Leseprobe

116 Chaos imRaum. Chaos im Innern. Wir sind imReich der verschwommenen, verwischten Formen angekommen, im Reich der Schatten und der Dunkelheit. Das Theater ist wie die abgewandte Seite der Welt und der Dinge, ein Ort der Konfusion, der Vermischung von Gegensätzen, ein Ort der Unklarheit. In dem Sinn ist das Theater das gänzlich Andere der Kunst, ihr extremer Widerpart. Es ist also nicht nur eine Frage des Lichts. Zumeist handelt es sich um ein eklatantes Missverständnis, wenn »bildende Künstler« – wie wenig passt hier diese Bezeichnung! – den Theaterraummit einemgigantischen Ausstellungsraum verwechseln. Endlich, meinen sie, haben ihre Bilder den Platz gefunden, den sie brauchen, endlich ersticken diese nicht mehr in schlecht beleuchteten Museen oder staubigen Galerien: was für ein Trugschluss! Jene Künstler merken nicht, dass das Theater ihre Kunst verzwergt, sie förmlich als solche aufhebt. Das ist auch der Grund, wieso deren Bühnenbilder im Theater oft so fade und uninteressant daherkommen. Betrittst du als bildender Künstler eine Theaterbühne, bist du auf feindlichem Gebiet. Dies gilt auch für BenWillikens, dies gilt besonders für BenWillikens! Er als der Maler der Räume setzt sich als Bühnenbildner mehr als andere einer immensenGefahr aus. Die Bühne bedeutet für Ben Willikens und sein Werk wahrlich Lebensgefahr. Stehe ich auf eine gewisse Entfernung vor einem Willikens-Bild, stehe ich vor einemRaum, der unendlich tief scheint. Der Raum zieht mich gleichsam hypnotisch an. Ich trete langsamnäher, bis ich auf Berührungsdistanz angekommen bin. Damerke ich, dass die Tiefe reine Illusion ist und – schlimmer! – der Raum als reine Fläche selbst gar keiner ist. Mein Entsetzen ist groß. Schnell trete ich einen Schritt nach hinten, entferne mich vom Bild, gehe im wahrsten Sinne des Wortes auf Distanz und kehre zu meinem Ausgangspunkt zurück. Was für eine Erlösung! Der Raum ist wieder da, die Tiefe offensichtlich. Die Welt ist wieder im Lot. Scheinbar. Genau das ist die beinah barocke, aber völlig schnörkellose Kunst des Ben Willikens: Räume schaffen, die gar keine sind! Der Betrachter verliert sich in einemUniversum, das es gar nicht gibt. Willikens, der Zauberer. Doch wie geht das mit dem Theater zusammen? Stehe ich auf eine gewisse Entfernung vor einem Willikens-Bühnenbild, stehe ich vor einem Raum, der unendlich tief scheint. Der Raum zieht mich gleichsam hypnotisch an. Ich trete langsam näher, bis Ben Willikens im Bühnenbild zu Peter Weiss’ Marat/Sade – Schauspiel Frankfurt, Frankfurt amMain – 1990

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