Leseprobe

98 mehr als eins, oder den 16mm-Film drehte, der danach für immer das Kunstwerk ist und nicht ist – formale und materielle Alchemie. Oder Yoko Onos frühe Fluxus-Partituren, mit ihrer verdichteten und asketischen Schönheit, die in der Fantasie der Betrachtenden Bilder von außergewöhnlicher Komplexität und Offenheit entstehen lassen, während sie ganz lakonisch auf der Seite mit der Schreibmaschinenschrift verwurzelt bleiben. A Piece for Orchestra, Sommer 1962, „Man zähle alle Sterne dieser Nacht auswendig. Das Stück endet, wenn alle Orchestermitglieder die Sterne fertig gezählt haben, wenn die Sonne aufgeht. Dies kann auch mit Fenstern statt mit Sternen gemacht werden.“ Kite Piece II , Herbst 1963, „Man sammle jedes Jahr an einem bestimmten Tag alte Gemälde wie De Kooning, Klein, Pollack [sic]. Man mache Drachen aus ihnen und fliege. Man lasse sie hoch genug fliegen und dann schneide man die Schnüre, damit sie schweben.“ Whole Piece, Winter 1963, „werde es mit der nächsten Post schicken.“ Obgleich häufig innerhalb der Performance- oder Konzeptkunst-Bewegung verortet, fertigten Mendieta und Ono Arbeiten, die, wie die Arbeiten von Grosse, zutiefst relational sind. Die Arbeit lebt hier und jetzt, aber auch immer in einer anderen Zeit und einem anderen Raum. Dieser Zustand im Grenzbereich, dieses Dazwischen von Form und Material in Grosses Arbeit ist das Malen in der Luft, die aufsteigenden, durch die Luft getragenen Aerosole produzieren ein Gemälde, bevor wir es sehen, bevor es wie ein errötender Schatten landet. Das relationale Risiko, über das Grosse einen Grad an Kontrolle abgibt, ist, was diese Malerei in der Luft produziert, deren Form wie ein Ereignis aus dem Himmel (Schnee, Regen, Hagel, Schneeregen, Regen bei Sonnenschein) auf den begrenzten Raum oder ein Objekt fällt, das ihm angeboten wird. „Deshalb ist es aus meiner Sicht etwas irreführend, meine Malerei als abstrakt zu definieren“, sagt Grosse in Weiterführung ihrer Gedanken über Umkippen und Spannung. „Ich glaube, es geht eher um dieses Umschlag- oder Umkehrmoment, in dem sich in einer Form die andere so verkapselt, dass es gar nicht mehr um ein Entweder-oder geht, sondern eher um das paradoxe Gleichzeitige. Dass Kräfte, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen, gleichzeitig auftauchen können, so wie der gebaute Raum und der darüberliegende Bildraum bei der ,grünen in ihrer künstlerischen Praxis gesagt. „Und ich nehme auch das auf, was sich nicht auf die ursprüngliche Idee zurückführen lässt“,5 führt sie weiter aus – als wäre negativer Raum – alles, was wir nicht sehen können, einschließlich dessen, was zuvor geschehen ist, sogar lang zuvor – auch Teil eines Werkes, dieser könne konzeptuell, intellektuell oder prozesshaft sein: Wir können nicht vorhersehen, was passieren wird, aber nichts geschieht in einem Vakuum. Das trifft vor allem auf die beiden allgegenwärtigen Begriffe Abstraktion und Figuration zu, Weisen und Methoden, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr ein Kontinuum sind – Kategorien, die nur als einfachstes Mittel der anfänglichen Bezeichnung eingesetzt werden sollten, bevor man Vorstellungen von entweder/oder ausmerzt. Keine sehr weit verbreitete Tendenz, könnte man sagen. Die Momente des Umkippens und der Spannung, von denen Grosse spricht, sind beim aktiven Denken und Produzieren ganz vorne dabei und widersetzen sich von anderen gesetzten und selbst verinnerlichten Erwartungen. Das Umkippen und die Spannung sind die Voraussetzung, etwas aufzuheben, rückgängig zu machen, in alle Richtungen zu schauen, zu sehen, denken und fühlen, und eben nicht nur in die Richtungen, die gelehrt werden, bekannt, beliebt, lukrativ sind. Man könnte ihre Beschreibung der Kunstproduktion so lesen, dass sie gleichermaßen an der Absicht wie am Ergebnis interessiert ist, ein poetischer Drang, Aspekte des Unsichtbaren oder Abwesenden als zentral für jede abgeschlossene Arbeit zu behandeln. Gibt es andere Künstlerinnen, Künstler und non-binär künstlerisch tätige Personen, die eine Art entwickelt haben, so zu arbeiten, dass Malerei ein Leben und Nachleben hat, die indexikalisch ist wie die Fotografie einer Performance, die beide Medien transzendiert und eine autonome, hybride Form produziert? Ich denke an die kubanisch-amerikanische Künstlerin Ana Mendieta, deren Erdwerke Orte in der Natur aktiviert hat. Sie hat mit Flammen, Feuerwerken, Rauch, Seifenschaum, Blumen, manchmal auch einfach nur mit tief eingekerbten Linien die Umrisse eines weiblichen Körpers geformt. Mendieta war die Einzige, die deren Verbrennen, Rauchen, Schweben, Fliegen selbst persönlich erlebte, wenn sie die Zündschnur anzündete oder das Wasser ausgoss, die Blumen arrangierte, den Rauch und das Verbrennen betrachtete, das Foto aufnahm, häufig

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