Leseprobe

31 menten und Inventaren auf der Spurensuche nach weiblichen Migranten kann ebenfalls Licht auf die Rolle von Frauen und ihren Aktionsradius in der neuen Umgebung werfen. Das folgende Norwicher Testament ist auch ein wichtiges Beispiel für die Möglichkeiten von Frauen, sowohl in den Institutionen ihrer Glaubensgemeinschaft als auch in den sozialen Netzwerken ihrer Gastgesellschaft erfolgreich zu agieren. Unter dem Datum des 5. Mai 1612 verzeichnete der Prerogative Court of Canterbury das Testament der Witwe Mary Wallewein, Matriarchin einer weitverzweigten, wohlhabenden Exulantenfamilie, die in der niederländischen Auswanderungswelle der 1560er Jahre von Ypern nach Norwich gezogen war.22 Die Tatsache, dass das Testament bei diesem Diözesangerichtshof und nicht in ihrem Wohnort registriert wurde, deutet bereits darauf hin, dass Mary über ein beträchtliches Vermögen verfügte, dessen Nachlass sie nun ordnen wollte. Hierfür legte sie genaue Instruktionen fest, die auf insgesamt vier Blättern Papier in englischer Sprache zusammengestellt und jeweils eigenhändig von ihr unterzeichnet wurden. Zunächst regelte sie die Beerdigung, die in ihrer englischen Heimatpfarrei St. Peter Mancroft stattfinden sollte. Marys Pläne für die Trauerfeier waren ambitiös: Sie wollte in der Kirche selbst neben ihrem 1601 verstorbenen Mann Adrian Wallewein begraben werden. William Welles († 1620), der die Pfarrstelle von St. Peter Mancroft bekleidete, aber auch Hofprediger der Gattin König Jakobs I. (1566–1625), Anna von Dänemark (1574–1619), war, sollte die Leichenpredigt halten. Anschließend sollte ein Festbankett stattfinden, zu dem Marys Norwicher Familie, Freunde und Nachbarn eingeladen werden sollten. Aus diesem Anlass sollten außerdem jeweils 10 Schilling an arme Insassen zweier Norwicher Gefängnisse ausgeteilt werden. Mit umfangreichen Geldgeschenken wurden zudem bedacht: der Prediger der Norwicher Niederländergemeinde, Johannes Elison (1581–1639), und die Gemeinde selbst, um damit die Aufrechterhaltung der spirituellen Wohlfahrt ihrer Mitglieder zu garantieren. Zur weiteren Unterstützung der niederländischen Armenfürsorge ordnete Mary Wallewein den Aufbau einer Stiftung an, deren beträchtliches Startkapital aus 25 Pfund bestand, das von den Ältesten der niederländischen Gemeinde verwaltet werden sollte. Bei guter Anlage sollte den Armen der Gemeinde hieraus eine jährliche Ausschüttung von 30 Schilling zur Verfügung gestellt werden. Neben dieser Langzeitinvestition stiftete sie einmalig 50 Schilling für diejenigen unter den niederländischen Armen, die nicht in den bestehenden Unterstützungsnetzwerken aufgefangen wurden, und 40 Schilling für die Armen der englischen Pfarrgemeinde St. Peter Mancroft. 40 Pfund gingen an Aquila Cruso († 1660), der mit einem Stipendium der niederländischen Gemeinde am Gonville and Caius College in Cambridge studierte; weitere Geldsummen waren für andere Familienmitglieder der Crusos bestimmt – auch diese waren wohlhabende und einflussreiche Exulanten in Norwich. Daneben verordnete Mary finanzielle Zuwendungen an diverse andere englische und niederländische Einwohner der Stadt. Kinder hatte sie offenbar keine (mehr). Ihren scheinbar umfangreichen Landbesitz in Flandern vermachte sie ihrer dortigen Familie, die zudem mit weiteren Geldgeschenken bedacht wurde. Die Verteilung von Land und Geld sollte nach flandrischer Gesetzgebung erfolgen. Die intimste Aufgabe in ihrem Nachlass, die Waschung und Einkleidung ihrer Leiche, überließ Mary Wallewein einer Engländerin, Frances Curvett, die für ABB.3 Unbekannte Bürgerin der Neustadt Hanau, unbekannt, Öl auf Leinwand, 1635, Eigentum der Wallonisch-Niederländischen Gemeinde – selbstständige ev.-­ reformierte Kirche zu Hanau/© Norbert Miguletz, ohne Inv.-Nr.

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