Leseprobe

176 D Das »Junge Hellerau« – ein Symbol deutscher Janusköpfigkeit Die Janusköpfigkeit der deutschen Geschichte spiegelt sich im historischen Makrokosmos des gesamten letzten Jahrhunderts und in kleinstädtischen Mikrokosmen, wie z. B. in Weimar und in Hellerau. Denn ähnlich wie Weimar – wo mit Goethe, Schiller und Herder bedeutsame Vertreter des deutschen Humanismus lebten und wirkten, wo Friedrich Nietzsche 1900 geistig umnachtet starb, wo 1919 zudem das Bauhaus gegründet wurde und wo von 1937 bis 1945 das Konzentrationslager Buchenwald auf dem Ettersberg und damit in unmittelbarer Nachbarschaft zur Stadt stand – offenbarte auch das »Junge Hellerau« diese bedrückende Zweideutigkeit. Im »Jungen Hellerau« war es vor allem der seit 1910 in der Gartenstadt wohnende Bruno Tanzmann, der mit der 1921 von ihm hier gegründeten Deutschen Bauernhochschule und mit dem ebenfalls von ihm in der Gartenstadt gegründeten Bund der Artamanen ein völkisch gesinntes Bildungsinstitut und einen völkischen Siedlungsbund zum Leben erweckte. Die neue historische Forschung weist darauf hin, dass es letztlich eben jener fast drei Jahrzehnte in Hellerau wohnende Tanzmann war, der mit seinen Schriften und Verlagsgründungen1 und mit den hier erfolgten Gründungen der Bauernhochschule und der Artamanen die Blut-und-Boden-Ideologie mit begründet hat.2 Diese bildete ein Jahrzehnt später ein grundlegendes ideologisches Fundament der nationalsozialistischen Weltanschauung. Die Völkische Bewegung – eine Begriffsklärung Die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und zu Beginn der 1920er Jahre des letzten Jahrhunderts in Deutschland um Einfluss bemühte Völkische Bewegung war kein originäres Produkt des Krieges oder der Weimarer Republik. Die Ursprünge dieser vielschichten Bewegung lagen im Wilhelminischen Kaiserreich. Im Gegensatz zu Österreich agierten die völkischen Verbände in Deutschland (mit Ausnahme des Alldeutschen Verbandes) bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs jedoch außerparlamentarisch. Die Folge war, dass sich zahlreiche und unabhängig voneinander agierende völkische Bünde und Vereine gründeten, die jedoch in der Spätphase des Kaiserreichs und auch während der Weimarer Republik unbedeutend blieben. Der entscheidende Unterschied der völkischen Ideologie gegenüber den Ideologien der nationalen Rechten im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik war nicht der Rassismus, der bereits damals im rassistisch fundierten Antisemitismus seine aggressivste Form offenbarte, und auch nicht die Ableitung des Nationsbegriffs aus der Blut- und Abstammungsgemeinschaft und der kulturellen Geschichte, sondern das Trennende war das Gemisch dieser politischen Leitlinien und eine Hybridisation der damaligen progressiven wie regressiven Tendenzen. Hier grenzte sich die völkische Bewegung auch von ähnlichen Ideen der Lebensreformer ab.3 Ein Beispiel hierfür ist die 1909 vom Leipziger Verleger Theodor Fritsch4 gegründete Siedlung »Heimland« bei Zechlin als völkisches Gegenmodell zur im gleichen Jahr gegründeten Gartenstadt Hellerau. Es gab jedoch auch bedeutsame Überschneidungen zwischen Lebensreformern und Völkischen. So definierten sich die Völkischen um 1900 – ebenso wie die Lebensreformer und ebenso wie die heutigen Neu-Völkischen – als eine kulturelle Gegenbewegung zur »jüdisch-kapitalistisch Pressemacht und der von Geldinteressen geleiteten Publizistik«5 und zum »liberalen Zeitgeist«.6 Die Ablehnung des politischen Liberalismus und die Bekämpfung humanistischer Grundwerte blieben den meisten Lebensreformern jedoch fremd. Die vor und nach der vorletzten Jahrhundertwende in Dresden und in der Oberlausitz beheimateten Völkischen folgten zudem einem rigorosen Antislawismus.7 Diese Rigorosität, die sich zudem in einem oft offen zur Schau gestellten Antiurbanismus offenbarte, bestimmte auch die ablehnende Haltung von einflussreichen Vertretern der völkischen Bewegung, z. B. von Fritsch und von Heinrich Pudor,8 gegenüber Hellerau. 1 u Titelblatt eines von Heinrich Pudor im Hakenkreuz-Verlag veröffentlichten Buches. Hellerau 1923. u Title page of a book by Heinrich Pudor published by the Swastika Publishing House, Hellerau 1923.

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