Leseprobe

8 »Die Neustadt Hanau – ein Drehkreuz im europäischen Kunst- und Wissenstransfer?« vom 11. bis zum 13. November 2021, deren Ergebnisse in diesem Band zusammengefasst sind, hat hingegen einen anderen Schwerpunkt gesetzt. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, verstärkt in dem durch den aggressiven Nationalismus bestimmten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde zunehmend versucht, Künstler und ihre Werke für eine jeweilige national begriffene Kultur zu vereinnahmen. Das heißt, Kunst- und Kulturräume wurden anhand von Grenzen geschieden, die es bis in das 18. Jahrhundert so überhaupt nicht gegeben hatte. Das Gleiche gilt für die Scheidung anhand der Konfessionsgrenzen des 16. und 17. Jahrhunderts. Überspitzt formuliert wurde – gerade in der deutschen Perspektive – die Gotik, mit Abstrichen noch die Renaissance und dann die deutsche Klassik dem katholisch-welschen Barock – sei er italienischer oder französischer Provenienz – gegenübergestellt. Die (kunst-)historische Kulturtransferforschung hat hier in den vergangenen dreißig Jahren zu einer neuen Sicht geführt. Zunächst gilt es festzustellen, dass in der Frühen Neuzeit – also den Jahrhunderten zwischen Reformation und Industrialisierung – die wichtigsten Träger der kulturellen Transfers in der Regel eben keine staatlichen Akteure waren, sondern unterschiedliche Netzwerke (Exulantenfamilien, humanistische Gelehrtenzirkel, Kaufleute, Künstler, Militärs, Musiker, Handwerker u. v. a.m.). Dabei wurde sehr deutlich, dass letztlich das Nichtnationale am Nationalen in einer jeden Kultur im Grunde genommen das gesamteuropäische kulturelle Profil kennzeichnet, also die interkulturellen Aspekte. Sie bestimmen den transkulturellen Charakter Europas, der jedoch aus nationalpolitischen Gründen phasenweise systematisch geleugnet wurde und gegenwärtig zunehmend wieder geleugnet wird. Gelegentlich wurde der Kulturtransfer zunächst monodirektional gerichtet aufgefasst: also beispielsweise der Einfluss der italienischen Renaissancekultur im nordalpinen Europa oder die Prägung des rechtsrheinischen Mitteleuropas durch die höfische Kultur des ludovizianischen Frankreichs nach dem Dreißigjährigen Krieg; auf Hanau heruntergebrochen wäre dies konkret der Einfluss der niederländischen Kunst und Kultur ab 1597. Bald ging man jedoch von einer bidirektionalen Ausrichtung kultureller Transfers aus. Das heißt, kulturelle Transfers waren keine Einbahnstraße, auf der eine bestimmte Kultur von einem Land in ein anderes rollte und sich das Empfängerland dem Entsenderland annäherte, sondern sich das Entsandte durch den Transferprozess eben EINFÜHRUNG VICTORIA ASSCHENFELDT, HOLGER TH. GRÄF UND MARKUS LAUFS Am 1. Juni 1597 schloss Graf Philipp Ludwig II. mit reformierten Flüchtlingen aus den Spanischen Niederlanden einen Vertrag, der ihre dauerhafte Niederlassung in der zu gründenden Neustadt Hanau regelte. Damit war die Voraussetzung für eine nachhaltige und wegweisende Entwicklung für die Geschichte Hanaus geschaffen, die bis in die Gegenwart spürbar geblieben ist. Bereits zum 400. Jubiläum im Jahre 1997 bot dies Anlass für eine aufwendige Ausstellung und einen entsprechenden Katalog.1 Dieses verdienstvolle und für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema unverzichtbare Werk spannt den zeitlichen Bogen von der Gründung der Neustadt bis in die unmittelbare Gegenwart. Fokussiert wurde dabei vor allem der künstlerische, kulturelle und nicht zuletzt wirtschaftliche Nutzen, den der Ort durch den Zuzug der teilweise hochqualifizierten und international vernetzten Kunsthandwerker, Künstler, Gewerbetreibenden und Kaufleute hatte. Die gemeinsam vom Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde und dem Historischen Museum Hanau Schloss Philippsruhe ausgerichtete Tagung

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