23 Also, es beginnt damit, dass ich bei Katharina Grosse in Berlin am Schreibtisch sitze und in ihrer Werkdatenbank recherchiere. Das erste Kunstwerk, das darin aufgeführt ist, besitzt die Inventarnummer 1971/8001. Es hat keinen Titel. Auf der winzigen Fläche von gerade einmal 6,2 mal 4,8 Zentimetern dominiert ein fast deckendes Hellblau den unteren Bereich. Diese monochrome Fläche bildet einen starken Kontrast zu den komplexeren Farbflächen aus Rot-, Braun-, Orange- und Ockertönen im oberen Teil, die durch eine unbemalte weiße Oberfläche getrennt sind, aber durch sichtbare Fingerabdrücke einen farblichen Schleier erhält. Die mit Filzstiften ausgeführte Malerei erzeugt durch einzelne kräftige, dynamische, nach unten laufende Striche den illusionistischen Effekt von fließender Ölfarbe. Entstanden ist dieses Werk um das Jahr 1971, als Katharina Grosse zehn Jahre alt oder jünger war. Als Bildträger diente die Schale eines ausgeblasenen Hühnereis. Die Große Landesausstellung Katharina Grosse: The Sprayed Dear eröffnet mit diesem wahrlich ungewöhnlichen Frühwerk, das gewissermaßen auch den Grundstein für das Ausstellungskonzept der Staatsgalerie Stuttgart im Kunstgebäude bildet, denn die weitere Recherche in der Datenbank hält noch andere Überraschungen bereit: eine Reihe kleiner, farbiger Objekte, die sie als Studentin an der Düsseldorfer Kunstakademie in den Jahren 1987 bis 1990 anfertigte. Werke, die ich bisher nicht kannte und die mir dennoch seltsam vertraut vorkommen. Was hat es mit diesen Objekten auf sich? Sind dies frühe Experimente mit Materialien und Formen oder Prototypen und werfen sie etwa ein neues Licht auf Katharina Grosses künstlerische Entwicklung? Welchen Stellenwert nehmen sie in ihrem Gesamtwerk ein? Im Zentrum von Grosses Auseinandersetzung steht die Frage, wie man Malerei ohne Malerei machen kann. Um sich zu vergegenwärtigen, wie radikal dieser Ansatz war, hilft im Nachfolgenden ein Blick auf das Umfeld, in dem diese Werke entstehen konnten. Ausgehend von meinen neuen Erkenntnissen entstand also der Wunsch, eine umfassende Ausstellung zu konzipieren, die erstmals die Vielfalt und Innovationskraft von Grosses dreidimensionalem Schaffen in den Mittelpunkt stellt. Ziel ist es, diese Werke der Frühzeit einem breiten Publikum zugänglich zu machen und ihre Bedeutung für das Œuvre der Künstlerin zu untermauern. Es handelt sich um 67 Arbeiten, die vor beinahe 40 Jahren entstanden, die über 30 Jahre lang verpackt waren und im Gegensatz zu vielen anderen, die die Künstlerin zerstörte, aufbewahrt wurden. Frühwerke aus der Spätphase ihres Studiums. Nun werden sie für die Stuttgarter Ausstellung erstmals restauriert und neu fotografiert. Drei eigens für die Ausstellung der Staatsgalerie konzipierte Neuproduktionen bilden zusammen mit weiteren ausgewählten plastischen Werken von 2007 bis 2021, dem bemalten Hühnerei und den erwähnten frühen Werken den Inhalt der Ausstellung und vorliegenden Publikation. Situation: Düsseldorf und der Geist der 1980er-Jahre Es beginnt wohl damit, dass Katharina Grosse 1982 ihr Studium an der Kunstakademie Münster bei Johannes Brus, Reiner Ruthenbeck und Norbert Tadeusz aufnimmt und 1986 in die Klasse von Gotthard Graubner an die Kunstakademie Düsseldorf wechselt. Prägend sind die kuratorischen und künstlerischen Einflüsse jener Zeit – Ausstellungen und Gespräche mit Mitstudierenden –, die Beschäftigung mit Nam June Paik und Videokunst oder die Suche nach Möglichkeiten, die eigenen Erfahrungen des Lebens auch künstlerisch umzusetzen. Die Studienjahre an der Kunstakademie sind eine Herausforderung, die sowohl kreative als auch mentale Stärke erfordert, wie sich Grosse erinnert: „Johannes Brus riet mir, nur mit dem Material zu arbeiten, das ich auf dem Bildfeld angesammelt habe, ökonomisch zu sein. Reiner Ruthenbeck empfahl Transzendentale Meditation und Humor. Norbert Tadeusz erzählte wunderbar von Joseph Beuys, seinem Freund Blinky Palermo und von Tintoretto und er sagte, der Gegenstand im Bild müsse entgegenstehen. Graubner sagte, man könne nicht spekulieren – weder in der Kunst noch im Leben. Im Grunde sagte er, es gebe keine Wahl, sondern nur die vollkommene Hingabe an die eigene Veranlagung. Er bewunderte Begabung und glaubte an das Meisterwerk. Da konnte ich ihm nicht mehr folgen. Alle Lehrer waren sehr autoritär. Mir gefiel die Reibung mit dem Machtgehabe.“1 Vor allem im Hinblick auf Malerei zeichnet sich die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts durch eine kontinuierliche Weiterentwicklung ihrer analytischen Methoden aus. Während zu Beginn des Jahrhunderts die formale Stilanalyse dominiert, um die spezifischen,
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