Leseprobe

55 Auch wenn die beiden Globuspokale höchst qualitätsvolle Goldschmiedeplastiken stattlicher Größe repräsentieren – technisch deutlich raffinierter stellt sich ein anderes Trinkspiel dar, der Figurenautomat »Kentaur« (Kat.-Nr. 22). Es ist gleichermaßen ein Erzeugnis der Goldschmiedemetropole Augsburg, deren Werkstätten in Kooperation mit Uhrmachern oder Automatenbauern sowie Bildhauern komplexe Tafelautomaten für die anspruchsvollen europäischen Fürstenhöfe herstellten. Das Trinkspiel konnte mithilfe eines im Sockel verborgenen Laufwerks über den Tisch fahren, wobei es insgesamt eine Strecke von 2,8 Metern zurücklegte und nach 70 Zentimetern jeweils eine 90-Grad-Drehung vollzog. Darüber hinaus verfügte es nicht nur über eine Zeitanzeige, sondern hielt auch so manche Überraschung bereit: So sprang der eine Jagdhund auf und nieder und der andere drehte seinen Kopf, während der Kentaur und seine Reiterin die Augen bewegten und Ersterer einen Pfeil abschoss. Abstürze von der Tischkante konnten mittels eines Stoppmechanismus verhindert werden.14 Eine vergleichbare Funktion begegnet uns bei einem bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstandenen Schiffsautomaten des Nürnberger Schlossers Caspar Werner (gest. 1545): Wie der Schreib- und Rechenmeister Johann Neudörffer der Ältere (1497–1563) berichtet, stand auf dessen Heck ein geflügelter Putto mit Pfeil und Bogen, der »also zugerichtet [war], welchen man am Tisch wollt haben, auf denselben wendet sich das Kindlein und schoss auf ihn ab.«15 Die historische Beschreibung dieses Tafelschiffs legt tatsächlich einen spielerischen Einsatz an der Tafel nahe, bei dem der Pfeil gezielt auf einen bestimmten Gast geschossen und dieser damit möglicherweise zu einem Trinkritual aufgefordert werden konnte – ein Gebrauch, wie er auch bei dem Figurenautomaten »Kentaur« vorstellbar ist. Dieser Typus gehört mit seiner Vielfalt von Funktionen und Bewegungsabläufen zu den anspruchsvollsten seiner Art und ist nur in einem einzigen weiteren Exemplar überliefert, das sich heute im Kunsthistorischen MuseumWien befindet und in Details abweicht (Abb. 2).16 Dieses dürfte Kurfürst Christian II. von Sachsen (1583–1611) bei seinem Besuch in der Prager Kunstkammer Kaiser Rudolfs II. (1552–1612) im Jahr 1607 so begeistert haben, dass er bei demselben Augsburger Meister das Dresdner Stück in Auftrag gab. Ähnliche Bewegungsabläufe kennzeichneten den Automaten mit Elefant (Kat.-Nr. 23), der bereits im Inventar der Kunstkammer von 1587 aufgeführt wurde, sich aber nur in Fragmenten erhalten hat.17 Der Dickhäuter konnte über den Tisch fahren und die Augen bewegen, während der ihn reitende »Mohr« eine Pauke schlug und ein »mohren konigk«18 von seinem Tragsessel aus einen Pfeil abschoss. Das Motiv dürfte unmittelbar auf die höfischen Feste am Dresdner Hof anspielen, wo als afrikanisch ausgegebene Verkleidungen im Rahmen von Erdteilallegorien gang und gäbe waren. Im Vergleich zu dem Kentauren- und dem Elefantenautomaten besitzt das Trinkspiel mit demHeiligen Georg als Drachentöter (Kat.-Nr. 24) einen vergleichsweise einfachen Mechanismus, Abb. 3 Trinkspiel »Diana auf demHirsch«. Mathias Walbaum (oder Umkreis), Augsburg, um 1600. Residenz München, Schatzkammer, Inv.-Nr. ResMüSch. 588 »Ein hirsch, darauf die göttin Diana sitzet, gantz von silber, undten 2 hunde ziemblicher größe, auch ein reiterlein mit kleinen hunden und etzliche silberne sträußlein, welcher durch ein uhrwergk in quadrato herumb getrieben wird.« (Kunstkammer-Inventar 1640, fol. 492 v, zu einem heute verlorenen Diana-Automaten)

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