Leseprobe

KATHARINA GROSSE THE SPRAYED DEAR

The Sprayed Dear, Staatsgalerie Stuttgart, 2025 Acryl auf Aluminium und Boden Acrylic on aluminium and floor 300 × 2 400 × 2 300 cm

Unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann Under the patronage of the Minister President of Baden-Wurttemberg, Winfried Kretschmann

KATHARINA GROSSE THE SPRAYED DEAR Staatsgalerie Stuttgart Sandstein Verlag

11 22 Vom Suchen im Außerhalb oder über die Anfänge der Malerei abseits der Kunstgeschichte Hendrik Bündge 32 On Searching in the Outside or the Beginnings of Painting beyond Art History Hendrik Bündge 96 Einige dieser Dinge sind nicht wie die anderen Emily LaBarge 104 Some of These Things are not like the Others Emily LaBarge 156 In den Raum – über frühe Arbeiten von Katharina Grosse und einen Bruch Robin Detje 160 Into Space – Katharina Grosse’s Early Works and a Rupture Robin Detje 320 Gespräch zwischen Dan Lie und Katharina Grosse 328 Conversation between Dan Lie and Katharina Grosse 336 Zum Geleit Prof. Dr. Christiane Lange 338 As an Afterword Prof. Dr. Christiane Lange

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21 In Seven Days Time, Kunstmuseum Bonn, 2011 Acryl auf glasfaserverstärktem Kunststoff Acrylic on glass-fibre reinforced plastic 920 × 1950 × 12 cm

22 Vom Suchen im Außerhalb oder über die Anfänge der Malerei abseits der Kunstgeschichte Hendrik Bündge

23 Also, es beginnt damit, dass ich bei Katharina Grosse in Berlin am Schreibtisch sitze und in ihrer Werkdatenbank recherchiere. Das erste Kunstwerk, das darin aufgeführt ist, besitzt die Inventarnummer 1971/8001. Es hat keinen Titel. Auf der winzigen Fläche von gerade einmal 6,2 mal 4,8 Zentimetern dominiert ein fast deckendes Hellblau den unteren Bereich. Diese monochrome Fläche bildet einen starken Kontrast zu den komplexeren Farbflächen aus Rot-, Braun-, Orange- und Ockertönen im oberen Teil, die durch eine unbemalte weiße Oberfläche getrennt sind, aber durch sichtbare Fingerabdrücke einen farblichen Schleier erhält. Die mit Filzstiften ausgeführte Malerei erzeugt durch einzelne kräftige, dynamische, nach unten laufende Striche den illusionistischen Effekt von fließender Ölfarbe. Entstanden ist dieses Werk um das Jahr 1971, als Katharina Grosse zehn Jahre alt oder jünger war. Als Bildträger diente die Schale eines ausgeblasenen Hühnereis. Die Große Landesausstellung Katharina Grosse: The Sprayed Dear eröffnet mit diesem wahrlich ungewöhnlichen Frühwerk, das gewissermaßen auch den Grundstein für das Ausstellungskonzept der Staatsgalerie Stuttgart im Kunstgebäude bildet, denn die weitere Recherche in der Datenbank hält noch andere Überraschungen bereit: eine Reihe kleiner, farbiger Objekte, die sie als Studentin an der Düsseldorfer Kunstakademie in den Jahren 1987 bis 1990 anfertigte. Werke, die ich bisher nicht kannte und die mir dennoch seltsam vertraut vorkommen. Was hat es mit diesen Objekten auf sich? Sind dies frühe Experimente mit Materialien und Formen oder Prototypen und werfen sie etwa ein neues Licht auf Katharina Grosses künstlerische Entwicklung? Welchen Stellenwert nehmen sie in ihrem Gesamtwerk ein? Im Zentrum von Grosses Auseinandersetzung steht die Frage, wie man Malerei ohne Malerei machen kann. Um sich zu vergegenwärtigen, wie radikal dieser Ansatz war, hilft im Nachfolgenden ein Blick auf das Umfeld, in dem diese Werke entstehen konnten. Ausgehend von meinen neuen Erkenntnissen entstand also der Wunsch, eine umfassende Ausstellung zu konzipieren, die erstmals die Vielfalt und Innovationskraft von Grosses dreidimensionalem Schaffen in den Mittelpunkt stellt. Ziel ist es, diese Werke der Frühzeit einem breiten Publikum zugänglich zu machen und ihre Bedeutung für das Œuvre der Künstlerin zu untermauern. Es handelt sich um 67 Arbeiten, die vor beinahe 40 Jahren entstanden, die über 30 Jahre lang verpackt waren und im Gegensatz zu vielen anderen, die die Künstlerin zerstörte, aufbewahrt wurden. Frühwerke aus der Spätphase ihres Studiums. Nun werden sie für die Stuttgarter Ausstellung erstmals restauriert und neu fotografiert. Drei eigens für die Ausstellung der Staatsgalerie konzipierte Neuproduktionen bilden zusammen mit weiteren ausgewählten plastischen Werken von 2007 bis 2021, dem bemalten Hühnerei und den erwähnten frühen Werken den Inhalt der Ausstellung und vorliegenden Publikation. Situation: Düsseldorf und der Geist der 1980er-Jahre Es beginnt wohl damit, dass Katharina Grosse 1982 ihr Studium an der Kunstakademie Münster bei Johannes Brus, Reiner Ruthenbeck und Norbert Tadeusz aufnimmt und 1986 in die Klasse von Gotthard Graubner an die Kunstakademie Düsseldorf wechselt. Prägend sind die kuratorischen und künstlerischen Einflüsse jener Zeit – Ausstellungen und Gespräche mit Mitstudierenden –, die Beschäftigung mit Nam June Paik und Videokunst oder die Suche nach Möglichkeiten, die eigenen Erfahrungen des Lebens auch künstlerisch umzusetzen. Die Studienjahre an der Kunstakademie sind eine Herausforderung, die sowohl kreative als auch mentale Stärke erfordert, wie sich Grosse erinnert: „Johannes Brus riet mir, nur mit dem Material zu arbeiten, das ich auf dem Bildfeld angesammelt habe, ökonomisch zu sein. Reiner Ruthenbeck empfahl Transzendentale Meditation und Humor. Norbert Tadeusz erzählte wunderbar von Joseph Beuys, seinem Freund Blinky Palermo und von Tintoretto und er sagte, der Gegenstand im Bild müsse entgegenstehen. Graubner sagte, man könne nicht spekulieren – weder in der Kunst noch im Leben. Im Grunde sagte er, es gebe keine Wahl, sondern nur die vollkommene Hingabe an die eigene Veranlagung. Er bewunderte Begabung und glaubte an das Meisterwerk. Da konnte ich ihm nicht mehr folgen. Alle Lehrer waren sehr autoritär. Mir gefiel die Reibung mit dem Machtgehabe.“1 Vor allem im Hinblick auf Malerei zeichnet sich die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts durch eine kontinuierliche Weiterentwicklung ihrer analytischen Methoden aus. Während zu Beginn des Jahrhunderts die formale Stilanalyse dominiert, um die spezifischen,

24 Kunst spielt eine bedeutende Rolle.4 Eine ahistorische Sichtweise wird zunehmend wichtiger, verschiedene Einflüsse bewahren sie vor einer strengen Systematik: „Im Gegensatz zu […] konstruktivistischen Referenzen bezieht sich KG [Katharina Grosse] auf informelle Kunst. Sie nimmt Modelle auf, denen die Auflösung von Gegenstandsgrenzen eingeschrieben ist und die sie ursprünglich von Gotthard Graubner […] entlehnt hat, die aber auf einer viel weiter reichenden Genealogie beruhen, an der in besonderem Maß Frauen wie Louise Bourgeois, Eva Hesse, Lygia Pape oder Mira Schendel teilhaben.“5 Das Klima an der Akademie in Düsseldorf ist in den 1980er-Jahren von einer großen Experimentierfreude geprägt. Neben Gotthard Graubner unterrichten dort zu dieser Zeit unter anderem Bernd und Hilla Becher, Tony Cragg, Jan Dibbets, Alfonso Hüppi, Dieter Krieg, Markus Lüpertz, Nam June Paik, A. R. Penck, Gerhard Richter, Klaus Rinke, Fritz Schwegler und Günther Uecker.6 Durch den interdisziplinären Austausch untereinander entsteht eine lebendige und vielfältige künstlerische Praxis. Doch parallel zu dieser Entwicklung wird von Douglas Crimp gar die Malerei für tot erklärt oder von Craig Owens die Autorität der Kunstgeschichte in Zweifel gezogen.7 Als „Malerei nach dem Ende der Malerei” bezeichnet Johannes Meinhardt 1997 jene malerischen Positionen, darunter Gerhard Richter, Blinky Palermo oder Cy Twombly, die sich nach dem zweiten Tod der Malerei um 1960 erneut diesem Medium zuwandten.8 „Trotzdem ist die Malerei nie verschwunden, und jede Ankündigung ihrer angeblichen ‚Rückkehr‘ ist ein Triumph der Öffentlichkeitsarbeit und nicht der Malerei. Es gibt immer Künstler, die interessante Gemälde schaffen – manchmal erregen sie wenig Aufmerksamkeit, manchmal, wie jetzt, viel. Vielleicht sollten wir über diese Werke als ‚post-malerische Malerei‘ nachdenken. Mit diesem Begriff meine ich nicht nur Malerei, die nach dem Tod der Malerei entstanden ist, sondern Malerei, die durch diesen Tod ermöglicht wurde,”9 argumentiert der Künstler Craig-Martin. Denn „mit der Malerei ist es ein wenig wie mit dem Hammerklavier. Solange es das Hammerklavier gibt, wird es immer Leute geben, die es gerne spielen. Aber es braucht auch eine Entwicklung, um da drüber hinauszukommen und andere Formulierungen zu treffen, auch mit anderen Materialien zu arbeiten.“10 Diese Einschätzung des Malers Michael Royen veranschaulicht Grosses Studienjahre und entspricht ihren äußeren Eigenschaften einzelner Kunstwerke zu erfassen, erweitert Erwin Panofsky mit seiner Lehre der Ikonologie den Blickwinkel auf die Bedeutung von Bildern und deren tieferen, symbolischen Sinn. Ab den 1960er-Jahren vollzieht sich ein Paradigmenwechsel: Interdisziplinäre Ansätze, beeinflusst unter anderem von der Psychoanalyse, dem Feminismus, Marxismus und Poststrukturalismus, ermöglichen eine sozialgeschichtliche Betrachtungsweise von Kunstwerken. Diese neueren Perspektiven rücken die Künstlerinnen, Künstler und non-binär künstlerisch tätige Personen in den Mittelpunkt und untersuchen ihre Lebensbedingungen, Arbeitsverhältnisse sowie die sozialen Netzwerke, um die Entstehung und Rezeption von Kunstwerken in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext zu verstehen. Daraus folgt etwa eine Entgrenzung der Künste, wie schon mit Dadaismus und Surrealismus in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, indem die traditionellen Kategorien und bislang verwendeten Materialien infrage gestellt und neue Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks, bei der das Publikum aktiv miteinbezogen wird, gesucht werden. Die traditionellen Ausdrucksformen Malerei und Skulptur werden ebenfalls seit den 1960erJahren durch installative und multimediale Ansätze gebrochen, wie bereits Isabelle Graw und der Künstler Michael Craig-Martin zuletzt erläutern: Graw verweist in diesem Zusammenhang auf die zunehmende Dominanz nicht-malerischer Medien wie Fotografie, Film oder Performance.2 Craig-Martin sieht das 20. Jahrhundert gar von einer stetig radikaleren Kunst geprägt: Zunächst wurde die Form radikalisiert, dann das Material und schließlich der Inhalt.3 In die Zeit von Katharina Grosses Studium Anfang der 1980er-Jahre fällt eine Phase der Auseinandersetzung mit dieser kunsthistorischen Semiotik, die später als Postmodernismus bezeichnet wird: Mit seinem Schwerpunkt auf Fragmentierung, Ironie und der Verschleierung der Grenzen zwischen Hoch- und Popkultur stellt der Postmodernismus die traditionellen Vorstellungen von Kunstgeschichte und ihren Methoden infrage, lehnt die Vorstellung einer einzigen, linearen Erzählung der Kunstgeschichte ab und stellt stattdessen mehrere konkurrierende Erzählungen dagegen. Diese skeptische Haltung bestimmt auch Katharina Grosses Denkweise. Das Nachdenken über Attribute wie Gültigkeit, Dauer, Unabgeschlossenheit und über das Ephemere in der

25 Ein Jahr später entstehen vergleichbare Werke, diesmal auf Leinwand. Ihre reliefartige Oberfläche wird jedoch erneut nicht durch Malerei mit Farbe, sondern durch eine Schicht aus Polyvinylchlorid (PVC) erzeugt. PVC ist durch die Beimischung von Chlor härter, steifer und weniger flexibel als Polyethylen. Auch in diesen Werken werden Positiv- und Negativformen gegeneinandergesetzt und partiell mit Ölfarbe übermalt (vgl. o. T. , S. 188–189). Dieser Schritt markiert ihren Einstieg in die Tradition der malerischen Grenzüberschreitung, zum Beispiel bei Frank Stella, und ist das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit den eigenen künstlerischen Mitteln. Grosse empfand Malerei allein als Farbe auf einem zweidimensionalen Bildträger als nicht mehr ausreichend. Sie war auf der Suche, ihre Ideen und Vorstellungen von neuen Möglichkeiten der Malerei räumlich und materiell zu verwirklichen. Exkurs 2, Paraffin, Plastilin, Karton und Leinwand: 1989–1990 1989 entstehen teils nur handtellergroße Objekte aus Paraffin, einem Gemisch aus Kohlenwasserstoffen, das aus Erdöl oder Erdgas gewonnen wird und als Hauptbestandteil für die Herstellung von Kerzen genutzt wird. Ein weiches, wachsartiges Material, das bei Raumtemperatur fest ist. Diese Objekte sind händisch geformt, erinnern an Knochenmark oder an unförmige kleine Sockel, mal an die Umrisse eines unbestimmten Landes in einem unbekannten Atlas oder an einen Donut (o. T. , S. 130/131; o. T. , S. 129; o. T. , S. 132–135 und o. T. , S. 141). Flache, mit signalorangenen Nylonfäden durchzogene Scherben, farbig gefasst mit den sichtbaren Spuren des Pinselauftrags (o. T. , S. 144–145), erscheinen im Rückblick wie Prototypen für die Jahrzehnte später entstehenden, großformatigen Werke wie In Seven Days Time vor dem Kunstmuseum Bonn (S. 20/21) oder o. T. (S.16/17) in der Stuttgarter Ausstellung, die sich, mit ihrer Wölbung in den Raum hinein, diesen aneignen. In einige dieser Objekte aus Paraffin hat Grosse Leinöl und verschiedene Farbpigmente direkt eingearbeitet: rot, braun, grün, blau, gelb. Die Farben sind Teil des Materials. Die Oberfläche kann bei ein und demselben Objekt hügelig und zerklüftet, aber auch ganz flach sein, beinahe wie poliert (o. T. , S. 147). Scheinbar geht es hier um die Betonung der Materialität, doch bei aller Objekthaftigkeit sagt Katharina Grosse selbst: „Es handelt sich ja bei all dem um Malerei.“14 Die Werke erscheinen wie eine damals entstandenen Werken. Sie stellt die materialbedingten Grenzen der Malerei infrage und entwickelt neue malerische Strategien, die sich von den Beschränkungen traditioneller Materialien wie Pinsel, Farbe und Leinwand lösen: „Wie kann man malen, ohne zu malen?”11 Exkurs 1, Polyethylen: 1987–1988 In Katharina Grosses zweitem Jahr in Düsseldorf, 1987, entstehen Wandobjekte, die sie aus Polyethylen formt und teils mit Öl- oder Acrylfarben bemalt. Polyethylen ist ein langlebiger, synthetischer Kunststoff, der aus Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen besteht und einer der am häufigsten verwendeten Kunststoffe weltweit ist. Die Transformation von flüssigem Polyethylen zu einer festen, reliefartigen Oberfläche ist ein zentraler Aspekt dieser Arbeiten. Sie sind pure Manifestation von Materie. Durch den Abformungsprozess entsteht eine dreidimensionale plastische Form, in der sich die Spannung zwischen dem Positiven und Negativen materialisiert. Der Kunststoff, transparent wie Glas, ist der Bildträger, dessen Oberfläche dabei von Unebenheiten und Einschlüssen geprägt ist, was den Prozess des Abgusses und seine Haptik betont. Die Kompositionen sind durch Anordnungen geometrischer und organischer Formen gekennzeichnet, die sowohl symmetrische als auch asymmetrische Elemente aufweisen. Die Überlagerung der Abdrücke von Formen erzeugt eine irritierende, fast schon unheimliche Wirkung, die anthropomorphe Assoziationen hervorbringt. Durch die teils partielle, teils ganzheitliche Übermalung mit warmen und kühlen Tönen wie Braun, Grau oder Weiß entsteht eine malerische Tiefe, die die reliefartige Struktur betont und an pastose Farbschichten erinnert. Die partielle Malerei legt sich stellenweise wie ein Schleier über die Transparenz des Polyethylens (o. T. , S. 197). In Bezug zu den Achromes von Piero Manzoni bemerkt Johannes Meinhardt: „Die Fläche des Gemäldes wird selbst zum Ort der Sichtbarkeit, wird zur ästhetischen Ordnung, zum sichtbaren System der Oberfläche.“12 Auch bei Grosse ergeben sich durch dieses Zusammenspiel materialisierte Spuren mit eigenem Ausdruck, wie Ulrich Loock in Bezug zu den frühen Arbeiten von Katharina Grosse anmerkt: „Schon hier wurden Untergrund und aufgetragene Farbe voneinander getrennt, doch so, dass sie miteinander übereinstimmen.“13 Malerei als Objekt.

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41 Ghost, Staatsgalerie Stuttgart, 2025 Polystyrol Polystyrene 224 × 1550 × 380 cm

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51 o. T. / Untitled, 2017 Acryl auf Aluminium Acrylic on aluminium 53 × 67,5 × 144 cm

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61 o. T. (Detail)/ Untitled (detail), 2019 Acryl auf Bronze Acrylic on bronze 75,5 × 138 × 57 cm

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96 Einige dieser Dinge sind nicht wie die anderen Emily LaBarge

97 Bögen bildend, sich drehend, alles und jedes berührend und sich jede Oberfläche zu eigen machend. „Ich rausche durch ein Museum sehe Bilder und Dinge von der Romanik bis heute und lasse sie sich gegeneinander und zueinander […] begegnen. Ich will dem Chronologischen, dem Zuschreibenden nicht folgen, ich erfahre mich beim Malen selbst als unbenannt […]. Die Anregungen kommen aus allen Richtungen.“1 Linearität, so beliebt in der Kunstgeschichte, ist so tyrannisch und irrigerweise aufgezwungen wie jede Begrenzung, und sowieso lebt niemand so. In der echten Welt, die auch die Kunstwelt ist, eine Welt voller Kunst, passiert alles gleichzeitig. Wir sehen und erfassen alles, was wir wollen, was den Herzschlag beschleunigt oder uns innehalten lässt, und das Atelier ist vielleicht mehr als andere ein Nicht-Ort, der befreiteste und multidirektionalste aller Orte – ein Universum an sich. Also fangen wir am Anfang an, aber vielleicht nennen wir ihn anders, beispielsweise: Freiheit, kosmisch, unendlich, ungreifbar, die „Logik des Imaginären“,2 wie der französische Schriftsteller und Universalgelehrte Roger Caillois über seine eigene Obsession mit bescheidenen und dennoch verführerischen, grell bunten Objekten in Steine schreibt, oder „Aufmerksamkeit ist gleich Leben oder sie ist dessen einziger Beweis“,3 wie Frank O’Hara, der moderne Dichter der Farbe und des Experiments, darüber anmerkte, man solle in der Welt lebendig sein. Etwas, das wir Poesie nennen könnten, also: schräg, unregelmäßig, expansiv, unvorhersehbar, enigmatisch, verführerisch, vielfältig, subtil, das „Sag Wahrheit ganz, doch sag sie schräg“4 der Dichterin Emily Dickinson, die auch das geschrieben hat, was als „schräger Reim“ bezeichnet wird, wo Ähnlichkeit durch eine leichte Abweichung evoziert wird („sun“ und „gone“ oder „corn“ und „noon“). Die Spannung macht Freude, denn Spannung erzeugt Spannung, erinnert uns daran, dass wir nicht immer das, was wir hören, lesen, anschauen können, auch schon kennen und wissen (wenn wir es überhaupt je tun), das gilt auch für das Werk einer Künstlerin. „Es gibt einen Moment, in dem etwas umkippt, in dem du einen Spannungswechsel erkennst. Und plötzlich wird das, was du vorhattest, nicht mehr sichtbar, sondern wird zu einem blinden Fleck, und das, was du nicht wolltest, ist unheimlich deutlich zu sehen“, hat Grosse einmal über die Bedeutung von Zufall und Offenheit Einige dieser Dinge sind nicht wie die anderen – oder doch? Begann es am Anfang, in der Mitte, am Ende, oder ganz woanders, was wir uns erst noch vorstellen müssen? Wann und wo sind wir, wenn wir Katharina Grosses bisher kaum gesehene, bescheidene und dennoch verführerische, leuchtend bunte Plastiken und Malereien betrachten, entstanden zwischen 1987 und 1990, als sie an der Kunstakademie Düsseldorf studierte? Ist das wichtig? Im Leben wie in der Kunst, die wir auch Zeit und Raum nennen könnten, ist es üblich, sich in eine von zwei Richtungen zu bewegen – vorwärts, rückwärts–, aber es gibt auch andere Möglichkeiten. Kleine, unregelmäßige Wachsformen in Blau, Grün, Gelbgrün, Schmutziggrau, Hellrot, Farben mit Pigmenten oder Ölfarbe oder beides, die sich manchmal in sich verstecken, nur bei genauer Betrachtung wahrnehmbar, Scheiben oder Fragmente aus Karton, Leinen, Leinwand, wie von innen nach außen gekehrte Gemälde. Dicke Farbkleckse, weiß, fleischrosa, trübbraun, schiefergrau, vielleicht mit Fingern oder Händen auf durch Hitze zerrunzeltes Polyethylen wie eine topografische Landkarte aufgebracht. Klumpen aus Wachs, abgeflacht und rund, glatt und knollig, farbig oder bemalt, bevor oder nachdem sie auf eine Oberfläche aus Karton, Leinen oder Leinwand befestigt wurden, als wären es zum Leben erweckte Gemälde, Frankenstein impasto, Plastiken, die Gemälde sein wollen, Gemälde, die Plastiken sein wollen, Substanzen, die nicht in Kategorien passen, sondern irgendwo dazwischen sitzen, schweben, hoffen und danach streben, was sie sind und nicht sind. Alle ohne Titel und zunächst nicht offensichtlich im Einklang mit Grosses heutiger Praxis erscheinen mir diese Arbeiten bei genauer Betrachtung, als könnten sie aus ihren großen Malereien oder Installationen wie Kometen oder Meteore vom Himmel gefallen sein: der Beweis, dass, während es manchmal unmöglich (oder leicht zu vergessen) scheint, dass das riesige Universum, insbesondere die Teile, die wir nicht beobachten können, alles eins ist, verbunden. „Ich sehe getrennte Vorgänge gleichzeitig. Je paradoxer desto besser, desto herausfordernder und inspirierender“, hat Grosse einmal gesagt. Vielleicht keine Überraschung für eine Künstlerin, deren malerische Praxis durch die weitschweifige und grenzenlose Bewegung von Farbe durch den Raum floriert – sprühend, fliegend,

98 mehr als eins, oder den 16mm-Film drehte, der danach für immer das Kunstwerk ist und nicht ist – formale und materielle Alchemie. Oder Yoko Onos frühe Fluxus-Partituren, mit ihrer verdichteten und asketischen Schönheit, die in der Fantasie der Betrachtenden Bilder von außergewöhnlicher Komplexität und Offenheit entstehen lassen, während sie ganz lakonisch auf der Seite mit der Schreibmaschinenschrift verwurzelt bleiben. A Piece for Orchestra, Sommer 1962, „Man zähle alle Sterne dieser Nacht auswendig. Das Stück endet, wenn alle Orchestermitglieder die Sterne fertig gezählt haben, wenn die Sonne aufgeht. Dies kann auch mit Fenstern statt mit Sternen gemacht werden.“ Kite Piece II , Herbst 1963, „Man sammle jedes Jahr an einem bestimmten Tag alte Gemälde wie De Kooning, Klein, Pollack [sic]. Man mache Drachen aus ihnen und fliege. Man lasse sie hoch genug fliegen und dann schneide man die Schnüre, damit sie schweben.“ Whole Piece, Winter 1963, „werde es mit der nächsten Post schicken.“ Obgleich häufig innerhalb der Performance- oder Konzeptkunst-Bewegung verortet, fertigten Mendieta und Ono Arbeiten, die, wie die Arbeiten von Grosse, zutiefst relational sind. Die Arbeit lebt hier und jetzt, aber auch immer in einer anderen Zeit und einem anderen Raum. Dieser Zustand im Grenzbereich, dieses Dazwischen von Form und Material in Grosses Arbeit ist das Malen in der Luft, die aufsteigenden, durch die Luft getragenen Aerosole produzieren ein Gemälde, bevor wir es sehen, bevor es wie ein errötender Schatten landet. Das relationale Risiko, über das Grosse einen Grad an Kontrolle abgibt, ist, was diese Malerei in der Luft produziert, deren Form wie ein Ereignis aus dem Himmel (Schnee, Regen, Hagel, Schneeregen, Regen bei Sonnenschein) auf den begrenzten Raum oder ein Objekt fällt, das ihm angeboten wird. „Deshalb ist es aus meiner Sicht etwas irreführend, meine Malerei als abstrakt zu definieren“, sagt Grosse in Weiterführung ihrer Gedanken über Umkippen und Spannung. „Ich glaube, es geht eher um dieses Umschlag- oder Umkehrmoment, in dem sich in einer Form die andere so verkapselt, dass es gar nicht mehr um ein Entweder-oder geht, sondern eher um das paradoxe Gleichzeitige. Dass Kräfte, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen, gleichzeitig auftauchen können, so wie der gebaute Raum und der darüberliegende Bildraum bei der ,grünen in ihrer künstlerischen Praxis gesagt. „Und ich nehme auch das auf, was sich nicht auf die ursprüngliche Idee zurückführen lässt“,5 führt sie weiter aus – als wäre negativer Raum – alles, was wir nicht sehen können, einschließlich dessen, was zuvor geschehen ist, sogar lang zuvor – auch Teil eines Werkes, dieser könne konzeptuell, intellektuell oder prozesshaft sein: Wir können nicht vorhersehen, was passieren wird, aber nichts geschieht in einem Vakuum. Das trifft vor allem auf die beiden allgegenwärtigen Begriffe Abstraktion und Figuration zu, Weisen und Methoden, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr ein Kontinuum sind – Kategorien, die nur als einfachstes Mittel der anfänglichen Bezeichnung eingesetzt werden sollten, bevor man Vorstellungen von entweder/oder ausmerzt. Keine sehr weit verbreitete Tendenz, könnte man sagen. Die Momente des Umkippens und der Spannung, von denen Grosse spricht, sind beim aktiven Denken und Produzieren ganz vorne dabei und widersetzen sich von anderen gesetzten und selbst verinnerlichten Erwartungen. Das Umkippen und die Spannung sind die Voraussetzung, etwas aufzuheben, rückgängig zu machen, in alle Richtungen zu schauen, zu sehen, denken und fühlen, und eben nicht nur in die Richtungen, die gelehrt werden, bekannt, beliebt, lukrativ sind. Man könnte ihre Beschreibung der Kunstproduktion so lesen, dass sie gleichermaßen an der Absicht wie am Ergebnis interessiert ist, ein poetischer Drang, Aspekte des Unsichtbaren oder Abwesenden als zentral für jede abgeschlossene Arbeit zu behandeln. Gibt es andere Künstlerinnen, Künstler und non-binär künstlerisch tätige Personen, die eine Art entwickelt haben, so zu arbeiten, dass Malerei ein Leben und Nachleben hat, die indexikalisch ist wie die Fotografie einer Performance, die beide Medien transzendiert und eine autonome, hybride Form produziert? Ich denke an die kubanisch-amerikanische Künstlerin Ana Mendieta, deren Erdwerke Orte in der Natur aktiviert hat. Sie hat mit Flammen, Feuerwerken, Rauch, Seifenschaum, Blumen, manchmal auch einfach nur mit tief eingekerbten Linien die Umrisse eines weiblichen Körpers geformt. Mendieta war die Einzige, die deren Verbrennen, Rauchen, Schweben, Fliegen selbst persönlich erlebte, wenn sie die Zündschnur anzündete oder das Wasser ausgoss, die Blumen arrangierte, den Rauch und das Verbrennen betrachtete, das Foto aufnahm, häufig

99 als wäre eine Geode aufgebrochen worden oder ein Baum zu einem Stumpf beschnitten worden, wobei die bunte Farbe die Ringe ersetzt, die das Vergehen der Zeit markieren. Einige wenige kleine Vertiefungen sind zweifelsohne mit Fingern gemacht, ich stelle mir einen fehlgeleiteten Daumen vor, und wie gut es sich anfühlen kann, zu drücken und zu spüren, wie das Wachs nachgibt (S. 120/121). Die andere Plastik ist blasser, dasselbe wolkige Pudergrau dort, wo die Hände zugegriffen haben. Es ist bei der Betrachtung so haptisch, dass einem die Hände fast zucken und jucken, als könnte man es im eigenen Griff spüren. Die unregelmäßige, klobige Oberseite der Plastik ist in einem behäbigen Meerschaumgrün bemalt – eine dünne Schicht, die Pinselstriche sind sichtbar – mit Spuren von Weiß, vielleicht Blassgelb, und dunkelbraunen Schlieren, denn an der Oberfläche wurde experimentiert: Sie ist ein Ort zum Denken. Es besteht die Möglichkeit, dass das Werk eine ganze Weile da lag und auf das wartete, was noch vorbeikommen und seine Gestalt verändern könnte – dieses bescheidene Häufchen Plastiken, das in einem unbestimmten Raum gehalten wird–, nicht alt und nicht neu, keine Arbeit, aber auch nicht keine Arbeit, kein Archivgegenstand, aber auch nicht kein Archivgegenstand –, um ein relationales Leben anzunehmen (S. 126–127). Eine Version dieses Lebens ist, wenn Grosse die Plastik in die Hände nimmt und sie umschließt, dieser feste Griff, aber diesmal ist er zärtlich, ein wenig lose, das Wachs ist hart, als ob ein Muskelgedächtnis Belebung ermöglichen und sie und die Plastik verändern könnte – eine dingliche Zeitreise. Eine weitere Version ist die Einbettung in eine Überblicksschau in den riesigen Räumen des Kunstgebäudes in Stuttgart, wo sie zusammen mit ihren Mitgeschöpfen von 1987 bis heute präsentiert wird. Obwohl nicht als Ganzes chronologisch präsentiert, beginnt die Ausstellung mit einer unbetitelten Arbeit aus dem Jahr 1971 (S.13), was bedeutet, dass die 1961 in Freiburg im Breisgau geborene Künstlerin ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein muss, als sie die Arbeit geschaffen hat. Passenderweise handelt es sich um ein Ei, dessen Inneres ausgeblasen wurde, die Schale ist höchst zerbrechlich und mit Kreisen in Braun, Blau, Orange und Rot bemalt, die ein wenig an den zart gekrümmten Seiten herunterlaufen. Ecke‘ in der Kunsthalle Bern. Sie löschen sich nicht gegenseitig aus.“6 Die sogenannte grüne Ecke in Bern (Untitled, 1998) ist die erste von Grosse direkt auf die Wand gesprühte Arbeit, und es ist wirklich eine grüne Ecke: dunkel und üppig, so tiefgrün, dass sie in dem ansonsten makellos weißen Raum wie ein Schleier, Portal, Strudel erscheint. Das unheimliche Rechteck, dass die Galeriewände dort färbt und in sie ausblutet, wo sie im rechten Winkel aufeinandertreffen, weich an seinen äußeren Rändern, und ein wenig auf die Decke ausbreitend, ist in seiner sinnlichen Ästhetik wie ein exhumierter Rothko, und eine anarchische Brüskierung der Idee, dass Kunst höflich von Grenzen oder Rändern – seien diese physisch oder intellektuell – eingegrenzt sein kann oder sollte. Dieses Grün und seine rebellische Form, sein Drängen gegen die angeblichen Tugenden rechter Winkel, zeigt sich in Untitled, 1988 (S. 242/243), eine kleine Arbeit aus klobiger dunkelgrüner Knete, modelliert und geglättet, gezwickt und runzlig wie eine fremdartige Haut, und auf einem rechteckigen, salbeigrün bemalten Stück Karton mit gelegentlichen Akzenten von Senffarbe, Braun, Blau befestigt. Diese Farben verlaufen, man könnte sagen, sie finden einen Widerhall oder sickern in die Knete und beschmutzen sie in Kreisen und Dellen, die nur von Grosses Händen gemacht und intuitiv mit Farbe versehen worden sein können. In diesen Jahren, wie heute auch, arbeitete Grosse schnell an mehreren Werken. In ihrem Atelier imitiert sie sich selbst, um mir das zu zeigen, und flitzt hin und her, und ihre Hände landen vorsichtig auf einer imaginären Arbeit, ein wenig Farbe hier, eine andere dort. Dieselbe Energie ist auch in zwei unbetitelten Plastiken aus dem Jahr 1989 zu spüren; beide bestehen aus Wachs, Pigment und Leinöl, beide ungefähr in der Form dessen, was durch festes Zugreifen zustande gekommen sein könnte – der Raum zwischen zwei Händen, die in einem Kreis zusammenkommen und sich in Richtung Faust bewegen und eine grobe, konische, fast herzförmige Form festhalten. (Im Französischen sagt man für das Herz auf der Zunge tragen, avoir le coeur sur la main, das Herz auf der Hand haben. ) Eine der Arbeiten ist außen dunkel türkisfarben, innen verschmiert mit Wolken aus Grau, hellem Neongrün und Grüngelb,

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119 o. T. / Untitled, 1989 Ölfarbe auf pigmentiertem Paraffin Oil paint on pigmented paraffin 9 × 8 × 8,5 cm

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125 o. T. / Untitled, 1989 Pigmentiertes Paraffin Pigmented paraffin 7 × 19 × 14,5 cm

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155 o. T. / Untitled, 1989 Pigmentiertes Paraffin Pigmented paraffin 12 × 9 × 9 cm

156 In den Raum – über frühe Arbeiten von Katharina Grosse und einen Bruch Robin Detje

157 Im Juni 2024 stoße ich im Atelier von Katharina Grosse auf eine Reihe von Objekten, die ich am ehesten als klumpig in Erinnerung behalte. Fast alle sind auf einem Untergrund aus rechteckigem Karton befestigt, größer als DIN-A4 und kleiner als DIN-A3, und sie liegen nebeneinander auf langen weißen Tischen. Von dort aus wellen, bauschen und beulen sie sich auf. Die Arbeiten stammen aus den Jahren 1987 bis 1990, die noch zu den Studienjahren der Künstlerin gehören. Die Künstlerin sagt: „Ich habe Wege gesucht, in den Raum zu kommen.“ Mehr sagt sie nicht, weil ich sie gebeten habe, mich mit den Arbeiten allein zu lassen. Die Objekte auf den weißen Tischen werben nicht um die Blicke der Betrachtenden. Das Anziehende an ihnen ist das Unansehnliche: Gedeckte Farben, die alt aussehen, wie Buchumschläge aus den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Von der Materialität her oft halb opak, wächsernes Wachs, wächsernes Polyethylen, das sich wellt, als wäre es zu heiß geworden, mit Ölfarbe begossen oder bestrichen. „Alles hinten verspaxt“, sagt die jetzt im 21. Jahrhundert angekommene Künstlerin, dreht eine der Arbeiten um und zeigt die Schrauben vor. „Alle haben damals gespaxt.“ Diese Arbeiten haben etwas Schartiges oder auch Glibbriges, etwas von Alchemie – zusammengegossene Flüssigkeiten, die nicht zusammengehören wollen, Hügelland. Anderswo erheben sich plötzlich kleine bunte Tafelberge, wie Sockel für noch zu schaffende Skulpturen. Plastilin und Leinöl, ein Hauch Kinderzimmer, ein Hauch Modelleisenbahn. Miniaturen zur Landschaftsgestaltung auf einem fernen Planeten, für ein Paralleluniversum. Paradoxerweise wirkt das, was da in den Raum will und soll, manchmal gedrängt und gestaucht – viel Wollen ohne Befreiung. Geballte Kraft, vielleicht auch Wut. Manches erzählt vielleicht auch von der Unbedingtheit, mit der sich eine junge Künstlerin an der Akademie in den Raum hinein experimentiert. Ein Raum, der in der Kunst von wilden Männern beherrscht wird, die alle Größe wie selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Interessanterweise zeigt mir der Blick auf die Bilder der Arbeiten später, dass sie weniger klumpig sind, als ich sie in Erinnerung hatte. Die klumpigen sind mir nur stärker im Gedächtnis geblieben, zur Faust geballtes Plastilin. Eine Werkphase. „Dann gibt es irgendwo einen Bruch“, sagt die Künstlerin und lässt den Satz in der Luft hängen. Ich vollziehe den Bruch mit einer Reise nach. Sie katapultiert mich mitten in eine große Arbeit der Künstlerin, die gerade in Nordfrankreich ausgestellt wird: Shifting the Stars im Centre Pompidou-Metz. Sie wurde für eine Ausstellung in Sydney entwickelt und für Metz angepasst. Die Installation ist begehbar, und auch jenseits ihres eigenen Horizonts aus Stoff, vor den Museumsfenstern, setzt sie sich auf dem Asphalt fort. Das ist keine Arbeit, die in den Raum hinaus will – sie ist der Raum, und sie ist es so sehr, dass sie, ist man erst einmal in ihrem Inneren, alle Vorstellungen von einer Außenwelt übermalt. Sie besteht aus Tüchern, vernäht zu einem gigantischen Gebilde, das von der Decke hängt, Falten wirft und den Raum umschließt. Die Tücher wurden satt mit Farbe besprüht, beworfen. Auch den Boden bedeckt der farbgetränkte Stoff, und wenn man die Kunst erleben will, muss man auf ihr herumtrampeln. Von der Farbigkeit her ist das Ganze – bunt. „Bunt“ ist vielleicht das falsche Wort, es klingt nach Kinderzimmer, Geschenkpapier. Trotzdem fällt mir kein anderes ein. Die Farben sind da. Sie kämpfen nicht miteinander, sie drängen sich nicht mit eigenen Interessen in den Vordergrund, das Gesamtbild ist ausgeglichen. Die Farben sind anwesend, aber es geht nicht um sie. Dabei gibt es keine Zufälle, keine Wahllosigkeit: Wenn man sie fragt, wird die Künstlerin die Auswahl jeder einzelnen Farbe, jeder Farbkombination begründen. Das Zufällige (das „Natürliche“, wie man fast sagen könnte, wenn es um Farb-Rinnsale geht, die beim Sprayen entstanden und am Stoff hinuntergelaufen sind) kommt in den Arbeiten dieser Künstlerin also wahrscheinlich ganz allgemein nicht in Form von Nachlässigkeit vor. Zufall wird kontrolliert verarbeitet.

160 Into Space – Katharina Grosse’s Early Works and a Rupture Robin Detje

161 In June 2024, during a visit to Katharina Grosse’s studio, I discover a series of objects that I remember most as being clumpy. Almost all of them are attached to a base made of rectangular cardboard, larger than A4 and smaller than A3 size, and they lie next to one another on long white tables, from which they curve, bulge, and buckle upwards. The works date from the years 1987 to 1990, when the artist was still a student. The artist says, “I was looking for ways to come into the space.” She says no more, because I have asked her to leave me alone with the objects. The objects on the white tables do not seek to capture the gaze of the beholders. The enticing thing about them is their unsightliness: subdued colours that appear old, like book jackets from the 1920s. In terms of materiality, often half opaque, waxen wax, waxen polyethylene that undulates as if it has become too hot, cast or painted with oil paint. “Everything screwed in the back,” the artist says, now arrived in the twenty- first century, she picks up one of the objects and turns it around, showing the screws: “Everyone used screws at that time.” There is something jagged or sticky about these works, an element of alchemy, fluids flow together that don’t want to belong together, a hilly landscape. Elsewhere, suddenly little colourful flat-top mountains emerge, like plinths for sculptures yet to be created. Plasticine and linseed oil, a hint of children’s room, a hint of model railway. Miniatures for landscape design on a distant planet, for a parallel universe. Paradoxically, what wants to and should expand in the space sometimes seems compacted and compressed: a great deal of will without liberation. Concentrated power, perhaps anger as well. Some of this perhaps attests to the absoluteness with which a young artist at the academy is working into the space. A space that was dominated in the art world by “wild” men that claim all greatness for themselves, as if it were a given. Interestingly, looking at pictures of the works later reveals that they are less clumpy than I remember. The clumpy works just stuck out in my memory, Plasticine crumpled into a fist. One phase in her oeuvre. “Then there’s a rupture at some point,” the artist says, leaving the sentence hanging in the air. I mark this rupture with a trip: this journey catapults me to the midst of a work by the artist that is being exhibited in northern France: Shifting the Stars at Centre Pompidou-Metz. It was originally developed for an exhibition in Sydney and is now being adapted for Metz. The installation is accessible, and it continues on the asphalt outside the museum’s windows, beyond its own horizon of fabric. This is not a work that wants to expand into the space, it is the space, so much so that once one is inside it, all notions of an exterior world are painted over by it. It consists of sheets, sewn together to form a gigantic structure that hangs from the ceiling, casts folds and embraces the room. The sheets were sprayed, pelted with paint. The paint-soaked material also covers the floor, and to experience the work, it’s impossible to avoid trampling on it. The whole thing is very, well, colourful. “Colourful” is perhaps the wrong word, that sounds like the nursery, like wrapping paper. All the same, no other word occurs to me. The colours are there. They do not fight one another, they do not push with their own interests to the foreground, the overall impression is balanced. The colours are present, but it’s not about them. But there are no coincidences, there is no indiscriminateness. If you ask the artist, she will be able to explain the choice of each individual colour, each colour combination. The “coincidental” aspect of the works by this artist – or rather, their “natural aspect,” one might almost say, when it’s about trickles of paint that result from spraying and drip down the fabric – thus probably results quite generally not from negligence of any kind. Coincidence is processed in a controlled fashion. In her early works I once saw pieces from the landscape of a model railway. Now, after getting to know Katharina

162 I find myself in a work that with its title claims to intervene in the celestial skies. In an installation that is full of colours, but not really colourful, as if the sole function of colour is to make form available to experience. An installation that seems light, but requires heavy equipment to create. I find myself in a space dominated by paradoxes. There is the famous paradox of omnipotence: can an all-powerful goddess create a stone that she is unable to lift? Is there not only a paradox of omnipotence, but also a paradox of vulnerability? Does an all-powerful goddess make herself vulnerable in executing her omnipotence? Would she still be omnipotent if she admits her vulnerability? Is vulnerability always something that diminishes power? There is another work phase of the artist: sculptures that look like crashed spaceships on a distant desert planet, worn down by sand storms, the tips so pointy and the edges so sharp that they can generate fear. A work like Shifting the Stars would have no chance against the attack of such a spaceship, it would have destroyed it in just seconds. Hopefully, the different phases in the oeuvre of this artist won’t declare war upon one another. Since the artist told me that she was interested in yoga and the 2500-year-old Bhagavad Gita, a key mystic text of Vedic India, I go on a further journey. I land on the battlefield of Kurukshetra. Arjuna is a son fathered by a divinity, his charioteer is the incarnation of a god and is named Krishna. He rides Arjuna through the troop lines of two large armies. Arjuna is a member of one of them, and members of his family fight on both sides. Arjuna wonders whether he should slaughter family members, and Krishna gives him lessons that have to do with sublimity and glory, with collecting and the true self that can be found, but needs to be sought out in a disciplined way. But most importantly, it’s about making Arjuna ready to assert his family’s claim to country and throne as a warrior. A claim to land! Spread out legally! That sounds familiar. India is a subcontinent where the earth’s crust is especially thin, closer to the fires of hell than all others, and I was there once. The general flammability and the Hindu culture of affect frightened me a great deal. Most of Grosse as a star shifter, I see testimony to cosmic events, thunderbolts, traces of lightning strikes. Geology. The star shifting is contained in the small hilly landscapes and table mountains, it can be no different. And yet they are not heavy. If we took them all together, what would they weigh on the scales? Not much. Do the works of Katharina Grosse have any weight at all? What weighs on the landscape or on the cloth, the paint sprayed onto Styrofoam? Is that an interesting question? A mist, a nothing, and at the same time a conquest, a war. A beautiful breeze and a clap of thunder. The early works have a single clear purpose: to help the artist to enter the space. Then there’s a rupture. After this rupture, it seems, as a matter of course she lays claim to the entire space, whether in nature or indoors. She covers it with paint or fabrics, she sticks large jagged sculptures between trees. Expansive here means: she takes hold of space. She works in so many weight categories and with so many materials that there seem to be no limits for her in the studio. And yet, she cannot place anything in the landscape without directing our gaze to the borders separating what she places in it and the wild land not yet explored by her art. But by feeding half tree trunks with some of the roots still on them into her work, she also lays a claim to the territory of wild nature. I am surprised by how much the artist subjects her work to the public, to the footsteps, the access of visitors. How vulnerable she makes itself. The more one expands, the larger the prone surface becomes – and the works by this artist expand quite a bit. And yet, the word “vulnerability” seems to surprise the artist: she will have none of it. Can an artist create a work that is so expansive that the pure gesture of taking hold of the space can only be interpreted as a gesture of power, but where the material, translucent fabric, is so vulnerable that it is impossible to imagine that it would refer to something else than the vulnerability of the artist herself?

163 the dear, good gods had many arms and a cruel streak, especially the blue-skinned Kali, named black, who dances with the severed heads and arms of other beings on her husband Shiva. Shiva seems quite satisfied in most depictions. Kali is said to be the world creator and destroyer at the same time. This sounds paradoxical. Admitting contradictions, a divinely commended image of creation and destruction as a unity, as a being, triggers strong cognitive dissonances in me. My question is not what glory and the sublime are or whether there is something like a true self that I could reach by practising the techniques of a certain yoga school. My question is whether Krishna and Arjuna, Kali and Shiva would seek the creative process of the artist Katharina Grosse to depict their own understanding of legal space appropriation, of world creation and obliteration in a performance. Of course, every play with sublime words, every holy ritual act, every major act of art is to a certain extent always in part a fairground act. But these overlapping fairground numbers share the subject of space, which absorbs many contradictions without extinguishing their fire. I catapult myself back to the studio of the artist, to my favourite clump in the room with the early works. It arches up to me, its surface slightly porous in its folds. It is complex and puzzling, yet banal. It reminds me of bread. Luckily, a beautiful surface, no matter how many contradictions it might envelop, is always also a beautiful surface. And the work of Katharina Grosse is rich in beautiful surfaces. She prepares everything for us, the gaze remains hanging on the surface, the texture of the material, the rich clots of paint that trace out the emergence of a complex work. Surface and profound meaning can be one, but surface is always the beginning.

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165 o.T. / Untitled, Staatsgalerie Stuttgart, 2025 Leinwand, Aluminium, Holz Canvas, aluminium, wood Variable Maße / Dimensions variable

194 o. T. / Untitled, 1987 Gouache auf Polyethylen Gouache on polyethylene 46 × 39,5 × 4,5 cm

195 o. T. / Untitled, 1987 Gouache auf Polyethylen Gouache on polyethylene 47 × 39 × 3,5 cm

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217 o. T. (Detail) / Untitled (detail), 1989 Ölfarbe, pigmentiertes Paraffin und Plastilin auf Karton Oil paint, pigmented paraffin and Plasticine on cardboard 34 × 43,5 × 8 cm

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239 o. T. / Untitled, 1989 Ölfarbe, pigmentiertes Paraffin und Plastilin auf Karton Oil paint, pigmented paraffin and Plasticine on cardboard 33 × 43 × 4 cm

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281 The Blue Orange, Vara, 2012 Acryl auf glasfaserverstärktem Kunststoff Acrylic on glass-fibre reinforced plastic Variable Maße / Dimensions variable

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293 Two Younger Women Come In and Pull Out a Table, De Pont museum voor hedendaagse kunst, Tilburg, 2013 Acryl auf Erde und Styropor Acrylic on soil and Styrofoam 250 × 440 × 330 cm

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305 o. T. / Untitled, 2020 Acryl auf Schichtholzplatte Acrylic on plywood 324,5 × 240 × 4,8 cm

“I catapult myself back to the studio of the artist, to my favourite clump in the room with the early works. It arches up to me, its surface slightly porous in its folds. It is complex and puzzling, yet banal. It reminds me of bread.” „Ich katapultiere mich zurück ins Atelier der Künstlerin, zu meinem Lieblingsklumpen im Raum mit den frühen Arbeiten. Er wölbt sich mir entgegen, seine Oberfläche ist in ihrer Faltung leicht porös. Sie ist komplex und rätselhaft, aber auch banal: Sie erinnert mich an Brot.“ Robin Detje

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