Leseprobe

Stimmungslandschaften aus dem Norden 18 8 0 – 19 2 0 MITT SOM MER!

HERAUSGEGEBEN UND BEARBEITET VON ULRIKE WOLFF-THOMSEN MUSEUM KUNST DER WESTKÜSTE SANDSTEIN VERLAG

MITT SOM MER! Stimmungslandschaften aus dem Norden 1880–1920

Wir danken allen, die die Finanzierung dieses Ausstellungsprojektes ermöglicht haben: Dr. Ute und Volker Alt Yvonne und Ricco Bent Braucks Egbert von Brevern Dr. Andreas und Ulla Rittstieg Ulrike Sippel Dagmar und Utz Garbe Dr. Ingeborg Gonska und Prof. Dr. Bernd-Dieter Gonska Christa und Klaus Göttsche Silke Hertz-Eichenrode Gabriele und Andreas Hoff Dr. Hinrich und Marlehn Thieme A. Letschert - v. Zander Karin und Uwe Hollweg Stiftung Ministerium für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein W.D.R. Wyker Dampfschiffs-Reederei Föhr-Amrum GmbH Engel & Völkers Nospa Kulturstiftung Nordfriesland und weitere Freunde, Förderer & Mäzene sowie private Unterstützer*innen, die nicht namentlich genannt werden möchten.

6 VORWORT UND DANK ULRIKE WOLFF-THOMSEN 10 MITTSOMMER! STIMMUNGSLANDSCHAFTEN DES NORDENS 1880 – 1920 ULRIKE WOLFF-THOMSEN 16 EIN FEST DES LICHTS UND DER NATUR BERNDT ARELL 24 WERKE 119 BIOGRAFIEN UND WERKANALYSEN ULRIKE WOLFF-THOMSEN 176 IMPRESSUM INHALT

10 MITTSOMMER! Stimmungslandschaften des Nordens 1880–1920 ULRIKE WOLFF-THOMSEN Die nordischen Länder feiern den Mittsommer mit großen ausgelassenen Festen. In Norwegen und Dänemark wird am Vorabend des Johannistags, am 23. Juni, an den Stränden das Sankt-Hans-Feuer entzündet. In Schweden begeht man das Fest meist auf dem Land mit Tanz und Gesang, und auch in Finnland flammen Feuer auf Lichtungen und an den Küsten auf. Die Feierlichkeiten um Mittsommer ist ein wichtiger Teil der kulturellen Identität der nordischen Länder. Mehr als 70 eindrucksvolle Gemälde und Ölstudien, geschaffen von dänischen, norwegischen, schwedischen und finnischen Künstlerinnen und Künstlern, widmen sich thematisch dieser äußerst positiv konnotierten Jahreszeit. Das klare Licht an den langen Tagen und die sogenannten weißen Nächte fanden Eingang in den Motivschatz der Landschaftsmalerinnen und -maler – insbesondere im Zeitraum zwischen 1880 und 1920, als die moderne skandinavische und finnische Kunst eine Hochphase erlebte. Das Licht verleiht den Landschaften eine besondere Stimmung und spricht die Betrachterinnen und Betrachter emotional an. In Nordeuropa setzte nach 1860 ein großer Transformationsprozess ein, ausgelöst durch die Industrialisierung, wirtschaftliche Prosperität und höhere Mobilität infolge verbesserter Verkehrswege. Dies legte auch den Grundstein für einen intensiven gesellschaftlichen und künstlerischen Austausch – national wie international: Reisen und Studienaufenthalte befeuerten die Entwicklungsmöglichkeiten der skandinavischen und finnischen Malerinnen und Maler, ob die Ziele nun in Deutschland, Frankreich oder Italien lagen. Besonders Städte wie Paris, das damals als Welthauptstadt der Kunst galt, zogen Kunstschaffende an. Die französische Hauptstadt galt als Katalysator für neue künstlerische Positionen, war ein Zentrum des internationalen Austauschs, war Galerie-, Messe- und Handelsort, Austragungsstätte der Weltausstellungen 1867, 1878, 1889 und 1900 sowie eine Metropole, die in vielfacher Hinsicht für Innovation und Aufbruch stand. Zur Selbstfindung der Künstlerinnen und Künstler trug bei, dass sie in Folge der begrenzten Ausbildungsmöglichkeiten in ihren Heimatländern nach Frankreich reisten. Dort studierten sie an privaten Malschulen oder an den freien Akademien wie der Académie Julian oder der Académie Colarossi. Diese funktionierten nicht wie die staatliche École des Beaux-Arts oder die Kunsthochschulen in anderen Ländern. Es waren private Unternehmen, die ohne Aufnahmeprüfung besucht werden konnten, die kein striktes Curriculum forderten und somit den Studierenden andere Freiheiten boten. Nicht wenige Professoren der École unterrichteten auch dort. Peder Severin Krøyer, Laurits Tuxen, Helene Schjerfbeck, Edvard Munch und Prinz Eugen von Schweden studierten beispielsweise bei Historien- und Porträtmaler Léon Bonnat. Akseli Gallen-Kallela suchte die Académie Julian und die Académie Colarossi auf. Letztere wurde auch von Helene Schjerfbeck, Emilie Mundt, Elin Danielson-Gambogi, Nils Kreuger und Helmer Osslund besucht. Marie Triepcke, die spätere Ehefrau von Peder Severin Krøyer, wurde gemeinsam mit der Skagen-­ Malerin Anna Ancher von Pierre Puvis de Chavannes, der als Wegbereiter des Symbolismus gilt, unterrichtet. Reisen und Studienaufenthalte waren wichtig, um eine neue Perspektive auf das eigene Herkunftsland und die dortigen künstlerischen Entwicklungen zu gewinnen. So besaßen neben Paris auch München, Düsseldorf und Berlin, wie auch andere internationale Kunstzentren und Ausstellungsorte eine hohe Attraktivität. Nicht zu vergessen sind überdies die französischen Künstlerorte Grez-sur-Loing, Corncarneau und Pont-Aven, die etwa Elin Danielson-Gambogi, Gottfrid Kallstenius und Bruno Liljefors im Sommer für Freilichtstudien aufsuchten. Doch ihre Motive fand die Künstlerschaft in der Regel in der Heimat.

11 Die für die Ausstellung ausgewählten Gemälde und Ölstudien bekräftigen die Vorstellung vieler Mitteleuropäer vom Norden. Bereits in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war eine hohe Skandinavien-Begeisterung in Deutschland und in anderen europäischen Ländern entfacht worden. Die Werke waren ein wesentlicher Teil einer nationalen Identitätssuche, einer Suche, die dabei tatsächlich mehr Gemeinsames als Trennendes hervorbrachte, auch wenn die Voraussetzungen in den Ländern sehr unterschiedlich waren. Schweden und Dänemark verfügten über ein größeres nationales Selbstverständnis – trotz der territorialen Verluste, die das dänische Königreich im 19. Jahrhundert erlitten hatte. Finnland, das 1809 an das Kaiserreich Russland angegliedert worden war, konnte zwar Teile seiner Selbstständigkeit als Großfürstentum Finnland bewahren, rang jedoch noch bis 1917 um nationale Unabhängigkeit. Auch für Norwegen endete die seit 1814 bestehende Union mit Schweden erst 1905. Die Nationen Finnland und Norwegen nutzten die Kunst in besonderem Maße als Ausdruck nationaler Identität, stärker noch als ihre skandinavischen Nachbarn. Die vier Länder einte ein früher Parlamentarismus, der protestantische Glaube und die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Sprachfamilie. Denn auch in Finnland, wo das Finnische erst 1863 offizielle Anerkennung erhalten hatte, blieb das Schwedische bis ins 20. Jahrhundert die Sprache der Gebildeten. Die Künstlerinnen und Künstler suchten in der Landschaftsmalerei nach Ausdrucksmitteln für die Eigenheiten und Gefühlslagen ihrer Herkunftsländer. Mehrheitlich lehnten sie akademische Regeln ab und strebten eine Befreiung von künstlerischen und gesellschaftlichen Zwängen an. Die Reformierung und Modernisierung des Ausbildungs- und Ausstellungswesens wurde besonders durch die 1885 gegründete schwedische Künstlergruppe Opponenterna vorangetrieben. Bereits ein Jahr später ging aus ihr der Konstnärsforbundet, der schwedische Künstlerbund, hervor. Ihm schlossen sich Maler wie Nils Kreuger, Bruno Liljefors, Carl Wilhelm Wilhelmson und für kurze Zeit auch Helmer Osslund an. Als Glücksfall darf sicherlich bezeichnet werden, dass Prinz Eugen, der jüngste Sohn des späteren Königspaars Oscar II. und Sophia von Schweden, nicht nur eigene künstlerische Ziele verfolgte, sondern als Ehrenmitglied der Königlich Schwedischen Akademie und Mitglied des nationalen Ankaufsausschusses Einfluss auf die nationale Kunstentwicklung nehmen konnte. Gerade seine Wertschätzung für die zeitgenössische Kunst war sehr förderlich für seine Künstlerfreunde, darunter Per Ekström, Niels Kreuger, Bruno Liljefors und Herman Norrman. Deren Werke erwarb er auch in größerem Umfang für seine eigene Sammlung, die zu einer der größten in Privatbesitz befindlichen Kunstsammlungen Schwedens werden sollte. Die neue Wahrnehmung der Natur wurde zur Quelle eines neuen, vitalistischen Lebensgefühls. Realismus und Naturalismus galten als neue künstlerische Programme – als eine an der Wirklichkeit orientierte, dennoch teilweise subjektive Wahrnehmung der eigenen Zeit, visualisiert mit den Möglichkeiten der Pleinairmalerei. Schwedische Künstler wie Alfred Bergström und Per Ekström vertraten eine nationalromantische Richtung. Sie favorisierten eine leicht stilisierte, dekorativ wirkende Darstellung monumentaler Landschaften, die oft in ein mildes Dämmerlicht getaucht sind und lokale Bezüge erkennen lassen. Es war übrigens ihr Künstlerkollege Richard Bergh, der 1896 den Begriff der Stimmungslandschaft und des Stimmungsbildes geprägt haben soll. Die Kunst seines Landsmannes Bruno Liljefors zeichnet sich demgegenüber durch kühne Kompositionen und Bildausschnitte aus. Als präzise Beobachtung der Tier- und Pflanzenwelt entfalten seine Werke eine fast naturmystische Kraft. Eine andere Entwicklung nahm Nils Kreuger: Seine Gemälde, die von innen zu leuchten scheinen, bezeugen seine intensive Auseinandersetzung mit dem französischen Impressionismus. Sein langjähriger Aufenthalt in Paris hinterließ offensichtlich deutliche Spuren in seinem Œuvre. Neben naturalistischen und impressionistischen Tendenzen spielt auch der Symbolismus – insbesondere in der finnischen Kunst – eine wichtige Rolle. Beispielhaft steht hierfür das monumentale Gemälde Der Jüngling und die Meerjungfrau von Albert Edelfelt, der bestrebt war, eine finnische Nationalkunst zu etablieren und selbst wiederum großen Einfluss auf seine Künstlerkollegen ausübte. Besonders empfänglich für diesen Ansatz war Axel Gallén, der sich seit circa 1907 nur mehr Akseli Gallen-Kallela nannte. Das Nationalepos Kalevala hatte für die finnische Identitätsbildung große Bedeutung, wurde es doch gewissermaßen als Entwurf einer künftigen Nation für das 20. Jahrhundert gelesen. Gallen-Kallelas Werke in der Ausstellung rekurrieren nicht direkt auf das Kalevala, sondern verleihen auf andere Weise seiner großen Heimatliebe Ausdruck. In diesem Kontext ist sprechend, dass

16 EIN FEST DES LICHTS UND DER NATUR Die alten nordischen Sagen und Legenden beschwören die enge Verbundenheit des Menschen mit der ihn umgebenden Natur. Die mythischen Erzählungen scheinen den Jahreszyklen auf logische Weise zu folgen und dabei wechselnd den dunklen und hellen Jahreszeiten zu entsprechen. Die finsteren, teils sonnenlosen Tage zwischen der Herbst- und der Frühlingstagundnachtgleiche können als sehr bedrohlich empfunden werden. Doch auch die übrigen Wendepunkte im Jahreslauf sind mit bestimmten Riten und Mythen oder Formen des Aberglaubens verknüpft. Die aktuelle Ausstellung widmet sich dem scheinbar lebensbejahendsten und freudvollsten Tag des Jahres: dem Mittsommer. An diesem Tag fällt es leicht, sich eine Welt vorzustellen, in der alles positiv erscheint, und in der sich alle Sehnsüchte und Wünsche um die nie untergehende Sonne versammeln. Diese verkörpert das Leben selbst, nährt die Hoffnung und weist den Weg in eine strahlende Zukunft. Doch dies ist nur eine Perspektive. Eine beeindruckende Vielfalt von Mythen, Riten, abergläubischen Ideen und magischen Vorstellungen umgibt den nordischen Mittsommer. Sie können sowohl hoffnungsvoll positiv als auch beängstigend düster wirken. Viele dieser Ideen leben bis heute in dem, was wir Folklore nennen. Ob man nun an sie glaubt oder nicht – sie sind weiterhin ein selbstverständlicher Teil der Mittsommerfeiern in den nordischen Ländern. In einem ihrer ersten Bücher über die Mumins ließ die finnische Schriftstellerin Tove Jansson die Trolle einen echten nordischen Mittsommer erleben – mit allem, was dazugehört. Das Buch erschien 1954 auf Schwedisch unter dem Titel Farlig midsommar (Gefährlicher Mittsommer). Die deutschsprachige Version aus demselben Jahr trägt den Titel Sturm im Mumintal – vermutlich, weil der Begriff »Mittsommer« im deutschen Sprachraum damals (und vielleicht heute noch) weniger geläufig war. Sturm im Mumintal gilt allgemein als das wildeste, aufregendste und fröhlichste aller Mumin-Bücher. Die Geschichte enthält alles: Verschwinden, Abenteuer, Horror und Theater. All das trägt sich im Juni zu, in einem Monat, in dem die noch recht kühlen Nächte kaum von Dunkelheit berührt werden. Jansson beschreibt diese Nächte als zart, verträumt und voller Magie. Einer der ältesten Riten ist das Aufstellen eines Mittsommermastes, eines Fahnenmasts, den die jungen Frauen der Gegend mit den schönsten Blumen und dem leuchtend grünen Blattwerk des Frühsommers schmücken. Nachdem der am Boden liegenden Mast festlich dekoriert ist, wird er von den jungen Männern des Dorfes in einer feierlichen und gut organisierten Zeremonie aufgerichtet. BERNDT ARELL

17 Illustration aus Sturm im Mumintal Tove Jansson / 1954 Es wird allgemein angenommen, dass diese Sitte auf die Fruchtbarkeitsrituale der nordischen Wikinger zurückgeht sowie auf den Kult um die Fruchtbarkeitsgöttin Freya/Frö. Der Tanz um den Mittsommerpfahl, an dem das ganze Dorf teilnimmt, ist demnach – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Anblick für die Götter. In Schweden wird er von einer Vielzahl lebhafter Bräuche begleitet, bei denen mehrere Generationen gemeinsam tanzen. Ein schwedisches Mittsommerfest ohne das bekannte Kinderlied Små frogs (Die kleinen Frösche) und die überlieferten Tänze ist nicht vorstellbar. Dabei tragen die meisten Festteilnehmer entweder traditionelle Trachten oder leichte Sommerkleidung. Ebenso darf das Mittsommerfeuer nicht fehlen. Auch dieser Brauch ist uralt. Das Feuer wird rituell entzündet, sobald die Dämmerung einsetzt oder das wenige Licht des Tages langsam schwindet. Seine Flammen sollen böse Geister und andere unheilvolle Kräfte in der dunklen Nacht vertreiben. Mittsommerfeuer gibt es in allen nordischen Ländern. In Westskandinavien heißen sie heute Sankt Hans – benannt nach Johannes dem Täufer, dessen Feiertag mit dem Mittsommer zusammenfällt. Die Ursprünge des Rituals reichen jedoch vermutlich bis in vorchristliche Zeiten zurück. Ein ganz besonderes Erlebnis ist es, die Hunderte von Feuern zu sehen, die in der Mittsommernacht in den Dörfern und auf den Höfen entzündet werden. Sie erscheinen wie flackernde Lichtpunkte, verstreut über die weite Landschaft einer dämmernden Sommernacht. Doch nicht nur auf dem Land wird dieser Brauch begangen. Auch im Zentrum Stockholms, am Ufer der Riddarholmen, veranstaltet die Stadt ein beliebtes Mittsommerfeuer, das weither sichtbar ist. Auch Tove Jansson lässt in ihrem Buch die kleinen, fast unsichtbaren Wichtel für das Mittsommerfeuer sorgen (Abb. unten). Die Ameisen des Waldes haben aus den Nadeln der Bäume ein Feuer entfacht. Sie werden dabei von weiteren kleinen Wesen unterstützt, die eifrig Tannenzapfen und andere brennbare Dinge in das lodernde Feuer rollen. – Ein klassischer nordischer Mittsommer.

18 Mittsommertanz / Anders Zorn / 1897 Eine weitere uralte Tradition, die bis heute lebendig geblieben ist und die Jansson ebenso aufgreift (Abb. oben), besteht darin, dass junge Frauen in der Mittsommernacht in völliger Stille neun Mittsommerblumen pflücken und sie unter ihr Kopfkissen legen – in der Hoffnung, in ihren Träumen ihren zukünftigen Ehemann zu sehen. Es existieren zahlreiche Varianten dieser Blumenrituale. Wohl bekannt sind auch die Blumenkränze, die Frauen und Mädchen zur Mittsommernacht tragen. Ein schöner, romantischer Aberglaube erzählt zudem: Wenn ein Mädchen in der Mittsommernacht in einen Brunnen blickt, soll es im Wasserspiegel des Brunnens das Bild ihres zukünftigen Ehemanns erkennen. Wichtig ist es in jedem Fall, dass man ein einmal begonnenes Mittsommerritual ohne Unterbrechung vollendet – sonst, so heißt es, kann alles Mögliche geschehen. Tove Janssons entzückendes Buch über den nordischen Mittsommer war das erste ihrer Werke, das verfilmt wurde. 1959 produzierte die Augsburger Puppenkiste eine zwölfteilige Puppen-Verfilmung unter dem ursprünglichen Titel Sturm im Mumintal. Leider ist kein Filmmaterial erhalten geblieben, wohl aber eine schöne Serie farbiger Standbilder. Diese deutsche Interpretation des nordischen Mittsommers wäre heute ein schöner Anblick gewesen. Ein ikonisches schwedisches Gemälde ist Anders Zorns Mittsommertanz (Stockholm, Nationalmuseum) (Abb. rechts). Er malte es 1897 in seiner Heimatregion Dalarna, die als Inbegriff ursprünglicher schwedischer Landschaft gilt. Eine weitere Fassung aus der gleichen Zeit befindet sich im Puschkin-Museum in Moskau; 1903 entstand zudem eine weitere Version für einen amerikanischen Sammler. Mittsommertanz gehört zu den berühmtesten Werken des Künstlers. Die Szene des Bildes ist gut entschlüsselt. Es zeigt einen lebhaften Volkstanz, bei dem die Teilnehmer in Volkstrachten gekleidet sind. Im Hintergrund der Komposition steht der Mittsommerpfahl, der mit Kränzen und Fahnen geschmückt ist. Dass das Motiv mit Sicherheit in einer Mittsommernacht zu verorten ist, bestätigt der Künstler selbst. Die warmen Strahlen der aufgehenden Sonne reflektieren im Giebel des roten Bauernhauses. Ein Gemälde, schwedischer könnte es kaum sein. Illustration aus Sturm im Mumintal Tove Jansson / 1954

19

36 PEDER SEVERIN KRØYER Mondlandschaft am Strand von Skagen / 1904

37 ANNA ANCHER Mondklarer Abend am Leuchtfeuer von Skagen / 1904

46 VIGGO JOHANSEN Aufgelandete Boote am Strand von Skagen bei niedrigstehender Sonne / 1890

47 MICHAEL PETER ANCHER Vier Fischer am Strand von Skagen / 1912

52 VIGGO JOHANSEN Blick vom Strand in Skagen / undatiert

53 MICHAEL PETER ANCHER Junge Frau winkend am Strand / undatiert

70 MICHAEL PETER ANCHER Sonnenuntergang auf Skagen / undatiert

71 CARL LOCHER Blick von der Küste bei Skagen bei Sonnenuntergang / 1902

78 BRUNO LILJEFORS Schwäne / undatiert

79 PEDER SEVERIN KRØYER Dünenlandschaft bei der alten Kirche von Skagen. Graues Wetter / 1893

80 EDVARD MUNCH Landschaft mit Frau und Kind / 1881

81 EDVARD MUNCH Landschaft in Vestre Aker / 1882

82 GOTTFRID KALLSTENIUS Mädchen auf einer Sommerwiese / 1886

83 ELIN DANIELSON-GAMBOGI Dame mit rotem Sonnenschirm / 1888

86 JOHAN KROUTHÉN Gartenszene mit Kindern / 1912

87 JOHAN KROUTHÉN Gartenidylle mit blühenden Apfelbäumen / 1916

88 ELIN DANIELSON-GAMBOGI Der Olivengarten / 1896

89 HELENE SCHJERFBECK Moosglöckchen am Waldhang / 1886

94 BRUNO LILJEFORS Kiefernstämme / 1894

95 AKSELI GALLEN-KALLELA Blick auf den See (Mänttä) / 1889

122 ANCHER ANNA ANCHER, geb. als Anna Kirstine Brøndum Skagen/DK 1859 —1935 Skagen/DK Anna Ancher war die einzige unter den Skagen-Malern, die in Skagen geboren und aufgewachsen ist. Im Gasthaus ihrer Eltern logierten und feierten viele der Skagen-Künstler. So kam sie früh in Berührung mit deren Kunst. Da ihr als Frau ein Kunststudium an der Kopenhagener Kunstakademie versagt war, erteilte ihr zunächst Karl Madsen in Skagen Unterricht im Zeichnen und Malen. Drei Winter lang, von 1875/76 bis 1877/78, besuchte sie im Anschluss Vilhelm Kyhns Malschule für Frauen in Kopenhagen. Die Winter verbrachte sie in der dänischen Hauptstadt, die Sommer in Skagen. Bereits im Alter von 14 Jahren hatte sie ihren späteren Ehemann, den Skagen-Maler Michael Ancher (s. d.), kennengelernt, mit dem sie sich 1878 verlobte; die Ehe wurde 1880 geschlossen. Im selben Jahr debütierte sie auf der Frühjahrsausstellung in Schloss Charlottenborg und wurde schnell als erfolgreiche Künstlerin anerkannt. 1883 wurde ihre Tochter, die spätere Skagen-Malerin Helga Ancher, geboren. 1888/89 studierte sie zusammen mit Marie Triepcke (s. d.), der späteren Ehefrau von Peder Severin Krøyer (s. d.), im Pariser Atelier von Pierre Puvis de Chavannes. 1889 besuchte sie auch die Pariser Weltausstellung. Da sie nicht nach dem akademischen Kanon unterrichtet worden war, konnte sie sich von Beginn an freieren und fortschrittlicheren modernen Themen stellen und sich früh impressionistischen Strömungen öffnen. Christian Krohgs starker Kolorismus und Krøyers Lichtmalerei beeinflussten sie sehr. So wurden Licht und Farbe auch bei ihr zu Trägern ihrer Kunst und sie erreichte eine große koloristische Meisterschaft. Ihr Motivspektrum kreiste um die Skagener Lebenswelt, besonders die der Frauen und Kinder. Sie gilt als eine der modernsten Malerinnen ihrer Zeit; ihre besonders nach 1900 geschaffenen Werke spiegeln einen zunehmenden Abstraktionsprozess wider. Lit.: Kat. Anna Ancher. Statens Museum for Kunst/Skagens Museum/Lillehammer Kunstmuseum, Odder 2020; Kat. Anna Ancher. Sonne Licht Skagen, hg. von Ulrike Wolff-Thomsen, Köln 2022. Sommerabend, undatiert bez. u. r.: A. Ancher / Öl auf Leinwand / 40 × 60 cm Sammlung Familie Fielmann Abb. S. 49 Anna Ancher bietet mit der jungen Frau in Rückansicht eine Bildfigur an, in die sich der Betrachter hineinversetzen kann. Wie diese möchte man die Ruhe, von der die flache Skagener Heidelandschaft im milden abendlichen Licht erfüllt ist, genießen. Das breite Bildformat und die Farbgebung unterstützen die Wirkung. Ursprünglich hatte Ancher eine zweite, männliche Figur vorgesehen, die der jungen Frau am Zaun gegenüberstand und sie anblickte. Mit diesem Verzicht hat sich die Bildaussage gänzlich verändert.

123 Mondklarer Abend am Leuchtfeuer von Skagen, 1904 bez. u. r.: a. a. 1904 / Öl auf Holz / 23 × 28 cm Museum Kunst der Westküste Abb. S. 37 Die Künstlerin weicht mit Mondklarer Abend am Leuchtfeuer von Skagen von ihren sonst bevorzugten Genrethemen ab. Mit reduzierter Formensprache und klarer Farbpalette hat sie einen Ausblick auf Skagen Grå Fyr, den grauen Leuchtturm, und dessen Nebengebäude bei Vollmond festgehalten. Himmel und Landschaft grenzen in deutlich differenzierten Farbfeldern aneinander. Das Grün einer Wiese im Vordergrund trifft auf warmes Gelb von gemähtem Heu und geht dann zu den roten Ziegeldächern der Häuser über, bevor es mit dem leuchtenden Blau des hellen Nachthimmels kontrastiert. Zentral darüber thront der große Mond, der nächtlichen Szene eine fast unnatürliche Leuchtkraft gebend. Mit geradlinigen horizontalen und vertikalen Pinselstrichen betont Ancher die Aufteilung in Farbfelder. Sie gibt ihrem Werk damit eine geometrische Strenge und zeigt einmal mehr, dass sie in ihrer Modernität und Farbverwendung ihren Skagener Malerkollegen voraus war. Interieur mit lesender Frau, 1912 bez.: A. Ancher 1912 / Öl auf Malkarton / 23 × 40 cm Sammlung Familie Fielmann Abb. S. 84 Wie auch das Werk Blick über den Kattegat von Michael Ancher, war diese bezaubernde Studie ehemals im Besitz der königlichen Familie und beheimatet in deren Skagener Sommersitz Klitgaarden. Anna Ancher hat vielfach ihre, ihr sehr nahestehende Mutter porträtiert – hier nun in einem enggeführten Bildausschnitt in der von vollem Sonnenlicht erfassten blauen Stube. Die mittlerweile 86-jährige Ane Brøndum vertieft sich in die Lektüre eines auf ihrem Schoss liegenden Buchs; es ist vermutlich die Bibel, die sie gerne zur Hand nahm. Intensiv dringt das Sonnenlicht durch das rückwärtige Sprossenfenster ein und entfacht ein Licht- und Farbfeuer. Mit weichem pastosem Duktus hat Ancher die Lichtflecken auf der Fenstergewandung, auf dem weißen Tuch des kleinen Tischchens und auf der Haube und Kleidung der alten Dame gesetzt. Es entwickelt sich ein spannungsreiches Kolorit durch sich gewissermaßen beißende Farben wie das helle Violett des Kleids und des Usambaraveilchens und dem Rot der Geranien, die auf dem Fensterbrett stehen. Anna Ancher verstand es, Farben mit großer Kühnheit und Virtuosität einzusetzen. Blick auf den Markvej, undatiert bez. u. r.: A. Ancher / Öl auf Leinwand / 31× 22 cm Sammlung Familie Fielmann Abb. S. 85 Auch das äußere Umfeld des Wohnhauses der Familie Ancher geriet immer wieder in ihren Blick. In dem hochrechteckigen Format lässt das dunkelgrüne Laubwerk mit leuchtenden weißen und roten Blüten den Außenraum, der in vollem Sonnenlicht liegt, noch leuchtender erstrahlen. In hellen Pastelltönen sind das weiße Gartentor und die den Markvej säumenden Gebäude ausgeführt worden. Das Werk ist ein ausgezeichnetes Beispiel für das Vermögen Anna Anchers, Licht und Farbe Autonomie zuzusprechen.

124 MICHAEL PETER ANCHER Bornholm/DK 1849 —1927 Skagen/DK Michael Ancher, 1849 auf Bornholm geboren, hatte seit 1870/71 zunächst Rechtswissenschaft studiert und die Zeichenschule von C. V. Nielsen in Kopenhagen besucht. Noch während seines Studiums an der Kopenhagener Kunstakademie debütierte er 1874 auf der Charlottenborger Frühjahrsausstellung. Im selben Jahr reiste er zum ersten Mal nach Skagen, im darauffolgenden Jahr in Begleitung von Karl Madsen, Viggo Johansen (s. d.) und Laurits Tuxen (s. d.), die ebenso Skagen-Maler wurden. In Skagen lernte er die Malerin Anna Ancher, geb. Brøndum (s. d.), kennen, die er 1880 heiratete. Im selben Jahr wurden auch die Ehen von Karl Madsen und Annas Cousine Henriette sowie von Viggo Johansen und Annas Cousine Martha geschlossen. Nur Anna und Michael Ancher lebten ganzjährig in Skagen. 1880 feierte Michael Ancher, der 1875 ohne Abschluss die Kopenhagener Akademie verlassen hatte, seinen künstlerischen Durchbruch auf der Charlottenborg-Ausstellung mit dem Werk Wird er es schaffen, die Landspitze zu umrunden (Skagens Museum). Drei Jahre später, im Jahr 1883, wurde Helga Ancher, das einzige Kind des Künstlerpaares geboren; auch sie wurde Malerin. Zunächst konzentrierte sich Michael Ancher auf realistische Genreszenen und monumentale Figurenkompositionen aus dem Motivkreis der Skagener Fischer. Unter dem Einfluss seiner Frau, die sich früher als er den modernen, am Impressionismus orientierten Strömungen zugewandt hatte, und unter dem Eindruck von Peder Severin Krøyer (s. d.), den er anfänglich als Konkurrent ansah, hellte sich in den späteren Jahren Michael Anchers Farbpalette auf und seine Malweise wurde freier und pastoser. Als einer der Hauptvertreter der Skagener Künstlerkolonie gilt er als Bindeglied zwischen den traditionsgebundenen Bildkompositionen und dem sogenannten Durchbruch der Moderne (»det moderne gennembrud«) in den 1880er-Jahren. Er verstarb 1927. Ancher war Mitinitiator des 1908 gegründeten Skagen-Museums; das Wohnhaus seiner Familie wurde von seiner Tochter in die Museumsstiftung eingebracht und kann, ebenso wie das Museum, besucht werden. Lit.: Kat. Michael Ancher. Maler in Skagen 1849–1999, Text: Elisabeth Fabritius, Altonaer Museum in Hamburg, Skagen 1999; Claus Jacobsen: Michael Ancher, København 2003. ANCHER

125 Heide bei Skagen, undatiert bez. u. r.: m a / Öl auf Leinwand / 28 × 39,5 cm Museum Kunst der Westküste Abb. S. 48 Skagen steht nicht nur für das Aufeinandertreffen von Nord- und Ostsee, nicht nur für kilometerlange Strände und eine spektakuläre Dünenlandschaft, sondern auch für ausgedehnte Heideflächen. In seinen Ölstudien verleiht Michael Ancher der Heide, einem scheinbar weniger eindrucksvollen Naturraum, Bildwürde. Die kleinformatigen Landschaftsstudien fangen die direkten Natureindrücke vor Ort ein. Das reduzierte erdige Kolorit ermöglicht eine Inszenierung der summarisch erfassten braun-violetten Heideflächen, die sich unter einem warm getönten, orangegelb gefärbten Himmel zur Zeit der Dämmerung erstrecken. Wie in anderen Landschaftsstudien des Malers erscheint auch diese Darstellung als eigenständiges Bildsujet ohne weitere Staffagen. So kann der Blick ungehindert über die Weite der Landschaft bis zu den sanft angedeuteten Dünen am Horizont schweifen. Es offenbart sich Anchers Sehnsucht nach einer Naturverbundenheit fernab der entbehrungsreichen Lebensrealität der Skagener Bevölkerung. Sonnenuntergang auf Skagen, undatiert bez. u. r.: m. a. / Öl auf Holz / 19 × 28 cm Museum Kunst der Westküste Abb. S. 70 Neben den großformatigen Figurenkompositionen von Michael Ancher entstehen um 1900 ebenso zahlreiche kleinformatige Stimmungsbilder, welche den Besonderheiten der Skagener Landschaft gewidmet sind. Die atmosphärisch aufgeladenen Studien, die plein air, also der französischen Tendenz folgend, unter freiem Himmel angefertigt werden, zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung und tiefen Verbundenheit des Künstlers mit seinem außergewöhnlichen Lebensort. Anchers Sonnenuntergang auf Skagen steht farblich noch in der Tradition seiner früheren Arbeiten, in denen er sich, den Einflüssen der Schule von Barbizon folgend, auf eine erdig-warme Tonalität konzentriert. Die Heidelandschaft und die Silhouette Skagens am Horizont sind als braune Farbbahn in unteren Bildviertel erfasst. Der Himmel, der von einem schmalen dunklen Wolkenband durchzogen wird, flammt gleichsam durch die untergehende Sonne, die sich hinter den Wolken verbirgt, in warmem, abendlichem Licht auf. Interieur mit junger Frau, undatiert bez. u.r.: ma / Öl auf Malpappe / 32 × 24 cm Sammlung Familie Fielmann Abb. S. 69 Stimmungsmomente zu erfassen, beschränkt sich nicht allein auf die Landschaftsmalerei. Wie intensiv auch das sommerliche Licht einen Innenraum zum Leuchten bringen kann, vermittelt Anchers Interieur, das vermutlich im Wohnhaus der Familie in Skagen entstanden ist. Neben einem Empiresofa hat eine junge Frau in weißem Kleid auf einem Stuhl Platz genommen und stützt ihren rechten Arm auf der Sofakonsole ab, um gedankenvoll nach draußen zu blicken. Das Sprossenfenster selbst liegt außerhalb des Bildraums. Die weiß-pastell schimmernden Farbflächen auf der rückwärtigen Wand machen das einfallende Licht sichtbar. Anna Ancher hat das Motiv der Sonnenreflexion im Raum in ihren Werken noch stärker in den Fokus gerückt und sie zu einem autonomen Bildmotiv werden lassen. Michael Ancher entwickelte hingegen eine ausbalancierte Komposition mit gleichwertigen hellen und dunkleren Bildanteilen.

156 LOCHER CARL LOCHER Flensburg/DE 1851— 1915 Skagen/DK Carl Locher, in Flensburg als Sohn eines Schiffsporträtmalers geboren und in Kopenhagen aufgewachsen, führte nach dem Tod seines Vaters, der ihn auch anfänglich ausgebildet hatte, zunächst dessen Geschäfte fort. Früh unternahm er Reisen auf Schiffen der Königlich Dänischen Marine, so auch nach Dänisch-Westindien. Noch vor 1872, dem Jahr der Aufnahme seines Studiums an der dänischen Kunstakademie in Kopenhagen, das er vornehmlich bei den Marinemalern Carl Baagøe und Carl Neumann absolvierte, reiste er auf Anregung von Holger Drachmann nach Skagen. Bis 1875 war er dort regelmäßig im Sommer anzutreffen. In den Wintermonaten 1875/76, 1876/77 sowie 1878/79 studierte er in Paris vermutlich im Atelier von Léon Bonnat – er selbst bemerkte, dass für ihn das Studium von Seestücken im Louvre und im Musée national de la Marine in Paris wichtiger seien. Skagen wurde neben dem seeländischen Fischerort Hornbæk ein zentraler Arbeits- und Studienort. Neben der Malerei arbeitete er grafisch; er unterhielt eine eigene Radierschule in Kopenhagen. Die Voraussetzung hierfür hatte sein dreijähriges, vom dänischen Staat finanziertes Studium an der Berliner Kunstakademie bei Hans Meyer, Professor für Kupferstich, geboten. 1910, nachdem sich große wirtschaftliche Erfolge für ihn eingestellt hatten, erbaute er sich an Skagen Sønderstrand ein herrschaftliches Atelierhaus. Lit.: Voss, Knud: Die Maler des Lichts. Nordische Kunst auf Skagen, Weingarten 1995; Schmidt Hansen, Peter: Carl Locher, Birkerød 2010. Blick von der Küste bei Skagen bei Sonnenuntergang, 1902 bez. u. l.: Carl Locher, bez. u. r.: Skagen 1902 / Öl auf Leinwand / 28 × 42 cm Sammlung Familie Fielmann Abb. S. 73 Ruhige See am Hafen, undatiert bez. u. r.: C. Locher / Öl auf Holz / 23,5 × 33 cm Museum Kunst der Westküste Abb. S. 68 In seinen beiden kleinformatigen Seestücken erfasst Carl Locher das warme, abendliche Licht, das die Atmosphäre an den Küstenabschnitten bei spiegelglatter Meeresoberfläche erfüllt. Selbst auf den Segelbooten, die im Meer vor Anker liegen oder auf denen letzte Arbeiten vor beginnender Nacht verrichtet werden, scheint Stille eingekehrt zu sein. Die Werke strahlen eine große Ruhe aus – die kleinen Formate tun ein Übriges, um eine intime Zwiesprache mit dem Betrachter einzufordern.

157 Dünenlandschaft bei Skagen, undatiert bez. u. r.: C. Locher / Öl auf Malpappe, auf Leinwand aufgezogen / 28 × 48 cm Museum Kunst der Westküste Abb. S. 75 In Dünenlandschaft bei Skagen richtet Locher den Fokus auf die imposanten Skagener Dünen. Als einziges zivilisatorisches Zeugnis hilft das am rechten Bildrand liegende Holzwrack, die Monumentalität der bis zu 30 Meter hochaufragenden Dünen zu erfassen. Die wenigen weißen Wolken, die am hellblauen, sommerlichen Himmel aufziehen, verursachen ein lebendiges Licht-Schattenspiel im Sand am Dünensaum. Locher stellt sich der Herausforderung, die grellen Lichtverhältnissen, wahrscheinlich zur Mittagszeit bei sehr hochstehender Sonne, einer blendend hellen Landschaft zu visualisieren und ihr zugleich Kontur und Plastizität zu verleihen. Im Rückblick schreibt er selbst über die Anfänge der Skagener Künstlerkolonie: »Wir hatten keine Theorien, wußten eigentlich nicht, was Kunst war, denn wir hatten ja fast noch nichts gesehen. Ancher, Carl Madsen, […] Tuxen und mehrere andere waren auch nachgekommen. Wir malten den ganzen Tag in Sonne, Regen und Sturm. Wir malten, was wir sahen und so, wie die Dinge zu uns sprachen – es kommt mir jetzt vor, als hätten wir nie wieder so gut gemalt.« (Voss 1995, S. 33.) Genau diese Arbeitsweise und die naturalistische Auffassung erkennen wir in dieser Dünenlandschaft: Das zu malen, was man sieht, ist hier zu Lochers Maxime geworden. Die lockere, deutlich ablesbare Pinselschrift und die akzentuiert gesetzten Formulierungen der Vegetation sprechen, neben dem relativ handlichen Format, für eine unmittelbare Umsetzung des Motivs direkt am Strand. Es ist nicht viel Fantasie vonnöten, sich den dänischen Künstler mit Strohhut, Staffelei und Farbpalette bei strahlendem Sonnenschein am Skagener Strand vorzustellen. MUNCH EDVARD MUNCH Loten, Hedmark/NOR 1863—1944 Ekely/NOR Seit 1864 in Christiania aufgewachsen, wurde Munchs Kindheit vom frühen Tod seiner Mutter (1868) und dem seiner älteren Schwester (1877) sowie von der depressiven Veranlagung seines Vaters überschattet. Er selbst litt oftmals unter rheumatischem Fieber. Von 1880 bis 1882 besuchte er die Königliche Zeichenschule. Mit anderen Künstlern unterhielt er eine Ateliergemeinschaft; Christian Krohg, der im selben Haus wohnte, führte ihn in die Christiania-Bohème um den umstrittenen Schriftsteller Hans Jæger ein und erteilte ihm Unterricht. 1883 besuchte Munch die Freilichtakademie seines Cousins Frits Thaulow in Modum. Sein Ausstellungsdebüt feierte er 1883. 1885, nach seinem Paris-Aufenthalt, entfremdete er sich zunehmend von der naturalistischen Malweise, die sein Frühwerk bestimmt hatte. 1886 entstanden seine ersten ikonischen Werke wie Das kranke Kind, Pubertät und Der Tag danach. In den späteren 1880er- Jahren werden seine Farb- und Formgebung immer mehr zum Ausdrucksträger von Stimmungen. Während seines Aufenthalts in Paris von 1889 bis 1892, wo er die Kunstschule von Léon Bonnat besuchte, setzte er sich mit der Kunst von Paul Gauguin und Vincent van Gogh auseinander. Seine Themen kreisten vielfach um Liebe, Angst und Tod. Eine Einzelausstellung, die im Herbst 1892 in Berlin auf Einladung des Vereins der Berliner Künstler zustande kam, wurde nach nur

158 Fischer am Wasser, 1881 unbez. / Öl auf Karton / 18 × 25 cm Museum Kunst der Westküste Abb. S.100 Ein Jahr nach seinem Entschluss, sein Ingenieurstudium aufzugeben und Maler zu werden, entstand diese kleine Arbeit, die zu Munchs frühesten Ölgemälden zählt. Er beobachtete einen Fischer in Profilansicht, der am Ufer eines Fjords angelt und seinen Blick auf das Wasser richtet. An die mit Steinen besetzte Landzunge im Vordergrund schließt sich in der linken Bildhälfte eine Gruppe junger Fichten und Birken in hellgrünem Laub an. Im Hintergrund zieht sich ein dichter Wald entlang des Ufers. Hervorgerufen durch die Spiegelung der dunklen Bäume auf der glatten Gewässeroberfläche nimmt der Betrachter erst im zweiten Moment ein kleines Holzboot mit zwei Personen wahr. Das Gemälde, das charakteristisch für Munchs frühe naturalistische Phase ist, besticht durch einen frischen Farbklang und ein ausgewogenes Kolorit. Munchs Schwester Inger vermutet, dass ihr Bruder das Werk in der Nähe von Sandvika (heute ein Stadtteil von Oslo) am Oslofjord geschaffen habe. einer Woche geschlossen. Der dadurch ausgelöste Skandal, den Munch strategisch für sich zu nutzen verstand, begründete seinen künstlerischen Durchbruch in Deutschland. 1893 schloss er sich dem Berliner Bohèmekreis »Zum Schwarzen Ferkel« an, dem August Strindberg, Julius Meier-Graefe, Stanislaw Przybyszewski und andere angehörten. Im selben Jahr entstand die erste Fassung seines wohl berühmtesten Gemäldes Der Schrei. 1895, 1896 und 1897 kam er auf weiteren Paris-Reisen mit der Kunst von Henri de Toulouse-Lautrec, Pierre Bonnard und Paul Vuillard in Berührung. Im Sommer 1897 erwarb er ein einfaches Fischerhaus in Åsgårdstrand mit Blick auf den Oslofjord – dort lernte er 1898 seine Geliebte Tulla Larsen kennen. Ihre Beziehung endete 1902 tragisch; er verlor nach einem selbst ausgelösten Schuss ein Fingerglied seiner linken Hand. Seine Beziehungen zu Frauen waren stets höchst kompliziert – keine verlief glücklich. Nach Åsgårdstrand kehrte er über 20 Jahre lang fast jeden Sommer zurück. 1899 entstand seine erste Fassung von Mädchen auf der Brücke. Viele wichtige Ausstellungsorte (unter anderem Paris, Wien, Berlin, Venedig) zeigten seine Werke. 1908 begab er sich nach einem Nervenzusammenbruch und exzessivem Alkoholkonsum in die Kopenhagener Nervenklinik von Dr. Daniel Jacobsen; der sechsmonatige Aufenthalt führte zu lebenslanger Abstinenz und zu intensiver kreativer Arbeit. Von 1913 bis 1916 besaß er das Gut Grimsrød auf Jeløya/ Oslofjord. Die letzten Jahrzehnte seines Lebens bewohnte er das Anwesen Ekely in Aker bei Oslo. Munch, heute einer der berühmtesten norwegischen Künstler, vermochte es, sich von allen stilistischen Vorgaben seiner Zeit – vom Realismus, Naturalismus, Impressionismus und Symbolismus – zu befreien. Er fand zu einer eigenständigen zukunftsweisenden Bildsprache, die es ihm ermöglichte, Form und Inhalt seiner psychologisch oft stark konnotierten Kompositionen zu verbinden. Lit.: Flaatten, Hans-Martin Frydenberg: Edvard Munch: Edvard Munch’s Landscape of the Soul: the Scenes, Sounds and Moods of a small Seaside Town, Vestfold 2020; Kat. Edvard Munch in the National Museum. A comprehensive Overview, ed. by Vibeke Waallann Hansen/Wenche Volle u. a., Oslo 2020. MUNCH

159 Landschaft mit Frau und Kind, 1881 unbez. / Öl auf Karton / 21,5 × 30,8 cm Sammlung Familie Fielmann Abb. S. 80 Das Umland von Christiania erkundete der junge, damals 18-jährige Munch für seine Freilichtstudien. In der auf Malpappe ausgeführten Landschaftsstudie kommt eine junge Frau in einfacher Kleidung zusammen mit ihrem kleinen Kind einen schmalen Pfad entlang, der in einer Diagonale vom Vordergrund zu einer kleinen Holzhütte im rechten Mittelgrund führt. Die Hütte dient wohl als Wohnraum, denn aus dem Schornstein entsteigt Rauch, aber auch als Stall für zwei Ziegen und ein Pferd. Die Tiere grasen auf der Wiese neben dem Weg. In der Ferne erstreckt sich eine liebliche Landschaft mit einem See und waldreichen Höhenzügen. Der hellblaue, sommerliche Himmel nimmt nahezu die Hälfte der Bildfläche ein. Der pastose Duktus spricht für einen schnellen Werkprozess. Landschaft in Vestre Aker, 1882 unbez. / Öl auf Karton auf Kartonplatte aufgezogen / 29,5 × 25,5 cm Sammlung Familie Fielmann Abb. S. 81 In Vestre Aker, heute ein im Nordwesten liegender Stadtteil von Oslo, verleiht Munch einem an sich völlig unspektakulären Motiv Bildwürde. Sein Blick richtet sich auf eine junge Birke mit frischem grünem Laub. Der Baum behauptet die Bildmittelachse und wird von weiteren jungen Birken flankiert. Der Blick auf diese ist jedoch durch Zäune partiell verstellt. Die Struktur und der natürliche Ton der Malpappe nutzt Munch als den Farbpartien gleichwertiges Gestaltungsmittel und verleiht so dem sandigen Weg im Vordergrund adäquaten Ausdruck. Sommertag auf dem Anleger, 1888 bez. u. l.: Edv. Munch 88 / Öl auf Leinwand / 45,8 × 31,2 cm Museum Kunst der Westküste Abb. S.101 Das hochformartige Gemälde mit einem Blick auf den Tønsberg Fjord schuf der damals 24- oder 25-jährige Künstler wohl im Jahr 1887 oder 1888. Munchs vier Jahre jüngere Schwester Laura Cathrine steht auf einem Bootsanleger, der aus dem rechten vorderen Bildbereich diagonal in den Bildraum ragt. In einiger Entfernung zum Ufer, in einem kleinen Holzboot, rudert seine Schwester Inger Marie. Die jungen Frauen tragen blaue Sommerkleider und gelbe Hüte. Letztere hatte Inger 1887 in Tirol erworben. Im Sommer desselben Jahres besuchte Munchs Familie die Insel Veierland sowie den Ort Tønsberg. Im Kolorit des Bildes mit seiner blau-grau und rosa dominierten Farbpalette und im experimentellen Duktus deuten sich impressionistische Tendenzen an, mit denen Munch 1885, während seines dreiwöchigen Parisaufenthalts, in Berührung gekommen war. Zudem zeichnet sich das Gemälde durch eine für Munchs Arbeiten charakteristische, psychologische Spannung aus, die für den Impressionismus eher untypisch ist. Laura, deren Gesichtszüge malerisch nicht ausgeführt, sondern lediglich durch wenige Pinselstriche angedeutet sind, nimmt keine Notiz von ihrer Schwester. Stattdessen schaut sie mit geneigtem Kopf von dem Bootanleger aus nach unten in das Wasser. Inger Marie ihrerseits blickt in Richtung des gegenüberliegenden Ufers, wo der Ort Tønsberg mit dem aufragenden Turm der Domkirche sichtbar wird. Die beiden jungen Damen sind in ihre eigene Gefühlswelt befangen. Melancholie und soziale Isolation als Bildthemen beschäftigten Munch zeitlebens. Hier kündigt sich eine erste intensive Auseinandersetzung mit dieser Thematik an.

SANDSTEIN

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1