Leseprobe

Kugel Kegel Körperkult

Kugel Kegel Körperkult Herausgegeben von Christian Philipsen und Adina Christine Rösch

Inhalt 8 Vorwort ADINA CHRISTINE RÖSCH 10 Das ist Ticha! ADINA CHRISTINE RÖSCH 14 Bilder 32 Signalbilder mit Weltbezug Hans Ticha als singulärer Diagnostiker zwischen Macht und Markt PAUL KAISER 80 Hans Ticha in Zahlen 101 Im Gespräch mit Hans Ticha 120 Randnotizen Hans Ticha und die Buchillustration ADINA CHRISTINE RÖSCH 128 Bücher 170 Werkauswahl Ausstellung und Katalog 175 Bildnachweis 176 Impressum

10 • 11 ADINA CHRISTINE RÖSCH Unter den Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts sticht Hans Ticha1 als Künstler mit einer einzigartigen Bildsprache heraus, der er sich schon seit vielen Jahrzehnten konsequent bedient und die er innerhalb seines Kosmos unermüdlich weiterentwickelt. Sein Werk verbindet geometrische Strenge mit spielerischer Leichtigkeit, kräftige Farben mit hintergründigem Witz. Er ist ein Maler, Grafiker, Illustrator und Objektkünstler, der sich in die großen Kunstströmungen der Moderne einreiht, aber dennoch stets Individualist geblieben ist. In der Frankfurter Rundschau formulierte Ingeborg Ruthe das als »nicht ins Raster passen«2: »Es ist die seltsame, nicht ganz greifbare Ticha-Ikonografie, destilliert zu einem eigenwilligen Bildkosmos aus dem russischen KonstruktiDas ist Ticha! vismus eines Malewitsch und dessen LubokFiguren, aus dem optimistischen Konstruktivismus des Franzosen Léger, aus den Bauhausfigurationen Oskar Schlemmers und der amerikanischen Pop-Art, etwa Roy Lichtensteins.«3 Damit benennt sie gleichsam Tichas Vorbilder. Eindeutig fest steht tatsächlich, dass in der Regel ein Blick auf eines seiner Werke genügt, damit klar ist: Das ist Ticha! Die Zäsuren der deutschen Geschichte – von Krieg und Vertreibung über den Alltag in der DDR und der Wende bis hin zum Neubeginn im wiedervereinten Deutschland – haben Spuren in seinem Werk hinterlassen. Letzteres mehr als ersteres. Ticha illustriert, kommentiert und persifliert teilweise das Zeitgeschehen, was seine Werke heute aktueller denn je erscheinen lässt.

Anfänge Hans Ticha wurde 1940 in Bodenbach an der Elbe (heute Podmokly, Tschechien) geboren, einer Stadt nahe der deutsch-tschechischen Grenze. Seine frühen Jahre waren von Krieg und Vertreibung geprägt. Sein Vater kehrte aus dem Krieg nicht zurück, und seine Mutter musste in der Nachkriegszeit Zwangsarbeit leisten. Noch ein Jahr nach Kriegsende durfte die Familie die Tschechoslowakei nicht verlassen – eine Zeit voller Unsicherheit. Ticha wurde 1946 zusammen mit seiner Mutter und Schwester, wie viele andere Deutsche, zwangsausgesiedelt. Mehr als eine halbe Stunde, um das Nötigste zu packen, wurde nicht zugestanden, dann wurden sie in einen Transportzug gesetzt. Ziel war Schkeuditz, eine Kleinstadt in Sachsen zwischen Leipzig und Halle. Das Ankommen war nicht einfach, denn auf der einen Seite gab es die neuen Nachbarn, die den Vertriebenen oft mit Argwohn begegneten, auf der anderen Seite war es ein Gefühl von Heimatlosigkeit, das das Eingewöhnen nicht einfacher machte. Diese Zeit hatte aber letztlich auch ihr Gutes: Sie formte den starken Charakter Tichas. Am Ende seiner Schulzeit entschied er sich 1958 zunächst für ein solides Pädagogikstudium in Leipzig und arbeitete anschließend von 1962 bis 1964 als Lehrer in Lindenthal bei Leipzig. Doch dieser Beruf erfüllte ihn nicht – er spürte, dass seine wahre Leidenschaft der Kunst gilt. Die Aufnahme eines Kunststudiums barg allerdings einige Hürden, denn in der DDR bedeutete eine künstlerische Ausbildung nicht nur eine Atelier, Berlin-Prenzlauer Berg · 1982 und 1978 Objektaufbau, Helene-Weigel-Bibliothek Berlin-Marzahn · 1984

12 • 13 persönliche Entscheidung, sondern war gleichsam eine politische Positionierung. Wer Kunst studierte, musste sich mit den offiziellen Ideologien auseinandersetzen und einen Platz innerhalb des sozialistischen Kulturbetriebs finden. Letztlich sollte das Ticha nicht aufhalten. Schon während seiner Zeit in Schkeuditz besuchte er einen Laienkunstzirkel, frei von den Zwängen des offiziellen Kunstbetriebs, und sammelte dort erste Erfahrungen mit Malerei und Grafik, die sich im Anschluss an sein Pädagogikstudium auch in ersten illustrativen Arbeiten zeigten.4 Schließlich wagte er 1965 den entscheidenden Schritt: Er bewarb sich an der Kunsthochschule für bildende und angewandte Kunst Berlin-Weißensee – und studierte dort fünf Jahre lang unter anderem bei Kurt Robbel, Werner Klemke, Arno Mohr und Klaus Wittkugel. Atelier, Berlin-Prenzlauer Berg · 1986 Ausstellung, Galerie LÄKEMÄKER, Berlin · 2013 Aufbrüche Die Zeit bis 1970 in Berlin-Weißensee war prägend. Hier kam Ticha erstmals mit den großen Strömungen der modernen Kunst in Berührung. Während viele Künstler in der DDR den Vorgaben des Sozialistischen Realismus folgten, schwamm Ticha gegen den Strom und fand zu seiner eigenen Bildsprache, die auch seine Druckgrafiken sprachen, an denen er schon während seines Studiums arbeitete. Besonders Linol- und Holzschnitte, später auch Offsetdruck, faszinierten ihn. Mit diesen Drucktechniken konnte er seine Vorliebe für klare Formen und exakte Kompositionen zum Ausdruck bringen. Hans Ticha blieb bis 1990 in Ost-Berlin,3 wo er freiberuflich als Grafiker und Illustrator arbeitete – und das mit beachtlichem Erfolg. In der DDR entwickelte er sich schnell zu einem der gefragtesten Künstler. Seine Arbeiten waren nicht nur in Büchern6 zu finden, sondern auch in Ausstellungen und Zeitschriften, genauso wie als Kunst im öffentlichen Raum. Nach der Wende zog er zunächst nach Mainz – wieder ein Neuanfang mit Tücken, denn die Veränderungen durch die Wiedervereinigung bedeuteten für viele Künstler der ehemaligen DDR eine Herausforderung. Die bisherige Kunstlandschaft zersetzte sich, eine neue war noch nicht gewachsen. Doch Ticha ließ sich nicht beirren, fand neue Auftraggeber und Sammler und etablierte sich in der westdeutschen Kunstszene. 1993 folgte der Umzug nach Maintal, einer Stadt nahe Frankfurt am Main. In dem beschaulichen Ort fand er die Ruhe und Inspiration, die er für seine Arbeit brauchte.

Und kein Ende Hans Ticha hat sich in der Kunstwelt einen festen Platz erarbeitet. Sein Werk ist nicht nur künstlerisch bemerkenswert, sondern auch ein Spiegel der Zeit, indem es die Gesellschaft reflektiert, politische Themen aufgreift und nicht selten Zeitgeschehen widerspiegelt. Mal sind Tichas Arbeiten streng, mal heiter; mal modern, mal herrlich nostalgisch. Unterm Strich aber immer stiltreu! Damit gehört er zu den Künstlern, die über Jahrzehnte hinweg eine konstante künstlerische Qualität bewahrt haben. 1 Die Informationen zum Leben Hans Tichas stammen vorrangig aus Gesprächen mit dem Künstler und ferner aus dem Beitrag von Paul Kaiser: Ein redlicher Rebell. Der Maler Hans Ticha – Anatom, Mechaniker, Phantast, in: TICHA. Bilder, Zeichnungen, Objekte, hg. v. Erik Stephan, Ausstellungskatalog Jena 2015, S. 8–25, und von der Galerie LÄKEMÄKER, vgl. https://laekemaeker.com/de/ artists/hans-ticha-2/biography (13.1. 2025). 2 Ingeborg Ruthe: Hans Ticha zum Achtzigsten: Ein Maler, der in kein Raster passt, in: Berliner Zeitung vom 2. 9. 2020. 3 Ingeborg Ruthe: Hans Ticha zum Achtzigsten: Ein Maler, der in kein Raster passt, in: Berliner Zeitung vom 2.9.2020.] Damit benennt sie gleichsam Tichas Vorbilder. 4 Julia Blume: Hans Tichas Bücherbilder, in: Hans Ticha. Buch & Grafik 1970–2006, hg. v. Deutsche Nationalbibliothek, Ausstellungskatalog Leipzig/Frankfurt am Main/Leipzig 2007, S. 14. 5 Ticha wohnte in der Rykestraße 28 in BerlinPrenzlauer Berg, wo er seine staatskritischen Bilder lagerte. 6 Ticha arbeitete für die wichtigsten ostdeutschen Verlage, wie den Mitteldeutschen Verlag, den Verlag Junge Welt, den Verlag der Nation, den Aufbau Verlag und den Kinderbuchverlag Berlin, später auch für die Büchergilde Gutenberg. Vgl. z.B. Hans Ticha. Buch & Grafik 1970–2006, hg. v. Deutsche Nationalbibliothek, Ausstellungskatalog Leipzig/Frankfurt am Main/Leipzig 2007. Maintal · 2019

16 • 17 Maschine 1 · 1982

Maschine 2 · 1982

28 • 29 con tutta la forza (»Mit aller Kraft«) · 1992

Grauer Bläser · 1991

32 • 33 PAUL KAISER Die Konstruktion eines Modells zur Erklärung eines vielschichtigen Phänomens erweist sich oftmals als bedrohlich wackelndes Gerüst – das gilt für die Kunst im Allgemeinen wie für den Maler, Grafiker und Illustrator Hans Ticha im Besonderen. Wer die Lektüre der vorliegenden kunsthistorischen Einordnungen seines Werkes im Schnelldurchlauf passiert, stößt bei der Deutung dieses gesamtdeutschen Künstlers, der bis 1990 in Ost-Berlin ansässig war und seit der Wiedervereinigung zuerst in Mainz, später in Maintal bei Frankfurt am Main zu Hause ist, regelmäßig auf Rezeptionsvermutungen und Stilzuschreibungen. Solche Fixierungen tragen dazu bei, dass das Werk dieses immer noch zu entdeckenden Künstlers in den mit Signalbilder mit Weltbezug Hans Ticha als singulärer Diagnostiker zwischen Macht und Markt

➊ Hans Ticha, Deutsches Ballett · 1984 Öl auf Leinwand, 170 × 201 cm Staatliche Museen Berlin, Neue Nationalgalerie

34 • 35 Begriffsetiketten versehenen Schubladen von Wissenschaft, Markt und Kunstbetrieb zumeist folgenlos abgelegt wird. Aus diesen findet Tichas Kunst viel zu selten ans Licht der öffentlichen Wahrnehmung – wie gerade in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, wo das Gemälde Deutsches Ballett ➊ in der temporären Sammlungsausstellung Zerreißprobe ganz selbstverständlich seinen Platz behauptet1 oder in der aktuellen, von Adina Christine Rösch kuratierten Ticha-Ausstellung Kugel · Kegel · Körperkult im Museum Lyonel Feininger. Wer sich über Hans Ticha informiert, kommt nicht daran vorbei, dass sein Werk mit den Primärkonzepten des Bauhauses in Verbindung gebracht wird. Insbesondere spricht die unleugbare Inspiration, die sein varianzreiches Schaffen etwa durch den bildnerischen Kosmos von Oskar Schlemmer erhielt, in der Tat für eine intensive Beschäftigung. Die bei Ticha zu besichtigende Reduktion der Grundfigur und deren Auflösung in geometrische Formsegmente – vom Zeichner Herbert Sandberg als ironisch durchwirkter »Kugelismus«2 bezeichnet – muss aus dieser Perspektive als ein spätes Echo auf die Leistungen der Moderne wirken. Oskar Schlemmer thront dabei wie ein Hausgott über allem, vor allem mit seinem Modell des »Differenziermenschen« (Ina Conzen), mit dem er, so wie Jahrzehnte später Hans Ticha, »schematisierte, die menschliche Figur flächenhaft an Achsenkreuzen und Diagonalen ausrichtende Arbeiten«3 schuf, die dann im Triadischen Ballett ihren grandiosen Auftritt erlebten. Im gleichen Atemzug wie die Inspiration durch Schlemmer findet auch der Einfluss des russischen Konstruktivismus als schöpferische Quelle häufig Erwähnung. Einerseits wird dabei annonciert, dass es vor allem die »suprematistischen Androiden« von Kasimir Malewitsch gewesen seien, die Ticha beeindruckt hätten.4 Andererseits bringt man die erste in der DDR erschienene Monografie über El Lissitzky als Orientierungsquelle in Anschlag, die 1967 im Dresdner Verlag der Kunst erschien – im Übrigen fast zeitgleich zur Aufwertung des Bauhauses, das nach langer Zeit der Verleugnung von staatlichen Institutionen wiederentdeckt wurde, begleitet von einer seinerzeit maßstabsetzenden Publikation von Lothar Lang.5 Ihren Höhepunkt erlebte die Renaissance des Bauhauses im Dezember 1976, als zum 50-jährigen Bestehen das rekonstruierte Gebäude des Bauhauses in Dessau mit einem Staatsakt in ursprünglicher Gestalt wiedereröffnet werden konnte und sich angereiste Bauhäusler wie Max Bill ganz selbstverständlich in das offizielle Gruppenfoto einreihten. Fast zu einem Running Gag der TichaRezeption gerät aber seine zum Hauptargument der Einordnung werdende Prägung durch die westliche Pop-Art. Abwechselnd werden in diesem Kontext Willy Wolff, der im Nachklang zweier England-Reisen schon ab Mitte der 1960er-Jahre mit Strukturelementen der Pop-Art in der DDR experimentierte, der hallesche Maler Wasja Götze (mit Sohn Moritz), dem vor allem die britische Variante nahe steht, oder eben der Ost-­ Berliner Hans Ticha als die jeweils »einzigen Pop-Art-Maler« der DDR bezeichnet.6 Die ostdeutschen Maler werden dabei zu revolutionären Epigonen erhoben, die hinter der Mauer nur das nachvollzogen hätten, was im Westen ohnehin den Ton angab. Außer Blick gerät dabei, dass Ticha in der DDR (fast) keine Chance auf die direkte Begegnung mit Originalen hatte. Erst durch den Aachener Unternehmer und Kunstsammler Peter Ludwig, der in der Honecker-Ära eine wesentliche Figur des deutsch-deutschen Kulturtransfers wurde, waren seit 1977 vereinzelt Werke in extra eingerichteten Leihgaben-Kabinetten im Alten Museum in der DDR zu sehen. Mit dieser Trilogie entfachter Leidenschaften, die Tichas künstlerische Nähe zu Bauhaus, Konstruktivismus und Pop-Art auf die Bühne der Kunstbewertung stellt, scheint im Prinzip alles geklärt. Das Werk dieses ostdeutschen Malers wird somit zu einer Mixtur nachvollzogener Adaptionen, deren Faktizismus von Rezension zu Rezension, von Katalogbeitrag zu Katalogbeitrag ungeprüft weitergetragen wird. Seine originäre Leistung scheint dann vor allem im eigenwilligen Mischungsverhältnis der beschriebenen Einflüsse zu stehen: »Destilliert zu einem eigenwilligen Bildkosmos aus dem russischen Konstruktivismus eines Malewitsch und dessen Lubok-Figuren, aus dem optimistischen Konstruktivismus des Franzosen Léger, aus den Bauhausfigurationen Oskar Schlemmers und der amerikanischen Pop-Art etwa Roy Lichtensteins.«7

➋ Richard Lindner, New York City III · 1964 Öl auf Leinwand, 177,5 × 152,2 cm Sprengel Museum Hannover

36 • 37 Hans Tichas Kunst – ein Destillat? Der Künstler – ein Monteur von Versatzstücken? Die Probe auf das heikle Exempel verwehrt dieser »redliche Rebell«8 nicht. Sitzt man dem Maler im persönlichen Gespräch gegenüber und versucht, die proklamierten Herkünfte seines bildkünstlerischen Werkes Phase für Phase gemeinsam durchzugehen, wird man von seiner Offenheit schnell entwaffnet. Dies betrifft auch solche Fragen, die andere Künstler schnell als Zumutung missverstehen. In lakonisch-präzisen Kurzkommentaren verhilft Ticha dem Fragesteller stattdessen bald schon zur geteilten Gewissheit, mit formfesten Kausalketten und widerspruchslosen Interpretationen das Ziel eines Zugangs prinzipiell zu verfehlen. Dabei leugnet der Künstler keinesfalls die ihm zugeschriebenen Seh- und Lektüreerfahrungen sowie deren Rückwirkungen auf das eigene Werk. Der russische Konstruktivismus habe ihn beispielsweise sehr interessiert, auch die konstruktiv-urbanistische Bildsprache von Fernand Léger, die Magie des Bauhaus-­ Kosmos ohnehin. Von der Pop-Art ganz zu schweigen, die ihm in der DDR zum Arsenal einer wirkkräftigen Methodik werden sollte, mit der er seine unmittelbar-konkreten Lebenserfahrungen zum Ausdruck brachte.9 Ein gravierender Unterschied bleibt aber bestehen: Die Pointe der aufgeführten Resonanzen besteht nicht in der Adaption, sondern darin, dass diese gewissermaßen auf einer negativen Dialektik des Künstlers gründen. Was heißt das? Da die Originale an den Wänden der ostdeutschen Kunstmuseen fehlten und Hans Ticha im Verband Bildender Künstler das Privileg einer Westreise verwehrt blieb, mussten als Secondhand-Erweckungen ausgerechnet ideologisch imprägnierte DDR-Publikationen herhalten. Es handelte sich um eine der maßgeblichen Paradoxien des Landes, dass zum Ende seines Bestehens mit einigem Recht als »DaDaEr« erschien: Jene Publikationen verfemten die Kunst, zu der sich der Künstler hingezogen fühlte, was ihn aber nicht daran hinderte, im Umkehrverfahren seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Im Rückblick des Malers waren es drei sachliterarische Lektüren, die anstelle verhinderter Seherlebnisse seinen Weg nachhaltig verändern sollten. An diese kann sich der »Buchmensch« Hans Ticha noch sehr präzise erinnern:10 Das erste Buch war ein sowjetischer Gesamtverriss der westlichen Moderne – Michael Lifschitz’s Krise des Hässlichen, eine 1971 im Dresdner Verlag der Kunst erschienene Generalabrechnung mit Kubismus bis Pop-Art. Diese sozialistische Schmähschrift enthielt neben dem unverdaulichen Text kleinformatige, schlecht gedruckte Schwarz-Weiß-Werkabbildungen von Andy Warhol, Tom Wesselman und R. B. Kitay. Die kleinrastrigen, teils unscharfen Reproduktionen machten es dennoch möglich, dass Ticha, in Verkehrung der pädagogischen Absicht des Druckwerkes, daraus seinen subversiven Honig zog. Bei der zweiten Lektüre, so der Künstler, handelte es sich um einen durch die Deutsche Akademie der Künste gegen die DDR-Druckzensur durchgesetzten 96-seitigen Band über den Franzosen Fernand Léger. Herausgegeben von Heinz Lüdecke, erschien dieser 1967 wiederum im Verlag der Kunst. Der dritte Text, an dem sich der Künstler aufrichtete, weil die Abbildungen ihn faszinierten, wurde als Reportagestück in der in Millionenauflage erscheinenden Wochenzeitschrift Neue Berliner Illustrierte (NBI) gedruckt – ein Bericht über die Kunst Richard Lindners. Überhaupt kann Lindner, der in Deutschland als Werbegrafiker begann, als Jude in die USA emigrierte und seit Ende der 1940er-Jahre dort sein malerisches Werk entfaltete, als wesentlicher Impulsgeber für die bereits genannten Pop-ArtKünstler der DDR gelten, auch weil er eine Halbdistanz zur kunstbetrieblichen Vermarktung einnahm ➋: »Ich bewundere diese Pop-Art-Künstler«, so Lindner, »aber ich gehöre nicht zu ihrer Schule.«11 Verbindet man die klar konturierten Lebenslinien Hans Tichas mit seinen künstlerischen Resonanzbeziehungen, kann man das spezifische Milieu der Ost-Berliner Malerei nicht außer Acht lassen. Im Gegensatz zur Leipziger Schule, die genealogisch, emotional und institutionell an die dortige Hochschule für Grafik und Buchkunst gebunden war, hielt die sich als Berliner Schule verstehende Gruppe von Malern, Grafikern und Bildhauern einen rigorosen Abstand zur OstBerliner Kunsthochschule in Berlin-Weißensee. Alternativ entfaltete sie sich in den urbanen Stadträumen Ost-Berlins, vor allem im Prenzlauer Berg, der dem Kunstschriftsteller Lothar Lang deshalb als »Berliner Montmartre« erschien.12 Auf den Gruppen­

bildern der Berliner Schule, etwa aus der Hand von Horst Zickelbein (Die Berliner Schule I–III, 1976), sucht man Hans Ticha vergeblich. Nur zufällig gerät dieser im Kunstmilieu des Prenzlauer Bergs der 1970er- und 1980er-Jahre, etwa in den Ateliers um den Kollwitzplatz oder bei den Aktionskunst-Ereignissen in der Sredzkistraße 64, vor das Objektiv der zahlreich anwesenden Fotografen. Ein Gruppenbild gibt aber doch einigen Aufschluss über Tichas Position innerhalb der Ost-Berliner Malerszene. Die Fotografie zeigt ihn 1982 an einem Ort, der im Widerspruch zu seinem damaligen Status steht: in der Ost-Berliner Nationalgalerie, dem ersten Haus der Kunst. Es ist ein verkrampft wirkendes Gruppenbild von damals bereits bekannten, teils im DDR-Kunstsystem hoch arrivierten Berliner Malern ➌. Das Foto stammt von Helga Paris und zeigt die besten der ehemaligen Studenten, die sich um Kurt Robbel (1909–1986), ihren einstigen Lehrer an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee, versammelt haben, weil sie mit ihm eine Ausstellung ausrichteten, die Kurt Robbel und seine Schüler hieß.13 Im Übrigen kaufte die Nationalgalerie aus dieser Ausstellung gleich zwei Werke von Hans Ticha an – die Studentenarbeit Schubboot (1966) sowie seine bereits mit typischer Farbflächendynamik proportionierte Fischverkäuferin (1975). Die Begegnung mit Kurt Robbel war im Rückblick einer der wenigen Lichtblicke während seiner Studienzeit. Ticha, Jahrgang 1940, geboren im heute tschechischen Tetschen-Bodenbach und von dort mit seiner Mutter und Schwester vertrieben, worüber man in der DDR nicht öffentlich sprach, hatte zunächst Kunstpädagogik in Leipzig studiert und danach einige Jahre an einer Schule in Lindenthal unterrichtet, bevor er 1965 zum Studium der Malerei an die Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Berlin-Weißensee kam. Bei Robbel lernte Ticha, erinnert sich dieser, Bilder bauen, Farbflächen setzen und dem wohlfeilen Zeitgeist ein Schnippchen schlagen. Ansonsten war da nicht viel in dem Gebäude, das, vom ehemaligen Bauhäusler Selman Selmanagić entworfen, eigentlich eine 1956 fertiggebaute Polytechnische Oberschule war. Sie strahlte in den 1960er-Jahren statt produktiver Gattungssynergien im Sinne einer Bauhaus-Renaissance eher eine »kleinbürgerliche Atmosphäre« (Hans Ticha) aus. Pointiert sprach der Künstler deshalb über seine Studienjahre: Er habe nicht bei den Professoren um Ulbrichts Lieblingsmaler Walter Womacka studiert, sondern allenfalls beim Ehepaar Geisler, den Betreibern der Hochschulkantine. Natürlich war die Ost-Berliner Hochschule trotzdem weit wichtiger als es die anekdotische Zuspitzung auszudrücken vermag. Die Anpassung an die DDR-Kunstpolitik erzeugte immer auch Freiräume durch Ambivalenz. So war es der ab 1968 auch als Rektor wirkende Womacka, welcher das Geschick des sich bauernschlau gebenden »Staatskünstlers« mit dem wortkargen Habitus des für die Kunsthochschule wichtigen Patrons verband, der dafür sorgte, dass Hans Ticha aufgrund seiner erwiesenen Talentproben sofort ins zweite Studienjahr versetzt wurde. Im Übrigen war es auch Womacka, der dem rebellischen Ausnahmetalent Einar Schleef nach seiner Relegation aus der Malerei-Klasse wieder die Aufnahme an der Hochschule ermöglichte ➍. Kurt Robbel und Schüler ➌ Neue Nationalgalerie, Ost-Berlin · 1982

46 • 47 Arbeite mit … · 1989 Guten Kauf · 1989

Arbeite mit … · 1989

54 • 55 Klatscher · 1983

Klatscher II · 1979/1992

68 • 69 Hochspringer mit gestreiftem Dress · 1986 Hochspringer mit rotem Hemd · 1986

Hochsprung 1-2-3-4 · 1986

seit 1993 lebt und arbeitet in Maintal 1990–93 freiberuflich in Mainz 1970–90 freiberuflich in Ost-Berlin als Maler und Grafiker 1965–70 S tudium an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst Berlin-Weißensee 1962–64 Lehrer in Lindenthal bei Leipzig 1958–62 Pädagogikstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig 1946–58 Schulbesuch in Schkeuditz (Abitur) 1945–46 L ageraufenthalt und Zwangsarbeit mit der Mutter und Schwester in der ČSR 1940 geboren in Bodenbach (heute: Podmokly) Hans Ticha in Zahlen

Stipendien und Preise (Auswahl) 2022 Sonderpreis des Arbeitskreises Jugendliteratur im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2001 Kulturpreis des Main-Kinzig-Kreises 1998 Walter-Tiemann-Preis 1990 Beteiligung an der Biennale Venedig (Ambiente Berlin) 1986 Gran Premio des IOC auf der Biennale in Barcelona 1982 Silbermedaille der IBA Leipzig Ausstellungen (Auswahl) 2022 Galerie LÄKEMÄKER (Berlin) 2020 Kurt Tucholsky Literaturmuseum im Schloss Rheinsberg (Rheinsberg) Schleswig-Holstein-Haus (Schwerin) 2019 Galerie Hanna Bekker vom Rath (Frankfurt am Main) Museum der bildenden Künste (Leipzig) 2018 Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst, Dieselkraftwerk (Cottbus) F rankfurt/Oder, Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst (Frankfurt/Oder) 2017 Art Karlsruhe (Karlsruhe) 2016 Artfair New York (New York) 2015/16 Kunstsammlung Jena (Jena) 2015 Galerie Büchergilde Gutenberg (Frankfurt am Main) 2014 CONTEXT Artfair (Miami) 2013 Galerie LÄKEMÄKER (Berlin) KUNSTRAUMDARSS Galerie (Born a. Darß) Neue Nationalgalerie, Ausstellungsbeteiligung (Berlin) Arbejdermuseet (Kopenhagen) 2005 Galerie Finkbein (Gotha) 2004 Deutsche Nationalbibliothek (Frankfurt am Main) 2003 Grafik Museum Stiftung Schreiner (Bad Steben) Metall-Galerie der IG Metall (Frankfurt am Main) 2002 Unteres Schloss Greiz (Greiz) 1999 Stadtarchiv, Der andere Buchladen (Rheine) 1996 Museum Junge Kunst (Frankfurt/Oder) Inselgalerie Rettbergsaue (Wiesbaden) 1995 Galerie Feuervogel (Frankenthal) 1994 Nassauischer Kunstverein Wiesbaden (Wiesbaden) 1991 Kulturforum (Bad Mergentheim) Landesvertretung Berlin (Bonn) 1990 Galerie M (Berlin) Galerie Brückenturm (Mainz) Schaufenster des KaDeWe (Berlin) 1989 Kleine Galerie Torgau (Torgau) 1988 Galerie Gallus (Frankfurt/Oder) Kleine Galerie Kunsthaus (Grimma) 1987 Kleine Galerie Bildermarkt (Erfurt) Galerie am Schloßberg (Gadebusch) 1984 Galerie Schmidt-Rottluff (Karl-Marx-Stadt) 1983 Kleine Humboldtgalerie (Berlin) Roland Castellan Gallery (San Francisco) 1982 Kleine Galerie Seelow (Seelow) 1980 Kulturhaus Hans Marchwitza (Potsdam) Fachschule für Werbung und Gestaltung (Berlin) 1979 Schwerin, Staatliches Museum (Buchgrafik) 1976 Club der Kulturschaffenden Johannes R. Becher (Berlin)

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b Inmitten von Farben, Formen und Geschichten fand ein besonderes Treffen statt: Dr. Adina Rösch, Museumsdirektorin des Museums Lyonel Feininger, besuchte den Künstler Hans Ticha in sei nem Haus in Maintal. Bei duftendem Kaffee und knusprigen Keksen entwickelte si ch ein tiefgehendes Gespräch über sein Leben, sein Werk und die Kunst, die ihn seit Jahrzehnten begleitet. Die Atmosphäre hätte kaum passender sein können – umgeben von zahlreich en eigenen Werken: Gemälde, Plastiken, Grafiken und Bücher, die in leuchtenden Farben von Gesellschaft, Politik und der Poesie des Alltags erzählen. In jeder Ecke des Raumes spiegelten sich Jahrzehnte künstlerischer Schaffenskraft, kritischer Reflexion und spielerischer Ironie wider. Es war ein Gespräch, das nicht nur kreative Prozesse und In spirationen beleuchtete, sondern auch Erinnerungen, Herausforderungen und die Frage, was es bedeutet, die Welt als Künstler zu beobachten und in Bildern festzuhalten. Mit Witz, Charme und ungebrochener Leidenschaft gewährte Hans Ticha tiefe Einblicke in seine Gedankenwelt. Im Gespräch mit Hans Ticha Spieler 2-3-4 · 2004

102 • 103 ACR Herr Ticha, Ihr Werdegang zeugt von beeindruckender Vielseitigkeit. Bevor Sie sich vollständig der Kunst widmeten und an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Berlin-Weißensee unter renommierten Professoren wie Arno Mohr, Klaus Wittkugel, Werner Klemke und Kurt Robbel studierten, gingen Sie zunächst einen anderen Weg: Sie beschäftigten sich mit Pädagogik in Leipzig. Doch irgendwann muss die Kunst so laut in Ihnen gerufen haben, dass kein anderer Weg mehr infrage kam. Was war der entscheidende Moment? War es eine allmähliche Entwicklung oder ein plötzlicher Funke? HT Nein, nein, das war kein plötzlicher Sinneswandel. Durch die Nachkriegsereignisse kam ich ein Jahr zu früh in die Schule und hatte mit 17 bereits mein Abitur. Ich habe mich damals in Leipzig an der Hochschule umgesehen, aber als Skeptiker war mir schnell klar: Das wird nichts. Man wird da untergebuttert. Die Entscheidung, die Finger davon zu lassen, war wohl richtig. Es gibt so viele Studenten, die fleißig daran arbeiten, genau das zu malen, was ihr Meister möchte. Deshalb entschied ich mich für ein Pädagogikstudium. Ich wusste damals schon, dass ein Zweitstudium noch möglich war. Später hatten einige dieses Privileg nicht mehr. Ich studierte Kunsterziehung und Geschichte an der Karl-Marx-Universität in Leipzig – was im Nachhinein betrachtet gar nicht so dumm war. Nach meinem Militärdienst kam ich nach Berlin-Weißensee, wo ich mein Kunststudium aufnahm, dieses aber im Grunde als Autodidakt abschloss. Ich habe mich zuerst mit Gebrauchsgrafik versucht, weil ich mir nicht sicher war, ob ich wirklich in die Malerei gehen sollte. Denn wer diesen Weg einschlägt, muss sich sicher sein, dass er ihn auch durchhält. Ich wusste, wie schwierig das Leben vieler Absolventen war. Einige haben sogar nach dem Kunststudium noch einmal Kunsterziehung studiert, weil sie für ihre Familie nicht genug Geld verdienen konnten. In Weißensee entschied ich mich schließlich, mich auf Gebrauchsgrafik zu konzentrieren. Die Lehrer hatten ohnehin wenig Zeit für die Studenten. Ich habe mein Diplom gemacht und mich schon währenddessen um Aufträge bemüht. Die 1970er-Jahre waren eine günstige Zeit. Die Debatte um den Formalismus war erst einmal vorbei, und es gab etwas mehr Offenheit. Ich merkte jedoch, dass mich die DDR-Kunst nicht mehr wirklich interessierte. Ich ging nicht mehr in Ausstellungen und kannte die Arbeiten vieler Kollegen nicht – was ich manchmal kaschieren musste, wenn ich sie traf. Es macht doch keinen Sinn, wenn man nicht das macht, was man wirklich will. Mir war klar: Es lohnt sich nicht, nur um der Karriere willen zu malen. Deswegen fand ich in der Illustration eine gute Balance. Vieles war Brotarbeit, aber nicht alles. Merkwürdigerweise hat man mir nie besonders politische Arbeiten angeboten – vielleicht, weil ich eine abschreckende Wirkung hatte. Auftraggeber dachten wohl, das würde nicht gutgehen. Die Berliner Kollegen, mit denen ich zu tun hatte, waren meist tolerant – nicht alle, aber viele. Vor allem die Bildhauer waren da anders. Dennoch hatte ich mit der Illustration keine größeren Schwierigkeiten. Ein Beispiel dafür ist mein Buch Krieg mit den Molchen, in dem eine Abbildung der Mauer enthalten war. Der künstlerische Leiter des Aufbau Verlags wollte das Blatt zunächst herausnehmen, weil es das ganze Projekt gefährden könnte. Doch das Buch lag dann acht Jahre lang herum, weil es nicht vorwärtsging. Selbst die Druckerei drängelte irgendwann auf eine Veröffentlichung. Am Ende blieb die Abbildung der Mauer drin – vermutlich wurde sie vergessen oder jemand hatte doch noch Mut gefasst. Die Mauer war eindeutig zu erkennen, obwohl das Thema in der DDR eigentlich tabu war. Dieses Erlebnis war die einzige Situation, in der etwas hätte schiefgehen können. Aber letztlich erschien das Buch so, wie es gedacht war. Das zeigt, dass es manchmal doch Freiräume gab – wenn auch eher zufällig. ACR Also war es doch eine ganz bewusste Hinwendung zur Kunst? HT Ja schon, denn wie bereits erwähnt, habe ich mich schon während des Studiums mit Gebrauchsgrafik beschäftigt. Der Vorteil dabei war, dass ich mit Rastern in Verbindung kam und diese dann auch relativ früh in meine Bilder einsetzte. Plötzlich, auf einer Messe Anfang der 1970er-Jahre, sah ich Arbeiten von Roy Lichtenstein und stellte erschrocken fest, dass »das Rad schon erfunden war«. Vor Schreck hörte ich mit Rastern auf, kehrte aber später doch wieder zu diesem Verfahren zurück.

Malerei aus dem Bauch heraus oder mit großer Gestik ist nicht meine Sache. ACR Sie wurden im heutigen Tschechien geboren und sind in der DDR aufgewachsen, bevor Sie nach der Wende in den Westen gezogen sind. Inwiefern hat Ihre Kindheit und das Leben in der DDR Ihre Entscheidung beeinflusst, sich der Kunst zu widmen, und wie prägt diese Erfahrung Ihre künstlerische Arbeit bis heute? HT Die ersten fünf Jahre in der damaligen Tschechoslowakei hatten keinen großen Einfluss auf mich. Als ich später noch einmal nach Bodenbach reiste, fand ich es trostlos. Zu DDR-Zeiten sah Nordböhmen noch schlimmer aus als die DDR selbst. Aber auch mein Wohnort in der DDR, Schkeuditz, war nicht viel besser. Doch immerhin konnte ich in den 1960er-Jahren die Bezirksausstellungen in Halle sehen, die deutlich interessanter waren als die in Leipzig. Die Hochschule in Leipzig kam für mich damals ohnehin nicht infrage. Man gerät schnell in eine künstlerische Strömung, die einem womöglich nicht entspricht. ACR Also hatten Sie schon immer Ihren eigenen Kopf? HT Natürlich! Es macht doch keinen Sinn, wenn man nicht das macht, was man wirklich will. Man kann sich irren, aber man muss wenigstens versuchen, das zu erreichen, was einem wichtig ist. ACR Unbeirrt als Künstler den eigenen Weg zu gehen, stelle ich mir in der DDR schwierig vor, zumal einige Ihrer Arbeiten als systemkritisch gelten. Wie haben Sie es dennoch geschafft, Ihren eigenen Stil zu bewahren? HT Man musste vorsichtig sein. Ich habe zum Beispiel viele Sportbilder gemalt – ein großes Thema in der DDR, weil der Sport eines der wenigen Felder war, in denen sich das System international beweisen konnte. Gleichzeitig war es ein Bereich, der ideologisch stark aufgeladen war. Als ich Ende der 1970er-Jahre meine ersten Werke im Johannes R. Becher-Club ausstellte, wurde ich sogar einbestellt, um meine Bilder vorzuzeigen. Letztlich hat man sich nicht getraut, dagegen vorzugehen. Klar war: Wer Karriere machen wollte, musste sich anpassen – ich tat das nicht. Trotzdem bekam ich Aufträge für Illustrationen und Baukunst. Ab und an durfte ich sogar ein Plakat entwerfen. ACR Erik Stephan vom Kunstmuseum Jena hat Ihre Arbeitsweise, Herr Ticha, mit der von Fernand Léger verglichen. Wie Léger, so sagt er, bedienen Sie sich eines »élément mécanique«, einer konstruktiv-unindividualisierten Bildsprache. Hat Fernand Léger Einfluss auf Ihr Schaffen? HT Da irrt sich Erik Stephan ganz und gar nicht. Das Wenige, was ich von Léger kannte, hat mich durchaus interessiert – vor allem, weil er das normale Leben als Gegenstand seiner Kunst wählte. Das war ein großer Unterschied zu Pablo Picasso. Picassos mediterraner Stil war für jemanden aus dem Osten fremd und unerreichbar. Man konnte sich damit nicht wirklich auseinandersetzen, auch wenn ich vieles an Picasso großartig fand. Léger hingegen war auf die Gegenwart ausgerichtet – direkt, robust. Seine Werke im Original habe ich erst zur Wendezeit gesehen. In der DDR-Malerei gab es zum Beispiel keine Autos. Konrad Knebel malte Stadtlandschaften, aber ohne Autos. Als ich 1966 meine Wohnung in der Rückestraße am Prenzlauer Berg bezog, stand in der ganzen Straße bis zum Wasserturm nur ein einziges Auto. Zehn Jahre später war alles zugeparkt, auch mein Trabbi stand dazwischen. Diese Veränderung, das Urbane, die Körperlichkeit – all das erinnerte mich an Léger. Vor allem seine bestimmten Phasen, sein Prinzip, das ich schon früh für mich übernommen habe – auch in Anlehnung an meinen Lehrer Robbel. Ich wollte nicht durch Perspektive ein Loch in die Leinwand bohren, sondern dass meine Figuren direkt auf der Fläche stehen – körperlich präsent, aber nicht räumlich. ACR Vom Blick von außen nun zum Blick von innen: Herr Ticha, wie würden Sie selbst Ihre Arbeitsweise beschreiben? HT Malerei aus dem Bauch heraus oder mit großer Gestik ist nicht meine Sache. Ich arbeite strukturiert, plane und überarbeite meine Werke oft über Jahre hinweg. Als Jugendlicher versuchte ich mich an Aquarellen und spätimpressionistischen Arbeiten, merkte aber schnell, dass diese Richtung nicht zu mir passte.

120 • 121 ADINA CHRISTINE RÖSCH Randnotizen Hans Ticha und die Buchillustration »Natürlich, natürlich, Hans Ticha kannte ich schon als zehnjähriger Zwerg im Schulbubenalter«,1 erinnert sich Verleger Michael Faber, dessen Vater Anfang der 1980er-Jahre Verleger des Berliner Aufbau Verlags war. »Da gab es bereits einiges von ihm in meinen wenigen Kinderzimmer-Regalen zu bewundern, das hatten vermutlich meine Eltern dorthinein geschmuggelt, und in deren Bücherschränken gab es ohnehin von Ticha illustrierte Bücher. Seine Illustrationen fielen auf, weil sie anders als vieles Herkömmliche waren: grell, farbintensiv, bizarr in der Form, poppig.«2

122 • 123 Hans Fallada, Wie spät (1989) oder Gute Zähne (1986) ➋ von Dieter Mucke sind weithin bekannt. Dem älteren, insbesondere bibliophil veranlagten Publikum kommen beim Gedanken an Ticha andere Bücher in den Sinn wie Zimmer mit Frühstück (1977) ➌ von Christoph Geiser, Museum der verschwundenen Liebhaber (1988) von Joachim Gumpert oder Joachim Ringelnatz‘ Gedichtband Und auf einmal steht es neben dir (1996) ➍. Die Auswahl ist groß, denn der Künstler hat von etwa 1970 bis heute beinahe 100 Bücher illustriert.3 Darunter befinden sich zahlreiche, bei denen er die Gesamtgestaltung übernommen hat, unter anderem bei Peter Hacks‘ Das musikalische Nashorn (1979) ➎. Bei diesem Kinderbuch entsprechen sich alle Komponenten gestalterisch und inhaltlich. Sogar die einzelnen Seiten korrespondieren miteinander, indem sie sich aufeinander beziehen und selbst die abgebildeten Figuren über die jeweilige Abbildung hinaus in Verbindung treten. Zu den gestalteten Büchern kommen noch über 65 Einband- beziehungsweise Umschlaggestaltungen hinzu. Tichas künstlerische Handschrift zieht sich wie ein roter Faden durch Jahrzehnte der Buchkunst – beginnend in der DDR über die Wiedervereinigung hinweg bis hin zu seinen späten Arbeiten. Eine Erfolgsgeschichte Schon während seines Pädagogik-Studiums experimentierte der Künstler mit Linol- und Holzschnitten.4 Nach diesen ersten Annäherungsversuchen und dem Studium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee kamen Anfang der 1970er-Jahre mehr und mehr Aufträge im Bereich Buch- und Zeitschriftenillustration hinzu.5 Es war eine Zeit, in der die Buchgestaltung in der DDR einen hohen Stellenwert einnahm. Illustrationen waren Bestandteil des Bildungs- und Kulturauftrags und nicht nur schmückendes Beiwerk.6 Auch wenn Ticha heute seine Illustrationen mit einem Augenzwinkern »Randnotizen« nennt, verstand er es schon früh, Bebilderungen zu schaffen, die den Text untermalen und vertiefen, formal zumeist streng und dennoch mit einem unbeirrbaren Gespür für die Verbindung von Bild und Text. Viele und gerade im Osten Deutschlands Aufgewachsene verbinden derlei Erinnerungen mit den von Hans Ticha gestalteten Kinderbüchern. Seine Figuren, seine Darstellungen sind so prägnant und haben einen derart hohen Wiedererkennungseffekt, dass bei jedem von Ticha gestalteten Buch unmittelbar klar ist, aus welcher Hand es stammt. Bücher wie beispielsweise Geschichten aus der Murkelei (1973) ➊ von ➊ Hans Fallada, Geschichten aus der Murkelei · 1973 ➀

➋ ➌ ➍ ➎ Dieter Mucke, Gute Zähne · 1986 Christoph Geiser, Zimmer mit Frühstück · 1977 Joachim Ringelnatz, Und auf einmal steht es neben dir · 1996 Peter Hacks, Das musikalische Nashorn · 1978 ➁ ➂ ➄ ➃

124 • 125 ➏ Frigyes Karinthy, Ich weiß nicht, aber meine Frau ist mir verdächtig · 1972 Bereits 1972 erhielt er für die außergewöhnliche Gestaltung des Romans von Frigyes Karinthy, Ich weiß nicht, aber meine Frau ist mir verdächtig ➏, der im Verlag Rütten & Loening erschienen ist,7 die Auszeichnung für das Schönste Buch des Jahres. Es sollten viele Auszeichnungen dieser Art folgen8 – 25-mal wurden von ihm gestaltete Bücher als Schönste Bücher der DDR ausgezeichnet, und zuletzt 2020 erhielt er den Sonderpreis Gesamtwerk des Deutschen Jugendliteraturpreises auf der Frankfurter Buchmesse. Der Preis ehrt einen Bilderbuchkünstler, heißt es in der Begründung, »dessen Bücher zwischen Eigensinn und politischer Geste einen erneuten Auftritt in allen Haushalten, Schulen und Kindergärten verdienen«.9 Ab den 1970er-Jahren etablierte sich Ticha zunehmend zu einem der gefragtesten Illustratoren der DDR. Er arbeitete für fast alle bedeutsamen Verlage, darunter den Aufbau Verlag, den Kinderbuchverlag, den Eulenspiegel Verlag und den Mitteldeutsche Verlag.10 Sein Fokus lag fortan auf Büchern mit großer Auflagenhöhe11 – also auf Erzählungen, Kinderbüchern, Gedichtbänden und vereinzelt auch Romanen. 1982 wurde er mit der Silbermedaille der Internationalen Buchkunstausstellung in Leipzig für seine Illustrationen zum Handbuch der Heiterkeit von Gerhard Branstner ausgezeichnet. Fünf Jahre später erschien dann Karel Čapeks Kultroman Der Krieg mit den Molchen12 ➐, der einen Höhepunkt in Tichas Schaffen markiert. Das Buch »ermöglicht eine unmittelbare Teilhabe des Lesers an der Illustrationslust Tichas«13 und wurde zu Recht zu einem der Schönsten Bücher der DDR gewählt. Julia Blume begründet den Erfolg damit,14 dass die bewusste Unterschiedlichkeit der Abbildungen in Stil, Technik und Farbigkeit die verschiedenen Textebenen im Buch hervorhebt. Beispielsweise erzeugen bewusst sichtbare Bildrasterpunkte den Eindruck von Zeitungspapier. In einem anderen Kontext sind sie Reminiszenzen an die Pop-Art und insbesondere Roy Lichtenstein. Selbst unter den Büchern Tichas sticht die Gestaltung des Buches Krieg mit den Molchen hervor. 1989 folgte das Ehrendiplom der Internationalen Buchkunstausstellung für die Kinderbücher Eene meene Muh … und Hampelmann sucht Hampelfrau. Ein besonders interessantes Kapitel seiner Karriere tat sich bei der Auseinandersetzung mit den drucktechnischen Möglichkeiten auf. Inspiriert von seiner Kollegin Ruth Knorr,15 einer bedeutenden Illustratorin der 1970er-Jahre, suchte er nach Wegen, um die Reproduktionsqualität seiner Bilder zu optimieren. Das führte ihn letztlich zum Offsetdruck, einer Flachdrucktechnik, die die direkte Zeichnung auf Filme oder Glasplatten ermöglichte, wodurch seine Illustrationen auch in der Massenproduktion eine Unikatanmutung bewahrten. Sein Wirken im Bereich der Buchillustration war allerdings nicht nur auf den Osten beschränkt, denn auch schon vor 1990 wurden in der BRD von ihm gestaltete Bücher insbesondere über die Büchergilde Gutenberg (Frankfurt am Main) publiziert.16 Mit der Wende ergaben sich neue Herausforderungen und Chancen.

Karel Čapek, Der Krieg mit den Molchen · 1987 und 2023 ➐

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