Leseprobe

80 M Mit Hellerau entstand als Adaption des Gartenstadtkonzepts nach Ebenezer Howard eine der fortschrittlichsten Siedlungen des frühen 20. Jahrhunderts mit einem alle Lebensbereiche umfassenden Reformprogramm. Die Protagonisten von Hellerau setzten wegweisende Impulse für einen sozialen und ressourcenschonenden Städtebau, einen typisierten Kleinwohnungsbau, eine vorbildliche Wohnkultur, gesunde Arbeitsbedingungen, die kulturelle Bildung und die Gestaltung von modernen Lebensräumen für eine »neue Gemeinschaft«. Der Beitrag beleuchtet den holistischen Anspruch und die vielfältigen Ideen der Lebensreformbewegung in Hellerau, indem er deren Zeugnisse in Siedlungsstruktur und Gebäudebestand beschreibt. Gründung und Reformanspruch der Gartenstadt Hellerau Initiator der Gartenstadt Hellerau war der sozial engagierte Möbelfabrikant und Kunstgewerbereformer Karl Schmidt, der mit Hilfe seiner philanthropischen Freunde und Klienten 1908 die gemeinnützige Gartenstadtgesellschaft und die Baugenossenschaft Helleraus gründete. Stellvertretend für viele andere sind neben Schmidt hier vor allem die Architekten Richard Riemerschmid und Hermann Muthesius sowie der Nationalökonom Friedrich Naumann und der Kulturförderer Wolf Dohrn zu nennen. Die Gartenstadtgesellschaft erwarb von 73 Bauern ein 132 Hektar großes Land nördlich von Dresden, ummit einem neuen Produktionsstandort für seine Fabrik – die Deutschen Werkstätten – auch gleich eine Mustersiedlung zu errichten. Die Tatsache, dass der Deutsche Werkbund, der seinen ersten Geschäftssitz in der Gartenstadt hatte, auf die Initiative der Hellerauer Protagonisten zurückgeht, verdeutlicht, wie weitreichend der Anspruch zur ästhetischen Bildung war. Die vielseitig engagierten und gut vernetzten Gründer Helleraus waren frühe Mitglieder oder gründeten weitere Reformorganisationen wie die Deutsche Gartenstadtgesellschaft, den Verein für Wohnungsreform, den Bund für Bodenreform, aber auch den Bund für Hei1 u Ebenezer Howard: Gartenstadt Diagramm Nr. 3, Teilausschnitt: Bahnanbindung und Zentrum, 1898. u Ebenezer Howard: Diagram No. 3. Garden-City Ward and Centre. Development concept, London 1898. mat- und Naturschutz und verfolgten eine gesamtgesellschaftliche Erneuerung. Das gesamtgesellschaftliche Erneuerungsbestreben würdigten frühe Besucher der Siedlung in ihren Zuschreibungen: »Laboratorium für eine neue Menschheit« (Paul Claudel, 1914),1 »Menschheitsgärtlein« (Christian Morgenstern, 1913) und »Versuchsstation für soziale Kultur« (Karl Scheffler, 1914).2 Sowohl der Anspruch als auch das Zeugnis Helleraus sind einzigartig, jedoch symptomatisch für die Aufbruchstimmung des frühen 20. Jahrhunderts. Dohrn, der Begründer der Hellerauer Bildungsanstalt für den Rhythmiker Émile JaquesDalcroze, gab die Stimmung der Zeit treffend wieder: »die Luft ist voll von Schlagworten, Anpreisungen, Illusionen, Projekten, Ideen und Versuchen, die jede in ihrer Weise der Menschheit Erlösung, Kultur, Freiheit, Leben, Gesundheit und – was weiß was alles – zuwenden wollen. […] Ich fürchte sehr […] wir werden manchmal mit solchen Weltverbesserern verwechselt werden! Und wir werden uns das wohl auch gefallen lassen müssen.«3

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1