Leseprobe

173 eine schöne ästhetische Eigenschaft. Und andere sagten: Ja aber, bist du nicht sicher, dass alles von der CIA gesteuert wird? Gleichzeitig gab es in Paris die ersten Gespräche zwischen den USA und Nord- vietnam. De Gaulle war damals bekannt für seine un- abhängige Politik. Er hatte in Phnom Penh eine be- rühmte Rede gehalten, in der eindeutig die amerika- nische Politik verurteilt wurde. Und die Freunde sag- ten: Geschieht ʼ68 nicht, um De Gaulle zu destabili- sieren? Durch Studenten, damit diese Gespräche scheitern?  ❚  Achtundsechzig in Frankreich ist doch nicht von allein gekommen. Ein Literaturkritiker sagte sogar, das Jahr 1966 sei ein entscheidendes Vorzeichen von ʼ68 gewesen. Im Mai 1966 gab es im Théâtre de lʼOdéon die Aufführung des antikolonia- listischen Stücks Die Wände ( Les paravents ) von Jean Genet, woraufhin Ultrarechte demonstrierten und das Theater stürmten; ich war bei der Gegende- monstration, um Jean Genet zu verteidigen. Es war das Jahr, in dem das »Comité National Vietnam« von Jean-Paul Sartre, Laurent Schwartz und anderen ge- gründet wurde, aus Solidarität mit jenen Amerika- nern, die gegen den Vietnam-Krieg protestierten. Und 1966 erschien in Straßburg auch eine anonyme Broschüre der »Internationale situationniste«: Über das Elend im Studentenmilieu, betrachtet unter seinen ökonomischen, politischen, sexuellen, besonders intel­ lektuellen Aspekten und über einige Mittel, diesen abzuhelfen . Schließlich wurde im Mai 1966 der Film von Jacques Rivette Suzanne Simonin, la religieuse de Diderot ( Die Nonne ) verboten – weil die Katholi- ken schockiert waren; erst im Jahr danach durfte der Film wieder gezeigt werden, aber nur für Zuschauer ab 18 Jahren! Also auch so ein Vorzeichen der Stu- dentenbewegung, eines von vielen.  ❚  Im Jahr 1967 kam es in Frankreich zu zahlreichen Streiks. Beson- ders bekannt wurde die monatelange Besetzung der Rhodiacéta Fabrik in Besançon, über die der Filme- macher Chris Marker den Dokumentarfilm A bientot j’espère ( Bis bald, hoffentlich ) drehte. Vor dem Hin- tergrund der Ereignisse konnte Georges Séguy, Chef der Gewerkschaft CGT (Confédération générale du travail), später sagen: Die Studentenbewegung war der Funke, aber es musste ein Pulverfass bereit sein, um zu explodieren.  ❚  Bemerkenswert an ʼ68 bleibt für mich die Mischung aus tumultösen, aufrühre­ rischen Aspekten in Verbindung mit konkreten Ansprüchen. Lassen Sie uns noch einmal auf die Akteure in Ost und West schauen. Gab es einen gemeinsamen Nenner unter den politischen Akteuren im Westen Deutschlands, Verbindendes trotz verschiedener Herkunft und Ausprägung des politischen Engage- ments? Holk Freytag: Für mich beginnt die politische Bewe- gung Anfang der 60er Jahre. Ein Motiv, das hier noch nicht genannt wurde, halte ich für den zentralen Aus- löser der westlichen 68er-Bewegung – die Auseinan- dersetzung mit dem Nationalsozialismus. Alle Wirt- schaftskapitäne, die das Wirtschaftswunder in West- deutschland bewirkt haben (mit Ausnahme von Bert­ hold Beitz), waren Nationalsozialisten; die meisten kamen aus demMinisterium von Speer; das gesamte Außenministerium war durchsetzt mit Nationalsozi- alisten. Der Auslöser des Auschwitz-Prozesses in der Bundesrepublik seit 1963 war nicht etwa der Wille zur Aufarbeitung, sondern wurde durch einen Versi- cherungsfall begründet, weil ein Opfer gegen eine Versicherung kämpfte und es keinen Rechtsnachfol- ger für das Dritte Reich gab. Die Hauptangeklagten Robert Mulka und Wilhelm Boger waren der Bun- desanwaltschaft seit den frühen 50er Jahren bestens bekannt.  ❚  Ich erinnere mich an ein Gefühl: Die 50er Jahre sind furchtbar; der Ton dieses Oberleh- rers Adenauer ging einem auf die Nerven (sein poli- tisches Verdienst muss man natürlich differenzier- ter würdigen). Da die 50er Jahre von Feten durch- zogen waren, fragten wir uns, mein Bruder und ich: Verdammt noch mal, was feiern wir eigentlich alles?  ❚  Zu einem denkwürdigen Erlebnis am Jah- reswechsel 1960/61 in New York wurde für uns ein Bericht meiner Mutter. Sie erzählte meinem Bruder und mir – unser Vater (Marineoffizier, Korvettenka- pitän am Kriegsende) war nicht dabei –, dass sie 1943 alles gewusst hat: Sie habe von Auschwitz gewusst;

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