Leseprobe

82 es über den abstrakten Expressionismus bis zur Pop-Art. Zwischen den größeren, den genannten Entwicklungen gewidmetenGruppenräumen, die wir mit ihren internationalen Facetten vorstellen können, unterbrechenmonografische Präsentationen zu Pablo Picasso, Max Beckmann, Oskar Schlemmer und Joseph Beuys diesen Parcours. Als wir zum 175. Geburtstag der Staatsgalerie großzügige Schenkungen erhielten, wollten wir diese Neuzugängemit unseremPublikumwährend des Jubiläumsjahrs 2018 teilen. Dafür mussten wir in den Sammlungsräumen bewährte Konzepte aufbrechen, umhängen und konnten dafür neue Seherfahrungen ermöglichen. Zu den Jubiläumsgaben für die Staatsgalerie gehört auch die große Arbeit Raum 624, Floß (Atelier-Interieur) aus dem Jahr 2010 von Ben Willikens (Abb. S. 83). Das Bild ist Teil seiner ab 2009 entstehenden Serie Floß, die eine einschneidende Veränderung in seinem Leben markiert. Nach der Emeritierung in München kehrt Ben Willikens zurück nach Stuttgart und löst dort das größere seiner beiden Ateliers auf. Dieser labilen Phase eines nicht nur örtlichen Lebensumbruchs verdanken wir eine Reihe neuartiger, für den Künstler ungewöhnlich farbiger Arbeiten. Sie spielen mit dem Medium der Fotografie, der fotografiertenMalerei unddemOrt, der dieseMalerei ermöglichte. Zunächst wird ein Schauplatz, in dem viele der von ihm imaginierten Raum- und Ortsituationen entstanden, durch seine Aufnahmen selbst zum Kunstwerk. Hierfür vergrößert er seine fotografisch dokumentierten, halb ausgeräumten Ateliersituationen als Pigmentdrucke. Sie zeigen gleichsam Negativräume, Leerstellen an Wänden, auf denen so viele Willikens’sche »Räume« und »Orte« entstanden sind. Pinselstriche in allen Grauschattierungen, die um frühere Bildträger herum stehen geblieben sind, unbespannte Keilrahmen, die noch an diesen Wänden hängen, oder einfach abgestellte Bretter beweisen, dass ein fast ausgeräumtes Atelier noch immer übervoll an visuellen Attraktionen ist. Neben solchen Wandstücken öffnen sich in dieser Serie dann unvermutet scheinbar ganze Räume. Schnell entlarvt man sie als Illusion, als noch imAtelier befindlicheGemälde vonWillikens, die nun wie die fotografiertenWände innerhalb des Bildes die gleiche künstliche Realität besitzen. Diesen doppelten Raumwirklichkeiten fügt der Künstler mit wenigen, akzentuiert farbigen Pinselstrichen auf der makellosen Oberfläche der Pigmentdrucke noch eine weitere Ebene hinzu. Auf magische Weise verschränkt er damit Figuration und Abstraktion und perfektioniert das Vexierspiel. Was ist Kunst? Was ist Wirklichkeit?

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