Leseprobe

30 auch im hanauischen Kontext eine wichtige Rolle. Nach dem Tod ihres Mannes konnten sie in vielen Fällen dessen Geschäfte übernehmen. Ein solches Verfahren finden wir beispielsweise festgeschrieben in den Regeln der Graffgrün Compagnia, die die Herstellung und den Vertrieb von Grosgrain, einer bestimmten, oft mit Seidenzeug in Verbindung stehenden Textilware, regelte. In dem Dokument, das dem Rat der Hanauer Neustadt am 22. Dezember 1612 von führenden niederländischen und wallonischen Vertretern des von den Exulanten betriebenen Gewerbes zur Begutachtung und Diskussion vorgelegt wurde, wurde in Artikel 8 den Witwen und Kindern verstorbener Gesellschaftsmitglieder freigestellt, der Gesellschaft beizutreten. Die Geschäftsbedingungen wurden ausführlich diskutiert, wobei dieser Artikel jedoch nicht zur Debatte stand und also keine Kontroversen hervorrief. Am 20. Februar 1613 wurde das Dokument schließlich dem hanauischen Hof zur Besiegelung vorgelegt.15 Aus der von Heinrich Bott zusammengestellten Liste der höchstbesteuerten Exulanten für die Jahre 1601 bis 1620 lässt sich zudem ablesen, dass in 14 von insgesamt 72 Fällen die Witwen der Genannten oft noch Jahre nach dem Tod ihres Gatten die jeweiligen Unternehmen unter Bezahlung desselben Spitzensteuersatzes weiterführten.16 Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings eine Anmerkung der Prediger der beiden Fremdengemeinden Frédéric Billet († 1621) und Isaak Boots († 1634) auf die Frage des gräflichen Rates Dr. Wilhelm Sturio († 1620), wie nach der Pestwelle von 1606/07 die Wiederverheiratung von Witwen innerhalb der Gemeinden geregelt werden sollte. Scheinbar hatte die Stadt selbst hierfür keine Richtlinien aufgesetzt. In ihrem Schreiben verwiesen beide auf die Notwendigkeit schneller erneuter Eheschließungen von verwitweten Migrantenfrauen, da Gewerbe und Handel Schaden erleiden würden, wenn sie allzu lange in den Händen von Frauen blieben.17 Die Witwen auf der Spitzensteuerliste hatten es allerdings offensichtlich nicht eilig, bereits nach der mit der Stadt vereinbarten Wartezeit von fünf Monaten und zwei Wochen wieder zu heiraten.18 Die Witwe des Seidenhändlers und Färbers Anselm Binoit, Jeanne van Wingen, stand beispielsweise von 1616 bis zum Ende des Berechnungszeitraums 1620 in der Liste eingeschrieben. Dasselbe gilt für die Witwe des Seidenwebers Charles alias Karl van der Hoyken, die seit 1613 die Geschäfte ihres Mannes in Hanau führte.19 Auffallend in diesen Fällen ist allerdings auch die hohe Mobilität dieser Familien. Anselm Binoit († 1615) war ursprünglich aus Tournai zunächst nach Köln und anschließend nach Frankfurt migriert, bevor er nach nur einem Jahr in Hanau im Mai 1615 starb. Sein Sohn gleichen Namens starb 1651 in Frankfurt. Es ist anzunehmen, dass Anselm Junior eine Zweigstelle des familiären Seidengeschäftes in Frankfurt aufmachte und somit das Unternehmen ausweitete. Wir wissen wenig über alleinstehende Frauen und ihre Gewerbe in Hanau. Die summarische Liste aller Berufsgruppen in der Stadt, die Heinrich Bott aus verschiedenen Quellen zusammengestellt hat, verzeichnet Tätigkeiten im Textilgewerbe, die etwa im Herkunftsland der Exulanten in den Niederlanden zum niedrig bezahlten Sektor der Frauenarbeit passen würden, wie etwa Wollkämmerinnen und Spinnerinnen.20 Dass es alleinstehende Frauen auch zu Reichtum bringen konnten, macht das Norwicher Testament und Inventar von Jacomyne Begote († 1603) aus dem Jahr 1603 deutlich, die als »Single woman and alyan born« bezeichnet wird. Das sechs Seiten umfassende Inventar ihres Haushalts listete nicht nur zwei Seidenwebstühle und eine große Anzahl Handwerksgegenstände aus der Feintextilindustrie auf, sondern auch Wolle, Garne und hochwertige Stoffe im Wert von mehr als 20 Pfund. Sie hinterließ unter anderem mehrere nicht genau beschriebene Bücher und Landkarten sowie Landbesitz in Flandern und sie stiftete 20 Schilling für die Armen der niederländischen Gemeinde in Norwich. Was Jacomyne als unabhängiger Unternehmerin in einer Zeit ansteigender Regulierungen des Arbeitsmarktes für Frauen sicherlich half, waren ihre guten Verbindungen zu wohlhabenden und einflussreichen niederländischen Unternehmerfamilien in der Stadt, wie etwa den Bonnells, die in ihrem Testament genannt werden. Das Wirtschaften im Familienverband, in dem Frauen als Töchter und Schwiegertöchter, Gattinnen und Witwen eine wichtige Rolle etwa in der Diversifizierung des ökonomischen Portfolios oder durch Erweiterung von bestehenden wirtschaftlichen Netzwerken spielten, gehört sicherlich zu einer wichtigen Strategie vor allem der wohlhabenderen Exulantenfamilien. Sie hat auch die Vorstellung von Familienwanderungen als dem typischen Migrationsprofil weiter verstärkt. Wichtige Fallstudien hierzu sind in den letzten Jahren etwa von Klaas-Dieter Voss und Sandra Langereis vorgelegt worden, die sich besonders mit den reichen Druckerfamilien in Exil, beispielsweise in Emden und Antwerpen, beschäftigt haben.21 Auch hier bieten sich weitere Studien etwa für die obengenannten, aber auch andere Hanauer Exulantenfamilien an, die leider bislang noch nicht vorliegen. Ein weiteres, nun vorgestelltes Beispiel zum Quellenwert von Testa-

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