Leseprobe

25 Ein Jahr später entstehen vergleichbare Werke, diesmal auf Leinwand. Ihre reliefartige Oberfläche wird jedoch erneut nicht durch Malerei mit Farbe, sondern durch eine Schicht aus Polyvinylchlorid (PVC) erzeugt. PVC ist durch die Beimischung von Chlor härter, steifer und weniger flexibel als Polyethylen. Auch in diesen Werken werden Positiv- und Negativformen gegeneinandergesetzt und partiell mit Ölfarbe übermalt (vgl. o. T. , S. 188–189). Dieser Schritt markiert ihren Einstieg in die Tradition der malerischen Grenzüberschreitung, zum Beispiel bei Frank Stella, und ist das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit den eigenen künstlerischen Mitteln. Grosse empfand Malerei allein als Farbe auf einem zweidimensionalen Bildträger als nicht mehr ausreichend. Sie war auf der Suche, ihre Ideen und Vorstellungen von neuen Möglichkeiten der Malerei räumlich und materiell zu verwirklichen. Exkurs 2, Paraffin, Plastilin, Karton und Leinwand: 1989–1990 1989 entstehen teils nur handtellergroße Objekte aus Paraffin, einem Gemisch aus Kohlenwasserstoffen, das aus Erdöl oder Erdgas gewonnen wird und als Hauptbestandteil für die Herstellung von Kerzen genutzt wird. Ein weiches, wachsartiges Material, das bei Raumtemperatur fest ist. Diese Objekte sind händisch geformt, erinnern an Knochenmark oder an unförmige kleine Sockel, mal an die Umrisse eines unbestimmten Landes in einem unbekannten Atlas oder an einen Donut (o. T. , S. 130/131; o. T. , S. 129; o. T. , S. 132–135 und o. T. , S. 141). Flache, mit signalorangenen Nylonfäden durchzogene Scherben, farbig gefasst mit den sichtbaren Spuren des Pinselauftrags (o. T. , S. 144–145), erscheinen im Rückblick wie Prototypen für die Jahrzehnte später entstehenden, großformatigen Werke wie In Seven Days Time vor dem Kunstmuseum Bonn (S. 20/21) oder o. T. (S.16/17) in der Stuttgarter Ausstellung, die sich, mit ihrer Wölbung in den Raum hinein, diesen aneignen. In einige dieser Objekte aus Paraffin hat Grosse Leinöl und verschiedene Farbpigmente direkt eingearbeitet: rot, braun, grün, blau, gelb. Die Farben sind Teil des Materials. Die Oberfläche kann bei ein und demselben Objekt hügelig und zerklüftet, aber auch ganz flach sein, beinahe wie poliert (o. T. , S. 147). Scheinbar geht es hier um die Betonung der Materialität, doch bei aller Objekthaftigkeit sagt Katharina Grosse selbst: „Es handelt sich ja bei all dem um Malerei.“14 Die Werke erscheinen wie eine damals entstandenen Werken. Sie stellt die materialbedingten Grenzen der Malerei infrage und entwickelt neue malerische Strategien, die sich von den Beschränkungen traditioneller Materialien wie Pinsel, Farbe und Leinwand lösen: „Wie kann man malen, ohne zu malen?”11 Exkurs 1, Polyethylen: 1987–1988 In Katharina Grosses zweitem Jahr in Düsseldorf, 1987, entstehen Wandobjekte, die sie aus Polyethylen formt und teils mit Öl- oder Acrylfarben bemalt. Polyethylen ist ein langlebiger, synthetischer Kunststoff, der aus Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen besteht und einer der am häufigsten verwendeten Kunststoffe weltweit ist. Die Transformation von flüssigem Polyethylen zu einer festen, reliefartigen Oberfläche ist ein zentraler Aspekt dieser Arbeiten. Sie sind pure Manifestation von Materie. Durch den Abformungsprozess entsteht eine dreidimensionale plastische Form, in der sich die Spannung zwischen dem Positiven und Negativen materialisiert. Der Kunststoff, transparent wie Glas, ist der Bildträger, dessen Oberfläche dabei von Unebenheiten und Einschlüssen geprägt ist, was den Prozess des Abgusses und seine Haptik betont. Die Kompositionen sind durch Anordnungen geometrischer und organischer Formen gekennzeichnet, die sowohl symmetrische als auch asymmetrische Elemente aufweisen. Die Überlagerung der Abdrücke von Formen erzeugt eine irritierende, fast schon unheimliche Wirkung, die anthropomorphe Assoziationen hervorbringt. Durch die teils partielle, teils ganzheitliche Übermalung mit warmen und kühlen Tönen wie Braun, Grau oder Weiß entsteht eine malerische Tiefe, die die reliefartige Struktur betont und an pastose Farbschichten erinnert. Die partielle Malerei legt sich stellenweise wie ein Schleier über die Transparenz des Polyethylens (o. T. , S. 197). In Bezug zu den Achromes von Piero Manzoni bemerkt Johannes Meinhardt: „Die Fläche des Gemäldes wird selbst zum Ort der Sichtbarkeit, wird zur ästhetischen Ordnung, zum sichtbaren System der Oberfläche.“12 Auch bei Grosse ergeben sich durch dieses Zusammenspiel materialisierte Spuren mit eigenem Ausdruck, wie Ulrich Loock in Bezug zu den frühen Arbeiten von Katharina Grosse anmerkt: „Schon hier wurden Untergrund und aufgetragene Farbe voneinander getrennt, doch so, dass sie miteinander übereinstimmen.“13 Malerei als Objekt.

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