Leseprobe

132 M Mit Oxymora wie new tradition, antimoderne Moderne, moderate, konservative, traditionalistische Moderne oder auch mit Reformarchitektur bezeichnet die Forschung seit den späten 1990er Jahren baukünstlerische Phänomene, die sich einerseits explizit auf die Historie beriefen und andererseits als fortschrittlich verstanden.1 Drei Phasen werden im Wesentlichen unterschieden: das Dezennium vor dem Ersten Weltkrieg, die Zwischenkriegszeit und die Periode nach 1945. In allen einschlägigen Studien zu diesem Themenkomplex kehrt die Frage nach dem Verhältnis von traditionalistischen zu avantgardistischen Anzeichen leitmotivisch wieder, wobei entwicklungsgeschichtlich gesehen eine zunehmende Separierung der beiden Positionen festgestellt wird – eine Separierung, die sich ab den 1920er Jahren in sich feindlich gegenüberstehenden Lagern manifestierte.2 Dieses Interpretationsmuster hat vielfach die Darstellung der Architektur nach 1900, die hier im Fokus steht, bestimmt. Von Ambivalenzen und Kontingenzerfahrungen in der Moderne zu sprechen, gehört längst zum gebräuchlichen Repertoire. Doch während dies mit Blick auf gesamtgesellschaftliche Phänomene überzeugend ist – vor allem dann, wenn man die Moderne als Makroepoche begreift –, scheint mir der Ansatz, bezogen auf die Baukunst, eher verfehlt. Denn der Rückgriff auf die Vergangenheit war Movens der Architekturreform schlechthin und kein reaktionäres Moment innerhalb einer auf Fortschritt ausgerichteten Bewegung. Gerade über einen expliziten Rückgriff, über historische Inspirationsquellen definierte diese ihren Anspruch und ihre Erwartungen. Gemäß den zeitgenössischen Theoretikern und Praktikern war Fortschritt ausschließlich über das Aufgreifen einer historisch verbürgten Ästhetik zu denken und zu erlangen. Über deren Adaption und Fortschreiben war Gegenwart angemessen zu gestalten. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich SchultzeNaumburg in seinen Kulturarbeiten entschieden gegen die Imitation im Hausbau ausgesprochen, und stattdessen ein »Weiterführen und Anpassen, genau wie es die Jahrhunderte hindurch Brauch war«, gefordert.3 Orientierung an der Vergangenheit und Bekenntnis zur Zeitgenossenschaft stellten somit keinen Widerspruch dar. Die von Schultze-Naumburg vertretene Auffassung entsprach dem gängigen Tenor in allen aktuellen Publikationen zur Lage der Baukunst, sodass sie hier als Grundlage der weiterführenden Diskussion gelten darf. Im Folgenden kann es daher nicht darum gehen, progressive und reaktionäre Momente als eine ebenso unauflösliche wie widersprüchliche Gemengelage zu analysieren, sondern vielmehr darum, die Bauten in Hellerau als Ergebnisse einer in sich stringenten Gestaltungsabsicht vorzustellen.4 Entwurfspraxis und Historie Seit die Kunstgeschichtsschreibung die Klassische Moderne entdeckt hat, wird die Abkehr von der Tradition als Qualitätsmaßstab und als Vorhut der heraufziehenden Stilwende gefeiert. Die Fokussierung auf das Neue verpasst dabei häufig den Umstand, dass Entwicklungen, wie es schon die Etymologie nahelegt, als organische Prozesse ablaufen, denen Rückbezüge immanent sind. Nicht immer zeigen sich diese unmittelbar. Einige Beispiele aus der Architekturgeschichte mögen dies veranschaulichen. Als eines der herausragenden Zeugnisse der Aufbruchsbewegung ist die Mathildenhöhe in Darmstadt anzuführen. Seit 1900 zum größten Teil von Joseph Maria Olbrich im Auftrag des Großherzogs Ernst Ludwig zu Hessen und bei Rhein errichtet, war sie als Künstlerkolonie konzipiert worden. Sie hatte sowohl den Ruhm des Potentaten wie die wirtschaftliche Entwicklung in dessen Herrschaftsgebiet voranzutreiben. Doch zielte sie weit darüber hinaus. Ihr Anspruch war es, als kunstreligiöses Projekt anthropologisch zu wirken. Nicht ohne Pathos war in einer zeitgenössischen Rezension zu lesen, dass dort dem Menschen zu einem »höheren Leben«5 verholfen werden solle, welches sich durch Kunstgenuss eröffne, da insbesondere die ästhetische Erfahrung für erhabene Werte empfänglich mache. Die anvisierte Transfor1 u Joseph Maria Olbrich: Ateliergebäude. Eröffnungsveranstaltung auf der Mathildenhöhe Darmstadt, 15. Mai 1901. u Joseph Maria Olbrich: Common atelier building. Inaugural ceremony on the Mathildenhöhe Darmstadt,

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