Leseprobe

172 Sie, Herr Karlach, waren im Prager Verlag Odeon für das Programm der deutschsprachigen Literatur verantwortlich. Welche neuen Möglichkeiten gab es seit dem tschechoslowakischen Tauwetter, deutsche Autoren herauszubringen? Hanuš Karlach: Das geschah schon lange vorher, spätestens seit der Kafka-Konferenz 1963. Ich kann hier nicht alle Tricks der Verlage aufzählen, wie ver- sucht wurde, die Literatur, die konservative Kommu- nisten nicht schätzten, in Nach- oder Vorworte ein- zupacken, in dem zum Beispiel lügnerisch behauptet wurde, dass der und jener eigentlich ein progressiver Mensch sei und am Rand des Eintritts in die kommu- nistische Partei stehe. Das System hatte Lücken und Löcher und so war es möglich, dies und das in die Programme der Verlage einzuschmuggeln.  ❚  Mir war es 1967 gelungen, in Frankfurt am Main ein postgraduales Studium zu absolvieren. Achtundsech- zig war die Zensur weg. Wir konnten erstmals Blechtrommel von Günter Grass publizieren und freuten uns. Dann kamen die Panzer! Und danach kam die sogenannte »Normalisierung«. Die vernünf- tigen Kommunisten waren zum Schweigen verur- teilt. Die Voraussetzungen unter der Normalisierung lockerten sich nicht so rasch, wie sich die Verände- rungen in den 60er Jahren vollzogen hatten. Aber trotzdem! Von der deutschen Literatur konnten wir vor allem die Schöpfer verlegen, die nicht ganz koscher waren für die DDR. Nach zweijähriger Krankheit wurde ich Generalsekretär des tschechi- schen PEN-Clubs. Lassen Sie mich nun nach den Auslösern von ʼ68 fragen, nach den Aufbrüchen in Ost und West. Be- gründete sich Ihr Engagement aus der alters­ bedingten rebellischen Unzufriedenheit mit den Verhältnissen oder handelte es sich eher um ein Hin- arbeiten zu einer Utopie? Milan Horáček: Bei einem Stammtisch der Familie Havel haben wir uns auf die Formel geeinigt: Wer kann seinen Erinnerungen schon trauen! Die Erin- nerungen, gerade auch die schon 50 Jahre zurück- liegenden, sind doch überlagert von so vielen Neben- sächlichkeiten. Ich weiß auch nicht, ob das alles stimmte, was ich mitkriegte durch meine älteren Freunde.  ❚  Es ist schon so gewesen, wie von Herrn Karlach beschrieben: Achtundsechzig begann für uns junge Leute, die sich schon anderswo bewegt haben, vor ʼ68, und nicht nur mit der Kafka-Konferenz. Für mich war es die Musik. Wir bekamen schnell mit, dass es eine andere Welt gab außerhalb dieses großen Gefängnisses, in dem wir uns befanden. Okay, Jazz war einigermaßen genehmigt, die Filme der Neuen Welle schlugen durch, und auch in der tschechischen Literatur hat es schon vor ʼ68 viele Bücher gegeben, die an der Zensur vorbei geschmug- gelt worden waren.  ❚  Aber: Was bedeutet denn freie Presse? – Keine Zensur? Was heißt Menschen- recht? – Freiheit an sich? Und was ist Demokratie? – Interpretiert als demokratischer Zentralismus ... Und was ist ein »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«? Und gestatten Sie die Gegenfrage: Gibt es einen Kapitalismus mit »menschlichem Antlitz«?  ❚ Damals gab es jedenfalls für uns ein sehr helles halbes Jahr des Frühlings. Es war tatsächlich Früh- ling – mit allem Drum und Dran. Und dieser 21. Au- gust war auch so ein schöner Tag wie heute. Wegen des schönen Wetters arbeitete ich schon fünf Uhr morgens. Und dann kam der Meister, früher Profes- sor der Technik in Brünn, ein feiner Herr, mehrerer Sprachen mächtig. Er hat geweint, er hat geflucht. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Und er sagte: »Wir sind okkupiert.«  ❚  Die »Normalisierung« war so schlimm. Sie hat die Gesellschaft demoralisiert. War ʼ68 in Frankreich ein Versuch, davor zu flüch- ten, was gewesen war? Oder war es der Wille, etwas Utopisches aufzubauen? Alain Lance: Am Anfang ein Paradox. Bis Anfang Juli habe ich die Ereignisse in Frankreich aus 6000 Kilo- meter Entfernung in Teheran wahrgenommen. Am Beginn dieses Aufstands in Frankreich war ich be- geistert. Doch meine iranischen Freunde sagten: Moment mal, wir sprechen doch nicht von Revolu- tion, wenn nach zwei Wochen noch kein einziger Toter zu beklagen ist – das hat aber doch vor allem

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