Leseprobe

59 großen Erfolge mehr feiern konnte: »The picture itself is a most morbid and depressing affair without entertainment value. It will not be acceptable anywhere except in the ›arty‹ houses. For the regular picture houses it is a ›bust‹ before it starts.«11 Parallel dazu schritten in Hollywood die Vorbereitungen zur ersten offiziellen Dracula-Verfilmung voran, für die zeitweise auch zwei Deutsche gehandelt wurden. Nach dem Erfolg von Paul Lenis Der Mann, der lacht (1928) wollte Universal-Boss Carl Laemmle Hauptdarsteller Conrad Veidt für die Titelrolle verpflichten, für die Regie war einmal mehr Leni vorgesehen.12 Dessen unerwarteter Tod setzte den Plänen ein Ende. Dracula (1931) wurde daraufhin von Tod Browning realisiert, und mit Bela Lugosi, der Stokers Figur zuvor auf der Theaterbühne verkörpert hatte, betrat ein neuer Typ von Vampir die Leinwand, der mit seiner aristokratischen, unterschwellig erotischen Ausstrahlung die Vorstellung vom untoten Grafen für Generationen prägen sollte.13 GESPENSTER IN PLZEŇ Rückblickend lässt sich sagen, dass sich das cineastische Überleben von Nosferatu maßgeblich der frühen Wertschätzung verdankt, die die Surrealisten dem Film unmittelbar nach seinem Erscheinen zuteilwerden ließen.14 Vor allem der Zwischentitel »Als er die Brücke überquerte, kamen ihm die Geister entgegen«,15 der Hutters (Gustav von Wangenheim) Gang über eine hölzerne Brücke, hinein in den Machtbereich des Grafen Orlok, beschreibt, findet sich mehrfach in den Schriften der Bewegung. Als Schlüsselmoment taucht er bei André Breton und Robert Desnos auf, der in den Zeilen die Schwellenfunktion des Kinos zwischen Traum und Wachbewusstsein in paradigmatischer Weise zum Ausdruck gebracht sah.16 Ein Artikel des tschechischen Autors Vítězslav Nezval belegt, dass die frühe Würdigung nicht auf den französischen Zweig der Surrealisten beschränkt blieb. Der mit Breton bekannte Gründer der tschechoslowakischen Surrealistischen Gruppe hatte Upír Nosferatu 1933 in Prag gesehen und sich im Anschluss euphorisch darüber geäußert, mit welcher Selbstverständlichkeit der Film die Realität des Übernatürlichen behaupte,17 etwa wenn Hutter sich von seiner Frau Ellen (Greta Schröder) verabschiedet, um in das Land der Gespenster zu reisen:18 »Es klingt so echt, als würde er sagen: Wir müssen uns verabschieden. Ich fahre nach Plzeň. Es ist dieser dem Absurden entnommene Realismus, der den Film der modernen Poesie so nahe bringt.«19 Darüber hinaus verdanke sich die surreale Wirkung von Nosferatu der Einbettung aus der Zeit gefallener Objekte, über die es, wie im Fall der schwarzen Kutsche Orloks, gelinge, unsere Träume zu berühren.20 Wenig überraschend versammelte der Autor synonyme Motive auch in seinem zwei Jahre später verfassten, aber erst 1945 veröffentlichten Roman Valerie – Eine Woche voller Wunder, der von den Erlebnissen eines heranwachsenden Mädchens berichtet, dessen Leben sich mit dem Auftreten der ersten Menstruation schlagartig verändert. Fortan sieht sich Valerie den unangemessenen Annäherungsversuchen älterer Männer ausgesetzt, stellt sich ihr Alltag als Abfolge bedrohlicher Ereignisse dar, aus der es kein anderes Erwachen als das in einem weiteren (Alb)Traum gibt. Für seine 1970 entstandene, inzwischen als Spätwerk der Tschechoslowakischen Neuen Welle geltende Verfilmung orientierte sich Regisseur Jaromil Jireš nicht nur an Nezvals Roman, sondern auch an den Einflüssen des Autors:21 Nunmehr gibt sich der zwielichtige Konstabel (Jirí Prymek), der im Buch als Iltis beschrieben wird,22 Valerie (Jaroslava Schallerová) von Beginn an als ›Verwandter‹ Orloks zu erkennen, der durch seine fahle Gesichtsfarbe und rattenartige Zähne hervorsticht. Im Verlauf der Handlung verschwimmen die Identitäten der einzelnen Charaktere immer mehr. Innerhalb surrealistisch anmutender Schauplätze erscheint der Vampir dabei als Verkörperung einer alternden Generation, der jedes Mittel recht ist, um das eigene Vergehen zu verhindern. Selbst Valeries Großmutter, die – wie Ellen – schon vor der Begegnung mit dem Vampir leichenblass ist, schreckt nicht davor zurück, zur Wiedererlangung ihrer Jugend einen Pakt mit dem Blutsauger zu schließen. DENN DIE TOT EN BEISSEN SCHNELL Sieht man vom markanten Äußeren Orloks ab, hat vor allem Murnaus filmische Ausgestaltung des Irrationalen konstitutiv auf die weitere Entwicklung des Horrorgenres gewirkt. Beispielhaft hierfür steht jene Szene im Schloss des Grafen, in der der Schatten des Vampirs Besitz von dem zu Tode erschrockenen Hutter ergreift, ein Motiv, das gegen Ende noch eine Steigerung erfährt, wenn sich die Silhouette des Vampirs mit immer länger werdenden, spinnenartigen Fingern Zugang zu Ellens Schlafgemach (und Körper) verschafft.23 Allerdings deutet sich Orloks Macht schon vor dessen erstem Auftritt an, genauer in dem von den Surrealisten verehrten – von Murnau mittels auffälliger Brüche und technischer Tricks umgesetzten – Moment des Schwellenübertritts. Wirkt die Welt um Hutter zuvor noch taghell-gelb, ist sie nach dem Gang über die Brücke in bedroh-

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