Leseprobe

97 Bögen bildend, sich drehend, alles und jedes berührend und sich jede Oberfläche zu eigen machend. „Ich rausche durch ein Museum sehe Bilder und Dinge von der Romanik bis heute und lasse sie sich gegeneinander und zueinander […] begegnen. Ich will dem Chronologischen, dem Zuschreibenden nicht folgen, ich erfahre mich beim Malen selbst als unbenannt […]. Die Anregungen kommen aus allen Richtungen.“1 Linearität, so beliebt in der Kunstgeschichte, ist so tyrannisch und irrigerweise aufgezwungen wie jede Begrenzung, und sowieso lebt niemand so. In der echten Welt, die auch die Kunstwelt ist, eine Welt voller Kunst, passiert alles gleichzeitig. Wir sehen und erfassen alles, was wir wollen, was den Herzschlag beschleunigt oder uns innehalten lässt, und das Atelier ist vielleicht mehr als andere ein Nicht-Ort, der befreiteste und multidirektionalste aller Orte – ein Universum an sich. Also fangen wir am Anfang an, aber vielleicht nennen wir ihn anders, beispielsweise: Freiheit, kosmisch, unendlich, ungreifbar, die „Logik des Imaginären“,2 wie der französische Schriftsteller und Universalgelehrte Roger Caillois über seine eigene Obsession mit bescheidenen und dennoch verführerischen, grell bunten Objekten in Steine schreibt, oder „Aufmerksamkeit ist gleich Leben oder sie ist dessen einziger Beweis“,3 wie Frank O’Hara, der moderne Dichter der Farbe und des Experiments, darüber anmerkte, man solle in der Welt lebendig sein. Etwas, das wir Poesie nennen könnten, also: schräg, unregelmäßig, expansiv, unvorhersehbar, enigmatisch, verführerisch, vielfältig, subtil, das „Sag Wahrheit ganz, doch sag sie schräg“4 der Dichterin Emily Dickinson, die auch das geschrieben hat, was als „schräger Reim“ bezeichnet wird, wo Ähnlichkeit durch eine leichte Abweichung evoziert wird („sun“ und „gone“ oder „corn“ und „noon“). Die Spannung macht Freude, denn Spannung erzeugt Spannung, erinnert uns daran, dass wir nicht immer das, was wir hören, lesen, anschauen können, auch schon kennen und wissen (wenn wir es überhaupt je tun), das gilt auch für das Werk einer Künstlerin. „Es gibt einen Moment, in dem etwas umkippt, in dem du einen Spannungswechsel erkennst. Und plötzlich wird das, was du vorhattest, nicht mehr sichtbar, sondern wird zu einem blinden Fleck, und das, was du nicht wolltest, ist unheimlich deutlich zu sehen“, hat Grosse einmal über die Bedeutung von Zufall und Offenheit Einige dieser Dinge sind nicht wie die anderen – oder doch? Begann es am Anfang, in der Mitte, am Ende, oder ganz woanders, was wir uns erst noch vorstellen müssen? Wann und wo sind wir, wenn wir Katharina Grosses bisher kaum gesehene, bescheidene und dennoch verführerische, leuchtend bunte Plastiken und Malereien betrachten, entstanden zwischen 1987 und 1990, als sie an der Kunstakademie Düsseldorf studierte? Ist das wichtig? Im Leben wie in der Kunst, die wir auch Zeit und Raum nennen könnten, ist es üblich, sich in eine von zwei Richtungen zu bewegen – vorwärts, rückwärts–, aber es gibt auch andere Möglichkeiten. Kleine, unregelmäßige Wachsformen in Blau, Grün, Gelbgrün, Schmutziggrau, Hellrot, Farben mit Pigmenten oder Ölfarbe oder beides, die sich manchmal in sich verstecken, nur bei genauer Betrachtung wahrnehmbar, Scheiben oder Fragmente aus Karton, Leinen, Leinwand, wie von innen nach außen gekehrte Gemälde. Dicke Farbkleckse, weiß, fleischrosa, trübbraun, schiefergrau, vielleicht mit Fingern oder Händen auf durch Hitze zerrunzeltes Polyethylen wie eine topografische Landkarte aufgebracht. Klumpen aus Wachs, abgeflacht und rund, glatt und knollig, farbig oder bemalt, bevor oder nachdem sie auf eine Oberfläche aus Karton, Leinen oder Leinwand befestigt wurden, als wären es zum Leben erweckte Gemälde, Frankenstein impasto, Plastiken, die Gemälde sein wollen, Gemälde, die Plastiken sein wollen, Substanzen, die nicht in Kategorien passen, sondern irgendwo dazwischen sitzen, schweben, hoffen und danach streben, was sie sind und nicht sind. Alle ohne Titel und zunächst nicht offensichtlich im Einklang mit Grosses heutiger Praxis erscheinen mir diese Arbeiten bei genauer Betrachtung, als könnten sie aus ihren großen Malereien oder Installationen wie Kometen oder Meteore vom Himmel gefallen sein: der Beweis, dass, während es manchmal unmöglich (oder leicht zu vergessen) scheint, dass das riesige Universum, insbesondere die Teile, die wir nicht beobachten können, alles eins ist, verbunden. „Ich sehe getrennte Vorgänge gleichzeitig. Je paradoxer desto besser, desto herausfordernder und inspirierender“, hat Grosse einmal gesagt. Vielleicht keine Überraschung für eine Künstlerin, deren malerische Praxis durch die weitschweifige und grenzenlose Bewegung von Farbe durch den Raum floriert – sprühend, fliegend,

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