Leseprobe

49 Ende der 70er Jahre werden die freien Arbeiten Ingolf Thiels gewissermaßen fotografischer, die klassische Schwarzweißfotografie rückt, mit Zeitgeist aufgeladen, ins Zentrum seiner künstlerischen Arbeit und ersetzt weitgehend die Fotomontage. Während einer Reise mit der Performancegruppe famili nach New York war der Fotograf 1979 offenkundig in den Sog der vom Punk angestoßenen NewWave geraten, was seinen fotografischen Stil grundlegend verändern sollte. Unter dem Eindruck der »faszinierenden Anfänge der New-Wave-Bewegung […], die hierzulande damals selbst unter Insidern nur vom Hörensagen bekannt war«,1 entstand seine erste Schwarzweiß-Serie Heimweh nach dem Traurigsein (Abb. S. 72– 83), die 1982 in der Stuttgarter Galerie Tanja Grunert ausgestellt wurde. Vielleicht dachte Thiel bei der Konzeption an den von Marlene Dietrich interpretierten Friedrich Hollaender-Song Wenn ich mir was wünschen dürfte, in dem es heißt: »Wenn ich mir was wünschen dürfte / Möchte ich etwas glücklich sein / Denn wenn ich gar zu glücklich wär’ / Hätt’ ich Heimweh nach dem Traurigsein.« In jedem Fall findet sich die Melancholie der Hollaender’schen Zeilen und die Skepsis gegenüber dem Konzept des Glücklichseins in den Bildmotiven wieder: Isolierte, vereinzelte Menschen stemmen sich gegen übergroße Häuserschluchten, irren durch verlassene U-Bahnstationen und stranden in anonymen Hotelzimmern, in denen nicht mal das Fernsehbild zuverlässig Gesellschaft leistet.  Indifferenz und Skepsis scheinen die Gefühlswelt um 1980 generell zu kennzeichnen. Thiels freie Fotografien dieser Zeit transportieren eine radikal subjektive Kunst, aber Eskapismus war nicht mehr angesagt. Punks wollten sich nicht betäuben mit Träumen vom fernen Glück, sondern der verschwundenen Zukunft mit weit aufgerissenen Augen entgegenlaufen. Maschinen machen krank, das war klar, aber Kranksein war jetzt cool, hart wie die Maschinen selbst sein, das Ziel.2 Die Kälte der Maschinen, des technisierten Alltags, die Härte, mitunter Brutalität der Verhältnisse ist allgegenwärtig in diesen Bildern Thiels. Dennoch: Mit dem Punk kommt auch eine gewisse Melancholie. Thiels Fotografien zeigen Menschen, deutlich als Models zu erkennen, in Raumkonstellationen, die sich nicht mehr in der eigentlichen Realität zu befinden scheinen, aber dennoch genug Anbindung an die Gegenwart haben, um die Betrachtenden zu involvieren. Der ursprüngliche No Future-Gedanke des Punk wird in Thiels Serien zunehmend in einen ganz dem New Wave verpflichteten, äußerst kühlen, desillusioniert-romantischen Kontext gesetzt – man ist schließlich cool. EXAKT UND KÜHL GESTYLT Coolness und Desillusion bestimmen vor allem die hochartifiziell gestylten Motive der Serie Moderne Gefühle, an der Thiel seit Anfang der 80er Jahre kontinuierlich gearbeitet hat.3 Sie gehört zu seinen bekanntesten und populärsten Arbeiten, die 1982 unter anderem in den Gruppenausstellungen Gunter Sachs, Eveline Meeuwse, Ingolf Thiel und Junge deutsche Fotografie in der Zürcher Nikon Foto Galerie zu sehen waren und außerdem als Portfolios 1982 in nikon news und 1984 in Photographie publiziert worden sind.  Die Modernen Gefühle Thiels zeigen die Menschen und ihre Körper in weitgehend quasi raumlosen Bildräumen zwischen Artifizialität und Natürlichkeit,4 in einer Art Zwischenwelt. Die ausnahmslos männlichen Models stellen darin in äußerst statischen Kompositionen die Verletzlichkeit bei gleichzeitiger Optimierung des eigenen Körpers zur Schau. Die extreme Nahsicht verhilft zu unmittelbarer Präsenz, die involviert, wenn nicht gar in den Bann schlägt. Mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung wird man jedoch über die ›schöne‹ Oberfläche hinausweisender, irritierender Details gewahr: Nägel, die sich in Köpfe bohren, Scherben, die Gesichtern gefährlich nahekommen, Kabelenden als Fesseln inszeniert. Durch die subtile Brechung des Schönen präsentieren die Fotografien den Körper gleichermaßen in Absetzung und in Abhängigkeit von dessen intensiver Präsenz in den Massenmedien und der Konsumwelt der Werbung, deren perfekte Körperlichkeit als infrage zu stellende Folie stets mitzulesen ist. Die Bilder reagieren damit auf eine von den Massenmedien geschaffene, inszenierte und idealisierte Realitätskonstruktion, der die zivilisierte, westliche Gesellschaft nachzueifern versucht. Der dadurch entstehende gesellschaftliche Druck erhebt den eigenen Körper leibhaftig zu einem Instrument der täglichen Selbstinszenie1 O. T. (Pose, Model: Rainer Grupe), aus der Serie Moderne Gefühle, 1981/82 (Ausschnitt) „ 1 Hans W. Rolli: Ingolf Thiel. Schönheit mit Widerhaken, in: ZOOM. Magazin für visuelle Kreativität, September (1983), S. 88 – 93, hier S. 90. „ 2 Vgl. Geniale Dilletanten. Subkultur der 1980er-Jahre in Deutschland, Ausst.-Kat. Haus der Kunst, München, 25. 6. –11. 10. 2015, Ostfildern-Ruit 2015, S. 118 f. „ 3 Thiel produzierte fast durchgängig 30×40 cm große Prints. Die Aufnahmen wurden mit einer Nikon FM und dem Objektiv Nikkor 85mm f/2 gemacht. Als Lichtquellen dienten Kunst- oder Blitzlicht (vgl. Ingolf Thiel: Stilleben mit Menschen, in: nikon news, Nr. 2 (1982), S. 28 –31). „ 4 Vgl. Christin Sander: Natürlich Künstlich. Kunst und Körperbild zwischen physischer und artifizieller Präsenz, in: www.medienobservationen.de, 2011, S. 1 f.

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