Leseprobe

70 7. Zur Frage nach der Baumotivation und Nutzung der Kirche auch Plätze für Sängerchöre gegeben haben, denen bei einer Kirche, in der insbesondere Messen an den Heili- genfesttagen standfanden, eine besondere Bedeutung zugekommen sein wird.302 7.2 Die Marienkirche, eine typische Wallfahrtskirche? In der Literatur zur Marienkirche findet man häufig die Behauptung, dass die Architektur auf die Nutzung als Wallfahrtskirche schließen lasse.303 Genannt werden als charakteristische Merkmale die Empore, von der aus oder auf der das Marienbild präsentiert worden sei, die großen Eingangshallen, die vielen Treppenaufgänge sowie das breite Querschiff, durch das die Pilger durchgeschleust werden konnten. Die Frage nach der Existenz einer typi- schen Wallfahrtsarchitektur beschäftigt die Forschung immer wieder. Allein der Begriff »Wallfahrt« ist aber für das Mittelalter äußerst komplex und umstritten, was die Bestimmung einer spezifischen Architektur nicht einfa- cher macht. Um sich dieser Problematik zu nähern, ist es zunächst notwendig, sich mit der Bedeutung und Ver- wendung des Begriffs auseinanderzusetzen. Anhand der gesammelten Ergebnisse soll daraufhin überlegt werden, wie wahrscheinlich es ist, dass bereits um 1200 Wallfahr- ten zur Marienkirche stattgefunden haben. Im Anschluss soll der Frage nachgegangen werden, ob es generell eine bestimmte Pilger- oder Wallfahrtsarchitektur gegeben hat, um schlussendlich zu diskutieren, ob die Architektur der Marienkirche auf die Nutzung als Wallfahrtskirche ausgerichtet war. Sehr hilfreich waren für die Bearbeitung dieses Themas die Aufsatzsammlung von Hans Dünnin- ger,304 der sich sehr intensiv und kritisch mit demThema auseinandersetzte, und die Beiträge des Germanisten und Volkskundlers Wolfgang Brückner.305 7.2.1 Zur Bedeutung und Entwicklung von Wall- fahrten Der Begriff »Wallfahrt« wird in seiner ursprünglichen Bedeutung vom Verb »wallen« – Reise in die Fremde – abgeleitet.306 Er erscheint erst um 1300 in den Quellen und wird im Mittelhochdeutschen noch gleichbedeu- tend mit Pilgerfahrt benutzt.307 Auch heute werden die Begriffe in der Literatur meistens als Synonym verwen- det. So heißt es beispielsweise im Artikel zur Wallfahrt in der Theologischen Realenzyklopädie: »Seit dem 14. Jh. beschreibt der deutsche Begriff Wallfahrt – abgeleitet von wallen, dem Reisen in die Fremde – vor- nehmlich die religiös motivierte Reise zu einer heiligen Stätte, während sich der synonyme Begriff Pilgerfahrt (von lateinisch peregrinatio ) darüber hinaus auf das ganze menschliche Leben als Reise beziehen kann. Wallfahrt bezeichnet den individuellen oder kollektiven Besuch eines überregional bedeutenden Kultortes, der sich au- ßerhalb der eigenen heimatlichen Umgebung befindet. Im Glauben der Pilger zeichnet sich der Wallfahrtsort durch die Präsenz einer Gottheit, einer göttlichen Macht oder eines Heiligen oder Propheten als göttlichen Mittler aus.«308 Dünninger insistiert dagegen auf die Verschiedenheit der beiden Begriffe im heutigen deutschen Sprachraum.309 Mit Pilgern sei das fromme Wandern in die Ferne ge- meint und nicht immer habe der Pilger ein bestimmtes Ziel vor Augen, sondern die Reise selbst und die Suche nach Seelenheil sind antreibende Kraft.310 Die Wallfahrt zeichne sich dagegen dadurch aus, dass zu bestimmten Terminen, in regelmäßigen Zeitabständen, gemeinschaft- lich Prozessionen (meistens) zu Reliquien, Gräbern oder Bildern unternommen werden.311 Oftmals schlossen sich Menschen für das Wallfahren zu Genossenschaften oder Bruderschaften zusammen.312 Ein wesentlicher Unterschied zur Pilgerfahrt sei zudem, dass Wallfahrten auch zu einer nahegelegenen Stätte unternommen wer- den und eben nicht unbedingt das Verlassen der Heimat bedeuten, wie es in der zitierten Definition heißt. Nach 302  Auf die Bedeutung der Musik in der Liturgie kann hier nicht näher eingegangen werden. Es sei aber darauf hingewiesen, dass sich um 1200, ausgehend von der Kathedrale Notre-Dame in Paris, eine bedeutende Errungenschaft verbreitete, und zwar der mehrstimmige Chorgesang (Polyphonie). Diese Neuerung hatte auch Auswirkungen auf die liturgische Nutzung des Kirchenraums. Dazu ausführlich: Craig Wright, Music and Ceremony at Notre Dame of Paris. 500‒1550 (= Cambridge studies in music), Cambridge [u. a.] 1989. 303  Siehe dazu die Zusammenstellung der Zitate S. 7, Anm. 3. 304 Dünninger, Hans, Wallfahrt und Bilderkult: gesammelte Schriften, herausgegeben von Wolfgang Brückner, Würzburg 1995. 305  Insbesondere Brückner, Wolfgang, Zu Heiligenkult und Wall- fahrtswesen im 13. Jahrhundert. Einordnungsversuch der volksfrom- men Elisabeth-Verehrung in Marburg, in: Philipps-Universität Mar- burg (Hg.), Sankt Elisabeth. Fürstin, Dienerin, Heilige, Sigmaringen 1981, S. 117‒127. 306  Siehe Grimm 1922, Sp. 1301. 307  ImMittelhochdeutschen hat »wallen« die gleiche Bedeutung wie wandern, pilgern und wallfahrten. Siehe Lexer 1992, S. 306. 308 Körting 2003, S. 416 f.

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