Leseprobe

50 rung,5 was Thiel mit seinen mit Gefühlen wie Isolation und Einsamkeit unterlegten »leicht übersteigerten surrealistischen Porträts«6 seinerseits reinszeniert.  Der Fotograf selbst sah sich dabei weniger in der Tradition der Surrealisten als vielmehr am Puls der Gegenwart: »Wenn er [d. i. Ingolf Thiel] Einflüsse gelten lässt, dann am ehesten jene einer bestimmten Hollywoodzeit oder – neueren Datums – der ganzen Punk-Bewegung. […] Parallel zu seiner lebenshaltenden kommerziellen Beschäftigung mit Mode, Beauty und schönen Modellen betreibt er, für ihn mehr als nur wichtiger Ausgleich, seine freie Fotografie. […] Ein bisschen sieht er diese Bilder denn auch als kleine, private Abrechnung mit der kommerziellen Berufsfotografie. Seine Porträts haben nicht umsonst sehr viel mit Werbefotografie gemeinsam. Sie sind ebenso exakt und kühl gestylt, wie es heute ›in‹ ist. Sie sind ebenso ›schön‹.«7 Damit ist Schönheit als zentrale Kategorie benannt. Allerdings erfährt der Körper durch die aggressive Publizität der Medien eine massive Verwandlung, denn nicht das außergewöhnliche und individuelle Bild des Körpers wird propagiert, sondern das gegenwärtig normierte Schöne.8 In den Modernen Gefühlen erweist sich Schönheit als eine »Schönheit mit Widerhaken«, wie Hans W. Rolli sein Porträt über Thiel in der Zeitschrift ZOOM 1983 benennt. Thiel betonte darin: »Bei meinen freien Arbeiten […] wird diese Schönheit reflektiert. Die Bilder sind dann oft so schön, daß sie für mich schon wieder fast zum Kotzen sind. Mit eingebauten Elementen, die eben diese Schönheit negieren,«9 jedoch nicht in plakativ zugespitzter Eindeutigkeit, sondern stets ambivalent. Jeder Betrachter, so Thiel, solle aus einem Bild vielmehr seine eigene Geschichte herauslesen, »erst wenn diese Vielschichtigkeit erreicht ist, dann finde ich meine Fotos gut.«10  Neben der angesprochenen Wirkmacht der Massenmedien könnte auch die Ende der 70er Jahre einsetzende Fitnesswelle als Hintergrund für eine dieser vielschichtigen Bedeutungsebenen gelesen werden. Durch visuelle Medien vermittelte »Pop-Körper«, wie die von Farrah Fawcett oder Arnold Schwarzenegger, lieferten Bilder idealer Körperlichkeit, die nicht nur auf die Mode, sondern auch auf den Körper und dessen Wahrnehmung einwirkten. Sie gaben die Richtung vor, nach der die Identifikation strebte.11 Wie die Aerobic-Welle appellierte das damals noch »Trimm-Dich-Laufen« genannte Jogging an die Leistungsbereitschaft und das individuelle Streben nach Schönheit und Glück. Insbesondere Bodybuilding und Jogging waren als Praxen der Selbstformung immer auch »Modelle dafür, sich dem neoliberalen ökonomischen Imperativ entsprechend als ein aktives und selbstverantwortliches Subjekt zu konstituieren«.12 Andererseits hatte Fitness als eigenständiges, prägendes kulturelles Feld immer auch mit Emanzipation und Empowerment zu tun.13 So oder so scheint auf den Imperativ der Selbstformung in Thiels fotografischer Interpretation, angesichts wiederkehrender Requisiten wie Zollstöcke und Maßbänder, stets auch die Selbstvermessung des Individuums zu folgen. Die (mediale) conditio humana des Körpers zwischen Realitätskonstruktion und Inszenierungsdruck wird Gegenstand künstlerischer Reflexion. PUNK UND HOLLYWOOD Die Serie Moderne Gefühle zeigt, so eine zeitgenössische Interpretation von 1982, »in beeindruckender Weise, wie durch eine unterkühlte, fast beängstigend distanzierte Darstellung Menschen und Gesichter zu ›Objekten‹ werden – zu ›Dingen‹, die sich, zusammengeführt mit Gegenständen des Alltags, zu Stilleben formen und als solche von der Kälte unseres gesellschaftlichen Umfeldes sprechen.«14 Dass Ingolf Thiel, bevor er fotografierte, eine Ausbildung als Schaufenstergestalter absolvierte, lässt sich, so eine Stimme von 1983, an seinen »kühn und kühl stilisierten Schwarzweißbildern« geradezu ablesen: »Thiel ›inszeniert‹ seine Fotos buchstäblich, wobei er die Wirkung durch phantastisch-bizarre Requisiten – geeckte, aus dem Karton geschnittene Pappumrisse für die Akteure, dazu reelle Bühnenbildnereien zwischen Schneiderwerkstatt und dramatischem Schultafelspuk – effektstark hochzusteigern weiß, in Bilder von kalkuliertem Gruselwitz.«15  Die strengen, unterkühlten Porträts der Modernen Gefühle „ 5 Vgl. Annette Barkhaus: Der Körper im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle, hg. v. Annette Barkhaus und Anne Feig, München 2002, S. 27– 46, hier S. 27. „ 6 Ingolf Thiel, in: Portfolio 3. 162 Fotografien 34 zeitgenössischer Fotografen aus PHOTOGRAPHIE 1– 6/ 1984, Schaffhausen 1984, o. Pag. „ 7 Ingolf Thiel. Portfolio, in: Photographie. Das internationale Monatsmagazin für Fotografie und Film, Juni, 8. Jg. (1984), S. 71–76. „ 8 Vgl. Christin Sander, 2011. „ 9 Hans W. Rolli, 1983, S. 88. „ 10 Ebd. „ 11 Vgl. Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Frankfurt/Main 2021, S. 396. „ 12 Ebd., S. 406. „ 13 Vgl. Jens Balzer: High Energy. Die Achtziger – das pulsierende Jahrzehnt, Berlin 2021, S. 205, 211. „ 14 Ingolf Thiel: Stilleben mit Menschen, 1982, S. 28 –31. „ 15 ska: Zarte Schwärze, ins Helle gehängt, Stuttgarter Zeitung, o. Datum (Dezember 1983).

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