99 als wäre eine Geode aufgebrochen worden oder ein Baum zu einem Stumpf beschnitten worden, wobei die bunte Farbe die Ringe ersetzt, die das Vergehen der Zeit markieren. Einige wenige kleine Vertiefungen sind zweifelsohne mit Fingern gemacht, ich stelle mir einen fehlgeleiteten Daumen vor, und wie gut es sich anfühlen kann, zu drücken und zu spüren, wie das Wachs nachgibt (S. 120/121). Die andere Plastik ist blasser, dasselbe wolkige Pudergrau dort, wo die Hände zugegriffen haben. Es ist bei der Betrachtung so haptisch, dass einem die Hände fast zucken und jucken, als könnte man es im eigenen Griff spüren. Die unregelmäßige, klobige Oberseite der Plastik ist in einem behäbigen Meerschaumgrün bemalt – eine dünne Schicht, die Pinselstriche sind sichtbar – mit Spuren von Weiß, vielleicht Blassgelb, und dunkelbraunen Schlieren, denn an der Oberfläche wurde experimentiert: Sie ist ein Ort zum Denken. Es besteht die Möglichkeit, dass das Werk eine ganze Weile da lag und auf das wartete, was noch vorbeikommen und seine Gestalt verändern könnte – dieses bescheidene Häufchen Plastiken, das in einem unbestimmten Raum gehalten wird–, nicht alt und nicht neu, keine Arbeit, aber auch nicht keine Arbeit, kein Archivgegenstand, aber auch nicht kein Archivgegenstand –, um ein relationales Leben anzunehmen (S. 126–127). Eine Version dieses Lebens ist, wenn Grosse die Plastik in die Hände nimmt und sie umschließt, dieser feste Griff, aber diesmal ist er zärtlich, ein wenig lose, das Wachs ist hart, als ob ein Muskelgedächtnis Belebung ermöglichen und sie und die Plastik verändern könnte – eine dingliche Zeitreise. Eine weitere Version ist die Einbettung in eine Überblicksschau in den riesigen Räumen des Kunstgebäudes in Stuttgart, wo sie zusammen mit ihren Mitgeschöpfen von 1987 bis heute präsentiert wird. Obwohl nicht als Ganzes chronologisch präsentiert, beginnt die Ausstellung mit einer unbetitelten Arbeit aus dem Jahr 1971 (S.13), was bedeutet, dass die 1961 in Freiburg im Breisgau geborene Künstlerin ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein muss, als sie die Arbeit geschaffen hat. Passenderweise handelt es sich um ein Ei, dessen Inneres ausgeblasen wurde, die Schale ist höchst zerbrechlich und mit Kreisen in Braun, Blau, Orange und Rot bemalt, die ein wenig an den zart gekrümmten Seiten herunterlaufen. Ecke‘ in der Kunsthalle Bern. Sie löschen sich nicht gegenseitig aus.“6 Die sogenannte grüne Ecke in Bern (Untitled, 1998) ist die erste von Grosse direkt auf die Wand gesprühte Arbeit, und es ist wirklich eine grüne Ecke: dunkel und üppig, so tiefgrün, dass sie in dem ansonsten makellos weißen Raum wie ein Schleier, Portal, Strudel erscheint. Das unheimliche Rechteck, dass die Galeriewände dort färbt und in sie ausblutet, wo sie im rechten Winkel aufeinandertreffen, weich an seinen äußeren Rändern, und ein wenig auf die Decke ausbreitend, ist in seiner sinnlichen Ästhetik wie ein exhumierter Rothko, und eine anarchische Brüskierung der Idee, dass Kunst höflich von Grenzen oder Rändern – seien diese physisch oder intellektuell – eingegrenzt sein kann oder sollte. Dieses Grün und seine rebellische Form, sein Drängen gegen die angeblichen Tugenden rechter Winkel, zeigt sich in Untitled, 1988 (S. 242/243), eine kleine Arbeit aus klobiger dunkelgrüner Knete, modelliert und geglättet, gezwickt und runzlig wie eine fremdartige Haut, und auf einem rechteckigen, salbeigrün bemalten Stück Karton mit gelegentlichen Akzenten von Senffarbe, Braun, Blau befestigt. Diese Farben verlaufen, man könnte sagen, sie finden einen Widerhall oder sickern in die Knete und beschmutzen sie in Kreisen und Dellen, die nur von Grosses Händen gemacht und intuitiv mit Farbe versehen worden sein können. In diesen Jahren, wie heute auch, arbeitete Grosse schnell an mehreren Werken. In ihrem Atelier imitiert sie sich selbst, um mir das zu zeigen, und flitzt hin und her, und ihre Hände landen vorsichtig auf einer imaginären Arbeit, ein wenig Farbe hier, eine andere dort. Dieselbe Energie ist auch in zwei unbetitelten Plastiken aus dem Jahr 1989 zu spüren; beide bestehen aus Wachs, Pigment und Leinöl, beide ungefähr in der Form dessen, was durch festes Zugreifen zustande gekommen sein könnte – der Raum zwischen zwei Händen, die in einem Kreis zusammenkommen und sich in Richtung Faust bewegen und eine grobe, konische, fast herzförmige Form festhalten. (Im Französischen sagt man für das Herz auf der Zunge tragen, avoir le coeur sur la main, das Herz auf der Hand haben. ) Eine der Arbeiten ist außen dunkel türkisfarben, innen verschmiert mit Wolken aus Grau, hellem Neongrün und Grüngelb,
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