Leseprobe

N o s f e r a t u s S c h a t t e n F r a n k S c h m i d t liches Grün getaucht. Im nächsten Augenblick jagt die Kutsche des Vampirs in atemberaubendem, mittels Einzelbildbelichtung umgesetztem Tempo durch einen »Märchenwald«,24 dessen schaurige Atmosphäre durch die Einfügung von Negativaufnahmen sogar noch gesteigert wird. Passend dazu findet sich auf der zugehörigen Seite von Murnaus Arbeitsskript die handschriftliche Notiz: »Rasende Fahrt der Kutsche durch weissen Wald!«25 Die Szenenbeschreibung lässt, wie Knocks (Alexander Granach) vorangegangene Aufforderung »Reisen sie schnell, reisen sie gut junger Freund in das Land der Gespenster«, erahnen, dass bereits Drehbuchautor Henrik Galeen die unnatürliche Beschleunigung ins Bild gesetzt sehen wollte, die, vermittelt durch Stoker, ein weiteres literarisches Vorbild aufruft.26 Immerhin wird das Eintreffen des Gespanns, das wie in Dracula vom verkleideten Grafen gelenkt wird, auch in der Originalfassung des Romans mit der deutschsprachigen Zeile »Denn die Todten reiten schnell« kommentiert, wobei der Erzähler die Herkunft des Zitats aus Gottfried August Bürgers Lenore (1778) kenntlich macht.27 In der Ballade ersehnt die Protagonistin die Heimkehr ihres in den Krieg gezogenen Verlobten Wilhelm und verkennt, als er eines Nachts vor ihr steht, dass er längst den Tod gefunden hat. Mithin endet der gemeinsame Ritt des Paares auf dem Friedhof, wo Lenore in das Grab des Gefallenen gezogen wird. Für Nosferatu nimmt das visuell assoziierbare Zitat mit der Reise des Vampirs auch das unheilvolle Ende vorweg, stellt Hutters Begegnung mit den »unheimlichen Gesichte[n]« doch nur den Auftakt eines Albtraums dar, der seine Heimatstadt Wisborg ins Unglück stürzen und seine Frau das Leben kosten wird. Darüber hinaus gibt die Kutschfahrt einen Ausblick auf das disparate Verhalten Orloks, der blitzschnell aus seiner Starre erwacht, sobald sein Jagdtrieb ausbricht. In diesem Zusammenhang hat Lotte Eisner betont, dass die plötzlichen Angriffe gerade deshalb bedrohlich wirken, weil die Figur zuvor »mit einer fast unerträglich werdenden Langsamkeit«28 auf die Kamera zuschreitet, woraus ein Gefühl der Ausweglosigkeit resultiert.29 Es ist jene Gegenüberstellung antithetischer Dynamiken, die die weitere Inszenierung der Untoten im Film maßgeblich beeinflusst hat. Bis heute kommen die von Murnau eingeführten Effekte zur Anwendung, wenn es darum geht, die übermenschlichen Kräfte und animalischen Instinkte der Kreaturen eindrucksvoll vor Augen zu führen. Dies gilt selbst für so untypische Genrebeiträge wie Ana Lily Amirpours A Girl Walks Home Alone at Night.30 In der monochromen Vampir-Elegie durchstreift das namenlose Girl (Sheila Vand) Nacht für Nacht die trostlose Ölstadt Bad City. Wie Orlok sucht sie die Menschen in Gestalt ihrer Silhouette heim, jedoch ist nunmehr der Tschador der Hauptfigur dafür verantwortlich, dass sie zum lebendigen Schatten ihrer Opfer wird. Durch ihre betont langsamen, kaum wahrnehmbaren Bewegungen fallen ihre raubtierhaften Attacken umso erschreckender aus. Am eindrücklichsten illustriert dies der Angriff auf den Zuhälter und Drogendealer Saeed (Dominic Rains). Nachdem das Girl den Gangster in seine Wohnung begleitet hat, beobachtet sie ihn zunächst völlig regungslos. Minuten vergehen, in denen sich Saeed als das eigentliche Monster zu erkennen gibt. Als er sich der jungen Frau schließlich nähert und ihr seinen Finger in den Mund schiebt, schlägt sie gnadenlos zu: Und im Gegensatz zu Orlok, der im Angesicht von Hutters blutender Wunde nur kurz die Fassung verliert, beißt die Vampirin Saeeds Finger unvermittelt ab. Die Entscheidung dazu ist ebenso sehr eine moralische: So steht der Biss nicht nur für die Entmannung des Kriminellen, der kurz zuvor mit einer identischen Geste eine sexuelle Handlung eingefordert hat; das Girl räumt auch mit den Geschlechterklischees klassischer Vampirfilme auf, in denen für Frauen oft nur die Rolle des wehrlosen Opfers vorgesehen war. »Rasende Fahrt der Kutsche durch weissen Wald!«, Filmstill, 1. Akt, 00:23:56 Die Vampirin (Sheila Vand) in Ana Lily Amirpours A Girl Walks Home Alone at Night, 2014

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