedes-Benz in aller Welt (Abb. S. 19).  Weitaus lukrativer als die Aufträge aus öffentlicher Hand dürften neben dem Zeitschriftengeschäft für Elle, Nora, Linea Italiana oder Playboy die zahlreichen Aufträge im Bereich Mode gewesen sein. Thiel arbeitete für Label wie Bleyle, Breuninger, Cerruti, Einhorn, Jockey Wäsche, John Moss, Lee Cooper, Christian Schöller Textil, Louis London, Margret Wäsche, Mustang Jeans Künzelsau, Noël, Paco Rabane, Ramon Couture oder San Felice Sportswear. Außerdem bewarb er Automobile, Brillen, Chemiefasern, Getränke, Haarpflegeprodukte oder Haushaltsgeräte für Marken wie Enka Glanzstoff, Kandus, Martini, Progress oder Zeiss. Eine wichtige Rolle spielten auch seine Geschäftsbeziehungen zur Fotoindustrie, zu Nikon und vor allem Kodak.  Ingolf Thiel scheint also gut im Geschäft gewesen zu sein. Vielleicht gerade deshalb war ihm die Betonung seiner Unabhängigkeit wichtig, die Abgrenzung von der rein kommerziellen Sphäre der Auftragsfotografie, obwohl gerade die Vermischung der Ebenen, treffender deren gegenseitige Befruchtung, kennzeichnend war für seine Arbeit und sicher ein wichtiger Faktor seines Erfolgs. So korrespondiert die übergroße Eiswaffel der Bleyle-Anzeige (Abb. 5) mit den oft diagonal ins Bild gesetzten Lichtkörpern späterer Arbeiten, die engen, perspektivisch zulaufenden Räume der Louis London und Lee Cooper-Werbung (Abb. 5) sind auch im trashigen Experimentalfilm Der Tanz Mechanikk zu sehen und bilden später das Setting für die Serie Schauraum (Abb. S. 120 –121, Abb. 7). Zudem finden sich einzelne Accessoires wie der Zollstock gleichermaßen in Anzeigenmotiven wie auch in Der Tanz Mechanikk und in den Modernen Gefühlen (Abb. S. 57, 108 –109), die selbstgebauten Schaumstoffkulissen dekorieren die Margret-Werbung (Abb. 5) und die freien Arbeiten für Kodak (Abb. 6).  In einem Porträt Ingolf Thiels in der Calwer Time 1981 wird diese Interpendenz in Thiels Werk gleichzeitig negiert und betont: »Bei Werbeaufnahmen beschränkt er sich auf Mode und Menschen und auf Aufgaben, zu denen er ein persönliches Verhältnis finden kann. Seine Arbeit als Modefotograf soll ihm ›Freiräume‹ lassen, genügend Zeit und Kreativität für andere schöpferische Arbeit. So findet man Ingolf Thiel nicht nur als sein eigenes Modell (in seiner Anzeigenserie für einen Jeans-Hersteller), und als Autor von bisher acht Titelbildern für die seriöseste unter den ›unseriösen‹ Zeitschriften [d. i. Playboy], sondern auch als Designer von Schmuck, Hüten und Möbeln aus Schaumstoff und als Akteur in einem Tanzdrama. Im Herbst wird man ihn sogar in einem Film auf der Leinwand sehen können: ›Inflation im Paradies‹ heißt die Produktion junger Filmer. Ingolf Thiel spielt, wer hätte es gedacht, einen Journalistenmit Kamera.«2 JEDE EINZELNE SCHAUMSTOFFPORE SUPERSCHARF Eine gern genutzte Möglichkeit, sein künstlerisches Cross-over auszuleben und zu finanzieren, boten Ingolf Thiel auch »freie Arbeiten mit Auftrag«.3 Als ihm 1982 von Kodak angeboten wurde, neues Material für den Konzern zu testen, wählte er seine Schaumstoffmode als Anwendungsfall: »Für den deutschen Berufsfotografen Ingolf Thiel war es ein Auftrag, der so richtig Spaß gemacht hat: dieTestaufnahmen für die Kodak AG, Stuttgart, mit dem KodakTechnical Pan Film 2415 und dessen 1 Werbeaufnahme für Christian Schöller Textil, um 1980 „ 1 Hans W. Rolli: Ingolf Thiel. Schönheit mit Widerhaken, in: ZOOM. Magazin für visuelle Kreativität, September (1983), S. 88 – 93, hier S. 90. „ 2 Mode, Menschen und Montagen, in: Calwer Time. Aktuelles aus der Calwer Straße & Passage, Heft 1 (1981), o. Pag. „ 3 Jutta Rößner-Kropp: Ingolf Thiel, Vortrag für den BFF (unveröffentlichtes Manuskript), 7. 3. 1986.

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