Leseprobe

Baudelaires Fleurs du Mal und die Kunst Für die Sammlung Scharf-Gerstenberg, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin herausgegeben von Kyllikki Zacharias

4 Les Fleurs du Mal 12 Das Schöne ist immer bizarr KYLLIKKI ZACHARIAS Les Fleurs du Mal 17 Blüten der Moderne 36 Charles Baudelaires Blumen des Bösen und die Folgen BENJAMIN LOY Böse Blumen 43 Depressio� 55 Am Horizont das verlorene Paradies 64 Formen der Grenzüberschreitung bei Baudelaire DIETHELM KAISER Eros und Rausch 73 Krankheit und Verfall 85 Blüten der Versuchung 94 Manifestationen »böser« Sexualität in der Kunst der Avantgarde FRANK SCHMIDT 102 »Im Circe-Bann des Opiums« Schlafmohn und Rausch in Literatur, Musik und Kunst SASCHA M. KLEIS 109 Surrogate 121 Kitsch 132 Queere Blumen THOMAS RÖSKE 137 Blumen des Grauens 148 Wie die Blume böse wurde HANS VON TROTHA 154 Zum Beispiel: die Narzisse OLIVER SEIFERT 163 Irr�ärtnerei 168 Ausgestellte Werke 175 Bildnachweis 176 Impressum Das Schöne ist immer bizarr 12 KYLLIKKI ZACHARIAS 15 Les Fleurs du Mal Blüten der Moderne 36 Charles Baudelaires Blumen des Bösen und die Folgen BENJAMIN LOY 43 Böse Blumen 55 Depression Am Horizont das verlorene Paradies 64 Formen der Grenzüberschreitung bei Baudelaire DIETHELM KAISER 73 Ero� und Rausch 85 Krankheit und Verfall Blüten der Versuchung 94 Manifestationen »böser« Sexualität in der Kunst der Avantgarde FRANK SCHMIDT »Im Circe-Bann des Opiums« 102 Schlafmohn und Rausch in Literatur, Musik und Kunst SASCHA M. KLEIS 109 Surrogate 121 Kitsch Queere Blumen 132 THOMAS RÖSKE 137 Blumen des Grauens Wie die Blume böse wurde 150 HANS VON TROTHA Zum Beispiel: die Narzisse 156 OLIVER SEIFERT 165 Irr�ärtnerei Werkverzeichnis 170 Bildnachweis 175 Impressum 176 Inhalt

Das Sist cihmönmeer �izarr Kyllikki Zacharias

13 Du hast mir deinen Schmutz gegeben und ich habe daraus Gold gemacht. CHARLES BAUDELAIRE 1861 · ÜBER DIE STADT PARIS Artaud: Hat der Surrealismus noch immer dieselbe Bedeutung für die Gestaltung oder die Unordnung unseres Lebens? Breton: Das ist der Schmutz, der allein aus Blumen besteht. LA RÉVOLUTION SURRÉALISTE · MÄRZ 1928 Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen kurz nacheinander zwei grundlegende Schriften, in denen es um eine neue Bedeutung des Hässlichen und des Bösen geht: die Ästhetik des Häßlichen (1853) des deutschen Philosophen Karl Rosenkranz und Les Fleurs du Mal (1857) von Charles Baudelaire. Versuchte der heute nahezu unbekannte Philosoph, in einer allgemeinen Ästhetik neben dem reinen Schönen und Guten auch dem Hässlichen einen Platz einzuräumen, so unternahm der Dichter das Wagnis einer Gratwanderung, die ihn zu einem der berühmtesten Vertreter der Moderne machen sollte. Anders als Rosenkranz, dem es um die Rettung eines in sich ausgewogenen Gesamtsystems ging, erkannte Baudelaire die Unmöglichkeit dieses Unterfangens. Obwohl auch er die Idee eines übergeordneten Schönen und Guten nie aufgab (er bezeichnete sich gar als gläubigen Katholiken), war sich Baudelaire des immer weiter aufklaffenden Abgrunds bewusst, der seine Lebenswelt von den hehren Idealen trennte. Angesichts einer sich durch die Industrialisierung rasant verändernden Welt (Baudelaire sprach von »Amerikanisierung«) setzte im 19. Jahrhundert eine »Umwertung aller Werte« (Friedrich Nietzsche, 1886) ein, die jedes auf Tradition und Glauben basierende statische Wertesystem, wie Rosenkranz es noch zu verteidigen suchte, ins Wanken brachte. Aus heutiger Sicht lassen sich Baudelaires Fleurs du Mal als kongeniale Vorboten einer neuen ästhetischen Wahrnehmung verstehen, in der das Schöne auch hässlich oder böse sein kann. Die bildende Kunst spielt nicht nur in Baudelaires ästhetischen Schriften, sondern auch in den Fleurs du Mal eine wichtige Rolle: Es werden Kunstwerke beschrieben oder Künstler genannt, die Baudelaire verehrt – angefangen mit Leonardo, Rubens und Rembrandt über Francisco de Goya bis hin zu Eugène Delacroix. Auch sprachlich sind in seinen Gedichten Wort und Bild eng miteinander verknüpft – man denke nur an das mächtige Bild des verwesenden Eselkadavers, das 1929 in einem der wohl berühmtesten Filme der Surrealisten, Un chien andalou von Luis Buñuel und Salvador Dalí, wieder auftaucht. Für die Surrealisten waren das vermeintlich Hässliche und Böse der magische Zauberschlüssel für eine gänzlich neue Ästhetik. Sie liebten Lautréamonts Gesänge des Maldoror oder die Schriften des Marquis de Sade und setzten sich für Verbrecherinnen ein, um dem kunst- und literaturbeflissenen Establishment Wege in eine andere, bis dahin unbekannte Welt aufzuzeigen. Niemals ging es dabei um die Zerstörung an sich, immer um eine Dekonstruktion des vermeintlich Guten, das dem Neuen, Unerprobten das Existenzrecht verwehrt. »Das Schöne ist immer bizarr«, schrieb Baudelaire in einer Besprechung des Pariser Salons von 1855. Und in seinem Tagebuch notierte er: »Ich habe die Definition des Schönen gefunden – meinen Schönheitsbegriff. Etwas zugleich voller Trauer und voll verhaltener Glut, etwas schwebend Ungenaues, das der Vermutung Spielraum läßt« (Raketen, 1855 –1862). Die Ausstellung Böse Blumen ist eine Gratwanderung. Sie wirft einen Blick in menschliche Abgründe und gerät an die Grenzen des guten Geschmacks. Keinesfalls will sie die Dichtungen Baudelaires illustrieren. Sie ist nicht systematisch und hält keine Lehren bereit. Sie ist selbst ein Strauß wilder Blüten, verheißungsvoll, giftig und hoffentlich stilblütenfrei.

14 FÉLICIEN ROPS Le calvaire. Die Kreuzigung Aus der Serie Les Sataniques · um 1882

Die unbebilderte Erstausgabe der Fleurs du Mal, 1857 in Paris erschienen, wurde wegen »Beleidigung der öffentlichen Moral« verboten. Baudelaire ließ 1861 eine zweite, bereinigte und zugleich erweiterte Ausgabe folgen, für die er diesmal auch eine Illustration als Frontispiz plante. Félix Bracquemond schuf nach seinen Vorgaben verschiedene Varianten, die Baudelaire allerdings ablehnte, weil er sie lächerlich fand. Schließlich gelang es Félicien Rops, mit dem Baudelaire sich angefreundet hatte, für die belgische Ausgabe der in Frankreich inkriminierten Gedichte unter dem Titel Les Épaves (Strandgut) eine Grafik zu schaffen, die den Vorstellungen des Dichters entsprach. Im Zentrum erscheint der zum Skelett mutierte Baum der Erkenntnis, umgeben von Pflanzen, die die sieben Todsünden symbolisieren: Schlangenwurz steht für den Neid (invidia), der verrottende Baumstamm für Faulheit ( pigritia), das Knabenkraut für die Wollust ( libido), die Sonnenblume für Stolz (superbia), die kaktusartige Stachelpflanze für Zorn ( ira), die gierig raffenden Wurzelhände für Geiz (avaritia) und die Melone für Völlerei (gula). Darüber hält eine dunkle Chimäre das Medaillon Baudelaires in die Höhe, während unten ein Pegasus-Skelett kauert, an dem ein Schild lehnt, der die Sünden in ihr Gegenteil verkehrt: Der Strauß mit einem Hufeisen im Schnabel steht alten Emblem-Büchern zufolge für die Tugend, worauf auch die Inschrift verweist: virtus durissima coquit (Die Tugend erweicht auch das Härteste). Odilon Redon hat Baudelaire nicht mehr persönlich kennengelernt. Gleichwohl sollten die Gedichte und Schriften des Dichters für Redons gesamtes Schaffen von fundamentaler Bedeutung sein, wie sich auch anhand einzelner Motive, etwa dem des abgeschnittenen Kopfes (siehe hierzu das Gedicht Eine Märtyrin), belegen lässt. 1890 entstanden neun Radierungen zu einzelnen Textstellen aus den Fleurs du Mal. | KyZ LesFleurs du Mal

16 FÉLIX BRACQUEMOND Ohne Titel · 1857 Unpubliziertes Frontispiz für Les Fleurs du Mal

17 FÉLICIEN ROPS Frontispiz für Les Épaves (Strandgut) von Charles Baudelaire · 1866

26 RENÉ MAGRITTE Les Fleurs du Mal · 1946

Hatte sich Baudelaire zunächst auf die Kunst bezogen, so setzte umgekehrt schon kurz nach dem Tod des Dichters eine bis heute fortdauernde Wirkung der Fleurs du Mal auf die Kunst ein – mit Werken, die explizit auf den Titel des Gedichtbandes Bezug nehmen oder auf einzelne darin enthaltene Gedichte, wie die Gemälde von Eugène Laermans oder Albert Birkle, die sich auf Les petites vieilles (Die kleinen Alten) beziehen. Daneben lassen sich etliche Werke auch indirekt auf Baudelaires Gedichtband beziehen. Ein solcher Zusammenhang lässt sich etwa bei Hannah Höch vermuten, die neben dem Gemälde Les Fleurs du Mal von 1922–1924 wenig später ein weiteres schuf, in dem eine riesenhafte Blume mit schwarzen Staubblättern erscheint (Die Treppe, 1923–1926). Auch für Kees van Dongens bereits 1910 entstandenes Blumenstillleben, aus dessen Mitte ein riesiges Auge den Betrachter anblickt, lässt sich ein Bezug vermuten: In einem der berühmtesten Gedichte der Fleurs du Mal, den Correspondances, spricht Baudelaire von einem »Wald von Symbolen«, die nicht wir, sondern die uns anblicken. | KyZ

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29 ALBERT BIRKLE Die kleinen Alten · 1923 ◀ EUGÈNE LAERMANS Les Fleurs du Mal · 1891

54 ULF SOLTAU Aus den Gärten des Grauens · 2019

Depressio� »Spleen und Ideal« ist der erste und größte Abschnitt der Fleurs du Mal überschrieben. In der Ausgabe von 1861 umfasst er 85 von insgesamt 126 Gedichten. In antithetischer Konstellation zum Ideal – die Opposition der beiden Begriffe bildet gewissermaßen das Grundgerüst des gesamten Bandes – entfaltet der »Spleen« ein ganzes Spektrum von Bedeutungsnuancen. Im Französischen gern mit ennui (Langeweile) in Verbindung gebracht, lässt spleen sich auch als Melancholie oder Schwermut übersetzen, als Niedergeschlagenheit, Verdruss oder Ärger bis hin zur tiefen Trostlosigkeit und Depression. Der Baudelaire’sche »Spleen« ist die Verzweiflung an einer Welt, die dem Ideal von Schönheit, Gerechtigkeit und Harmonie nicht entsprechen kann – eine Depression, der der schöpferische Funke aber (oder gerade deswegen) noch nicht abhanden gekommen ist. Angesichts einer durchrationalisierten und durchkapitalisierten Welt (ein Topos, der sich schon bei Edgar Allan Poe findet, den Baudelaire mit seinen Übersetzungen berühmt gemacht hat) ist es gerade das Wachstum der »Blüten des Bösen«, das neue Hoffnung verleiht. Die von Ulf Soltau gesammelten Gärten des Grauens sind Zeugnisse einer nun schon seit Jahren um sich greifenden Mode, Vorgärten in Steinwüsten zu verwandeln. Sonderbarerweise scheint gerade die Nähe zur Natur – die meisten dieser Vorgärten sind in ländlichen Gegenden zu finden – den Wunsch nach einem gefängnisähnlichen Milieu zu wecken. In diesen kunst- und poesiefernen, von Ordnungszwang dominierten Arealen scheint nicht allein die Arbeit, sondern jegliches Tun zum Tode verurteilt. Welch deprimierende Aussicht – wenn nicht auch hier bisweilen die »Blüten des Bösen« austreiben würden, etwa in der Gestalt einer riesenhaften Phallus-Konifere, flankiert von hodenartigen Gebüschen, die in einer überraschend ironischen Wende dem gesamten lebensfeindlichen Projekt hohnspricht. | KyZ

60 ANONYM Karthago, Porträt Frau v. Schuler vor einer Kaktee · 1969

61 CARL SPITZWEG Der Herr Pfarrer als Kakteenfreund um 1855

B�üten Versudcehrung Frank Schmidt Manifestationen »böser« Sexualität in der Kunst der Avantgarde

95 »Der Weg des Lebens sollte mit Blüten bestreut sein!« Für den Spaziergänger in Honoré Daumiers Lithographie ist das Motto mit einer schmerzhaften Erkenntnis verbunden, wobei ihm nicht Blumen, sondern deren Töpfe zum Verhängnis werden. Mit voller Wucht hat eines der Gefäße seinen Zylinder getroffen und ihm die Krempe bis auf die Nasenspitze hinuntergedrückt. Wie der Blumentopf zielt die 1840 in Le Charivari veröffentlichte Karikatur auf den Typus des Biedermannes.1 Blumen, in Töpfen, Beeten oder Sträußen, tauchen in zahlreichen Darstellungen Daumiers als Inbegriff des Spießbürgertums auf. Besonders heimtückisch kommt eine Szene aus den Bons Bourgeois daher, die 1846 ebenfalls in der Zeitschrift abgedruckt wurde. Sie zeigt einen älteren Mann mit Schlafmütze beim Gießen seines opulenten Fenstergartens. Parallel dazu führen uns seine innig an einer Blume riechende Frau und der Kommentar »Ein Musterhaushalt, seit dreißig Jahren pflegen sie die Tugend und die Levkojen!« vor Augen, dass die Blütenpracht hier einzig auf der verlorengegangenen Intimität des Paares gründet.2 Nicht latent, sondern ausgesprochen konkret manifestiert sich die Sexualität im selben Zeitraum in den Gedichten Charles Baudelaires.3 1857 erschien die erste Ausgabe der Fleurs du Mal und versetzte die Bourgeoisie mit ihrem Bouquet an gefühlten Tabubrüchen, Zumutungen und Verwerfungen in Aufruhr. Auf eine empörte Kritik folgten die Verurteilung des Autors wegen »Beleidigung der öffentlichen Moral« und das Verbot von sechs der enthaltenen Gedichte.4 Ein Blick darauf macht deutlich, an welchen Themen sich die Sittenwächter störten, stechen diese Gedichte doch sämtlich durch explizite Schilderungen der Sexualität hervor. fassten Karikaturen sich die beobachtete Realität mit der Imagination verbinde. Siehe Charles Baudelaire: Curiosités esthétiques. Paris 1868, S. 397–402; Claire Moran: Baudelaire, Daumier, and the Reinvention of History Painting. In: Dix-Neuf. Journal of the Society of Dix-Neuviémistes, 16,1 (2012), S. 49–61. 4 Die gegen Baudelaire verhängte Geldbuße von 300 Francs wurde später auf 50 Francs gesenkt. Zum Vergleich: Für seine Karikatur Gargantua war Daumier 1833 noch zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe und zur Zahlung einer Summe von 500 Francs verurteilt worden. HONORÉ DAUMIER Der Weg des Lebens sollte mit Blüten bestreut sein! In: Le Charivari, 2. Februar 1840 Yale University Art Gallery, New Haven HONORÉ DAUMIER Ein Musterhaushalt, seit dreißig Jahren pflegen sie die Tugend und die Levkojen! In: Le Charivari, 10. Juli 1846 Musée Carnavalet, Paris 1 Man denke in diesem Zusammenhang auch an die äquivalente Funktion des Motivs bei Carl Spitzweg. 2 Wobei »giroflée« mehrdeutig ist und neben Levkojen auch die spurenhinterlassende Ohrfeige bezeichnen kann. Siehe z.B. www.cnrtl.fr/definition/­ giroflée (11. Oktober 2024). 3 Baudelaires Wertschätzung für den Künstler äußerte sich nicht nur im 1866 veröffentlichten Epigraph Vers pour le portrait de M. Honoré Daumier, er bezeichnete Daumier auch als einen der wichtigsten Vertreter der zeitgenössischen Kunst, in dessen als moderne Historien aufge-

96 Der Baum der phallischen Erkenntnis Wenig überraschend ging gerade von den inkriminierten Inhalten ein besonderer Reiz aus, was sich mit einiger Verzögerung auch in bildkünstlerischen Verarbeitungen niederschlug. Für die erste im Zusammenhang mit den Gedichten Baudelaires veröffentlichte Darstellung gilt dies nur bedingt. 1866 erschien in Belgien der kleine Band Les Épaves, der neben 17 neuen auch die in Frankreich verbotenen Gedichte enthielt. Das von Félicien Rops angefertigte Frontispiz (Abb. S. 17) basiert auf einer Idee Baudelaires,5 der in einer zeitgenössischen Abhandlung über Totentänze auf eine Darstellung von Adam und Eva unter einem Skelettbaum gestoßen war.6 Die vielfach rezipierte Darstellung geht auf einen 1543 entstandenen Kupferstich Sebald Behams zurück, in dem der Tod die drohenden Konsequenzen des Sündenfalls mit wissendem Blick auf Evas Körper kommentiert.7 Allerdings war Baudelaire weder an der Vanitassymbolik noch an der frontalen Präsentation des nackten Stammelternpaares interessiert, sondern schlicht am Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, der ihm als idealer Vorspann einer Neuauflage der Fleurs du Mal vorschwebte.8 In Rops’ Radierung umwuchern die sieben Todsünden in Gestalt »böser« Pflanzen den Stamm des Baumes, wie in einem botanischen Garten sorgfältig beschriftet. Ein skelettierter Pegasus, ein Medaillon mit Straußenemblem und eine Chimäre mit dem Konterfei Baudelaires ergänzen die Komposition, deren vermeintliche Komplexität den Herausgeber zur Beigabe eines erläuternden Textes veranlasste.9 Eine geschlechtliche Konnotation erlaubt so nur die Schlange, die im Frontispiz nicht mehr, wie noch in der finalen Vorzeichnung, als Überbringerin des Apfels, sondern als ausschließlich phallische Anspielung vor dem Unterleib des Skeletts fungiert – Hélène Védrine zufolge ein deutlicher Verstoß gegen das theologische Konzept Baudelaires.10 Abgesehen vom Frontispiz der Épaves ließen illustrierte Ausgaben der Fleurs du Mal lange auf sich warten; auch weitere Gestaltungsideen für die Werke Baudelaires wurden aufgrund seines frühen Todes nicht mehr realisiert. So vergingen drei Jahrzehnte, bevor sich ab 1896 mit Armand Rassenfosse und Carlos Schwabe gleich zwei Illustratoren des Buchs annahmen, wobei insbesondere die Darstellungen der von Schwabe gestalteten, 1900 bei Meunier erschienenen Ausgabe eine auch in der zeitgenössischen Malerei auszumachende Tendenz erkennen lassen, frönen sie doch weitaus stärker dem Eros als dem Verfall.11 5 Nachdem Félix Bracquemond an der Umsetzung der Idee gescheitert war, zeichnete Rops für die finale Version verantwortlich. Siehe Claire Chagniot: L’image dans le livre: Meryon – Baudelaire – Bracquemond. In: Baudelaire, Due secoli di creazione / Baudelaire, Deux siècles de création. A cura di Ida Merello e Andrea Schellino. Genua 2021, S. 23–44, hier S. 37–41. 6 Eustache-Hyacinthe Langlois: Essai historique, philosophique et pittoresque sur les Danses des morts. Rouen: Lebrument, 1851, Tome II, Pl. VII. 7 Siehe Ellen Holtzman: Félicien Rops and Baudelaire: Evolution of a Frontispiece. In: Art Journal (London/ New York) 38,2 (1978), S. 102–106. 8 Siehe Hélène Védrine: Allégorisme fin-de-siècle. Les Fleurs du Mal illustrées par Armand Rassenfosse et Carlos Schwabe. In: Baudelaire, Due secoli (wie Anm. 5), S. 86–110, hier S. 88. 9 Rops bediente sich für sein Bildprogramm unter anderem bei der Iconologia Cesare Ripas, deren Motive er ins Negative verkehrt. Ebd., S. 90. 10 Für Baudelaire stand der Baum mit seinen kreuzförmig ausgebreiteten Armen im Fokus. Siehe Védrine, Allégorisme (wie Anm. 8), S. 89 f. 11 Es handelte sich in beiden Fällen um eine Luxusausgabe für einen ausgewählten Kreis. Die früher, unabhängig von Buchausgaben entstandenen Serien Odilon Redons und Auguste Rodins verfolgen eine abweichende Konzeption. Siehe Ida Merello: Les Fleurs du Mal di Odilon Redon. In: Baudelaire, Due secoli (wie Anm. 5), S. 45–67; Julien Zanetta: Rodin, Baudelaire: l’Enfer et les Fleurs. Ebd., S. 68–85. 12 Siehe hierzu den Aufsatz von Benjamin Loy im vorliegenden Katalog. 13 Siehe Ian Millman: Georges de Feure. Maître du Symbolisme et de l’Art nouveau. Paris-Courbevoie 1992, S. 36. 14 Ein erstes, mit Fleurs du Mal bezeichnetes Gemälde, das 1893 im Salon de la Rose+Croix ausgestellt war, lässt sich heute nicht mehr identifizieren. Der zwischen 1892 und 1897 bestehende, von dem Rosenkreuzer Joséphin Péladan ins Leben gerufene Salon bot zahlreichen Symbolisten ein Forum. Siehe Millman (wie Anm. 13), S. 40. 15 Die Andeutung findet im Handgestus der Hauptfigur eine Wiederholung. Fleurs du Mal, überall Wie sich an den »bösen« Blüten ausgewählter Werke zeigen lässt, erstreckte sich die von Walter Benjamin konstatierte europäische Wirkung der Fleurs du Mal auch auf die Bildkunst,12 mit einem erkennbaren Schwerpunkt – und einiger Verzögerung. Eingeleitet wurde die Wiederentdeckung des Werks 1886 vom griechischen Dichter Jean Moréas, der Baudelaire in seinem symbolistischen Manifest als Vorläufer der Bewegung pries. In der Folge beriefen sich zahlreiche Künstler auf Baudelaires Gedichte. Den sprachlichen Allegorien begegneten die Symbolisten dabei mit visuellen Verrätselungen ganz eigener Art, gemäß der Maxime, dass ein Kunstwerk seine Geheimnisse erst nach ausführlicher Betrachtung preisgeben, aber selbst dann seine Mehrdeutigkeit nicht verlieren dürfe.13 Kein Maler des ausgehenden 19. Jahrhunderts hat sich indes ausgiebiger an den erotischen Motiven Baudelaires abgearbeitet als Georges de Feure. Neben der Figur der Femme fatale verleihen in seinem Œuvre lesbische Liebespaare und weibliche Dämonen männlichen Ängsten und Fantasien der Zeit Ausdruck. Von den zahlreichen Auseinandersetzungen des Künstlers mit den Fleurs du Mal ist das 1895 im Salon der Société nationale des Beaux-Arts ausgestellte Gemälde La Voix du Mal eine der bekanntesten.14 Im Vordergrund des Bildes sitzt eine von emporragenden Blumenstängeln flankierte Frau gedankenverloren an ihrem Schreibtisch. Ihr linker Arm ruht auf einem Kissen, auf dem sie einen Teil ihres Goldschmucks abgelegt hat. Die Ringe und Armreife, aber vor allem das Gesicht und die erhobene Hand der Dargestellten werden durch die Lichtsetzung hervorgehoben. Ein Tintenfass, Feder und Papier lassen einen im Entstehen begriffenen Text assoziieren. Offen bleibt, ob wir Zeuge einer unvermittelten oder zielgerichteten Imagination werden. Großen Anteil an der ambivalenten Stimmung hat der Blick der Protagonistin, der sich in eine unbestimmte Ferne ebenso wie auf die Szene im Hintergrund richtet, wo sich zwei unbekleidete Frauen auf einer Lichtung einander zuwenden. Der reduzierte, die Struktur des Holzes einbeziehende Farbauftrag trägt dazu bei, die Szene als Fantasiekonstrukt erscheinen zu lassen. Während die auf dem Rücken liegende Frau, die potenziell mit der Protagonistin des Bildes identifiziert werden kann, ihr Gesicht und ihr Geschlecht verdeckt, zeichnet sich ihr offensiveres Gegenüber durch eine dunklere Tonalität der Haut, rotes Haar und die Andeutung zweier Hörner aus.15 Mit vorgehaltener Hand und der verführerischen

SEBALD BEHAM Adam und Eva · 1543 The Metropolitan Museum of Art, New York FÉLICIEN ROPS Entwurf für das Frontispiz zu Les Épaves von Charles Baudelaire · 1866 Museum voor Schone Kunsten, Gent GEORGES DE FEURE La Voix du Mal · 1895 Privatsammlung

108 GERD ROHLING Wasser und Wein · 1989–1996

Surrogate Strategien, dem Ennui des Lebens zu entkommen, gibt es viele. Neben Eros und Rausch sind es verschiedene Formen von Ersatz, mit denen man sich gerne behilft. Mit dem von Baudelaire für die Wirkung von Drogen geprägten Begriff der »künstlichen Paradiese« ließe sich auch die seit der Industrialisierung immer wilder wuchernde und nie versiegende Welt des Dekors beschreiben. Hier triumphieren Surrogate aus Plastik und Kunststoff – man denke nur an den riesigen Markt für Weihnachtsdekorationen, an weltweit agierende Imperien für Geschenkartikel oder nutzlose Einrichtungsgegenstände. Gerd Rohlings Gläser und Schalen (Wasser und Wein) erinnern zunächst an altrömisches Glas, bis man bemerkt, dass es sich um Kunststoffrelikte handelt, die der Künstler als Strandgut fand. Ihre betörende Schönheit verdankt sich einem natürlichen Alterungsprozess und täuscht zugleich darüber hinweg, dass es sich letztendlich um giftige Stoffe handelt, die die Meere verseuchen. Les Fleurs du Mal von Moritz Wehrmann entstanden hingegen auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. Mit einer speziellen Blitztechnik bei Tageslicht fotografiert, erscheinen die künstlichen Blumengestecke in kränklich-fahlem Licht. Ihre verrottenden Zweige recken sich gespensthaft in die Höhe – vor einem geheimnisvoll düsteren Hintergrund, der an die Blumenaquarelle von Barbara Regina Dietzsch erinnert. | KyZ

110 Vase · um 1900

111 Vase · um 1900

136 Abwurf der zweiten Atombombe über Japan in Nagasaki · 9. August 1945

Blumen des Grauens »Also, was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat.« Mit diesen Worten, öffentlich ausgesprochen auf einer Pressekonferenz in Hamburg, nur wenige Tage nach dem Anschlag auf die New Yorker Twin Towers am 11. September 2001, löste der Komponist Karlheinz Stockhausen einen internationalen Skandal aus. Das stundenlange Zeigen der entsetzlichen Szenen auf sämtlichen Fernsehkanälen wurde nicht diskutiert. Die Faszination durch die Ästhetik des Schreckens war keineswegs neu – ebensowenig wie der Umstand, dass es sich nicht um fiktionale Horrorfilme handelte, sondern um Abbilder der Realität. Bereits in den 1950er Jahren hielt die Ästhetisierung der Atombombe Einzug in die amerikanische Populärkultur. Als hätten die Atombombenabwürfe von 1945 in Hiroshima und Nagasaki niemandem wirklich geschadet, wurden Schönheitsköniginnen mit dem Titel »Miss Big Bang« oder »Miss A-Bomb« gewählt, Sticker, Plakate oder Tätowierungen von auf Atombomben reitenden Pin-up-Girls entworfen und entsprechende Popsongs geschrieben. Selbst ein Badeanzug wurde nach dem Atoll getauft, auf dem zahlreiche Kernwaffentests stattgefunden hatten: der bis heute beliebte Bikini. Inzwischen sind es die prächtigen, in allen Farben erblühenden Corona-Viren, die mithilfe künstlicher Intelligenz auf das Schönste vor Augen führen, was unser Leben zu bedrohen vermag, ohne wirklich zu schrecken. Während der von Fatos¸ · Irwen inszenierte Erdhaufen mit vertrockneten Baumwollpflanzen, um deren Köpfe sich Haare winden (Harvest of Time, 2023), einen geradezu existenziellen Schrecken hervorzurufen vermag. | KyZ

138 World Trade Center, New York · 11. September 2001

Photo By Det. Greg Semendinger, NYC Police Aviation Unit

140 COVID-19-Viruszellen, KI-generiert

Zum Beispiel: �ie Narzisse Oliver Seifert

157 Als Blume ist die Narzisse natürlich unschuldig, denn eine Pflanze steht ganz diesseits von Gut und Böse. Aber schon ihr Name, durch den sie in den Bereich menschlicher Kultur gezogen ist, wirft erste Schatten auf diese Unschuld: Zwar deutet er nur auf ihren betörenden Geruch (die Bedeutung des griechischen nárkē – »Lähmung, Schläfrigkeit« – ist durch das Wort »Narkose« auch heute noch jedem geläufig), aber er macht zugleich auch verständlich, warum die Narzisse im Totenkult eine Rolle spielte. Auf solche Zusammenhänge deutet immerhin ein beiläufiger Hinweis des Reiseschriftstellers Pausanias (2. Jh. u. Z.) auf den vor-homerischen Dichter Pamphos (also vor dem 8. Jh. v. u. Z.!), der wusste, dass Persephone in die Unterwelt entführt wurde, als sie dabei war, Narzissen (und nicht etwa Veilchen) zu pflücken. Und als Gegenstand eines eigenen Mythos gar offenbart sich ein ganzer Komplex von Liebe, Schuld und Tod, der die Narzisse (und ihren betörenden Duft) schon früh zu einem Symbol der Kunst überhaupt machte – und sie als solches eben nicht nur als harmlose »Dichternarzisse«, sondern auch als »böse Blume« erscheinen lässt. Doch der Reihe nach: Der Mythos ist uns ausschließlich in der hochliterarischen Gestalt überliefert, die Ovid dem Stoff gegeben hat (Metamorphosen, Buch III, Vers 339–510): Der schöne Jüngling Narziss, Sohn der (»lilienäugigen«) Nymphe Liriope und des Flussgottes Kephissos, verschmäht nicht nur seine zahlreichen Verehrer (und -innen), sondern auch die Nymphe Echo. Die Zurückgewiesene verzehrt sich vor Gram, sie vertrocknet. Ihre Knochen werden zu Steinen, nur ihre körperlose Stimme bleibt. Umgekehrt ergeht es Narziss: Dem Fluch eines schon früher abgewiesenen Liebhabers entsprechend, verliebt er sich an einer lauteren Quelle im Wald in sein eigenes Spiegelbild. Doch der Versuch, das Bild zu ergreifen oder zu küssen, muss misslingen. So verzehrt auch er sich und stirbt – wie es der Seher Teiresias vorausgesagt hatte – in dem Moment, da er erkennt, dass er selbst es ist, den er im Wasser sieht – und trotzdem nicht von diesem imaginären Geliebten lassen kann. Er »zerfließt« förmlich in dem von seinen Tränen bewegten Wasserspiegel. Es ist Echo, die die letzten Worte des Sterbenden wiederholt und ihm so ein Gespräch mit dem Bild vorgaukelt. Als man ihn beerdigen will, ist der Körper verschwunden, und an seiner Stelle finden die Waldnymphen die in Schönheit erstrahlende (und duftende) Blume, die bis heute an ihren natürlichen Standorten in der Nähe von ruhig fließenden Gewässern sich ihrem Spiegelbild entgegenneigt. Narzisse (links), in: Otto Brunfels: Herbarum vivae eikones, Straßburg, 1530–1536 Holzschnitt von Hans Weiditz

158 Was auch immer Ovid mit der Narziss-Episode sagen wollte (geht es wirklich nur um die Verwechslung des grammatischen Aktivums und Passivums?)1 – in den späteren christlich formatierten Versionen des Mythos, die sich seit dem 13. Jahrhundert häufen (vom Roman de la Rose um 1200 über den Ovide moralisé um 1300 bis hin zum Roman de la Rose moralisé und Le Jardin de Plaisance et Fleures de Rhétorique (!) um 1500), erscheint das Bild des in frevelhafter Selbstliebe befangenen Jünglings stark vereindeutigt: Der amor sui ist dem amor dei intellectualis diametral entgegengesetzt und gilt infolgedessen als Todsünde. Also ist der eigentliche Erfinder der »bösen Blume« das christliche Mittelalter. Bildliche Darstellungen der Narzisse findet man auch wegen dieser »Stigmatisierung« erst spät und zunächst nur in den moralisch wertfreien Kräuterbüchern. Wenn sie dann aber einmal bildwürdig geworden ist, dann eignet der Narzisse (die eindeutig niemals christologische oder marianische Bedeutung haben kann) immer jene charakteristische Ambivalenz barocker Bildlichkeit, die konstitutiv zwischen Sinnenlust und religiöser Weltverachtung changiert. Jan Brueghel d. Ä. etwa zeigt die Narzisse inmitten seines großen Blumenstilllebens (Version Mailand, 1606). Das Ensemble ist als Allegorie der Terra aufzufassen. Die Schönheit der irdischen Dinge wird zwar gefeiert (und ist als preisendes Gleichnis auf die territoriale Mächtigkeit des fürstlichen Empfängers gemünzt), aber nicht ohne hintersinnige Andeutungen auf Vergänglichkeit, Tod und Auferstehung der Seele (Schmetterling, Muschel). Entsprechend verhält es sich mit den Darstellungen des Narziss-Mythos: Caravaggio schildert zwar eindeutig den eitlen Jüngling, erkennbar an der bizarr geblähten Kleidung. Zugleich verleiht die Komposition dem Motiv aber eine sinistre Monumentalität, die den Betrachter unweigerlich in ihren Bann zieht und ihm das distanzierende Etikett »eitel!« gewissermaßen im Halse ersterben 1 So der Romanist Albert A. Gier, der hierzu (ohne nähere Quellenangabe) den klassischen Philologen Heinrich Dörrie (1911–1983) zitiert (Dörrie: »Narziß verwechselt Aktiv und Passiv«). A Gier: Rezension von: Ursula und Rebekka Orlowsky: Narziß und Narzißmus im Spiegel von Literatur, Bildender Kunst und Psychoanalyse, München 1992. In: Mediävistik 7 (1994), S. 283–284. JAN BRUEGHEL D. Ä. Blumenstrauß · 1606 Pinacoteca Ambrosiana, Mailand

MICHELANGELO MERISI DA CARAVAGGIO Narziss · vor 1600 Galleria Nazionale d’Arte Antica, Rom

160 NICOLAS POUSSIN Das Reich der Flora · 1631 Staatliche Kunstsammlungen Dresden lässt. Poussin führt in seinem Reich der Flora eine ganze Reihe von Blumen-Mythen zusammen. Neben Narziss stürzt sich Ajax aus Verzweiflung über die ihm vorenthaltenen Waffen des Achill ins Schwert (aus seinem Blut entsteht eine Blume; heute heißt die wundheilende Schafgarbe zwar nicht nach Ajax, aber nach Achilles). Auf der anderen Seite des Gemäldes sind versammelt: Hyacinthus (Liebling des Apoll, starb durch dessen unglücklichen Diskuswurf, aus seinem Blut entstand die Hyazinthe), Adonis (Geliebter der Venus, von einem Eber getötet; aus seinem Blut entstand das Adonis-Röslein) und Crocus mit der Nymphe Smilax (unglücklich Liebende, von den Göttern in Krokus und Winde verwandelt).2 Inmitten all dieser tragischen Gestalten tanzt Flora, die alte mittelitalische Göttin des Blühens der Pflanzen (und übrigens insbesondere des lebenswichtigen Getreides).3 Flora ist eine der großen Vegetationsgottheiten wie Demeter, Hades, Pluto, Adonis. Hier dämmert so etwas wie eine Ahnung von dem riesigen Umfang auf, den das Mythologem von der Göttin und ihrem Heros (Marija Gimbutas) in einer vor-griechischen, matriarchalen Kulturschicht gehabt haben musss. Der ganze Komplex der nach dem Winter-Tod wiederauflebenden Natur wird bei Poussin mythologisch gefasst. Gerade der Todesaspekt ist in dem Gemälde klar wie selten einmal präsent. Er drückt sich vor allem in der dramatisch abfallenden Sequenz aus, die von der stehenden Herme4 über den stürzenden Ajax zum kauernden Narziss reicht, die den heiteren Reigen um Flora herum anzutreiben scheint. 2 Alle Personen kommen in den Metamorphosen des Ovid vor, Flora in dessen Festkalender (Buch V). 3 Ovid setzt sie mit der griechischen »Charis« gleich – Hinweis auf die Schönheit der Blüten? 4 Die Herme meint wohl Priapus, denn dessen Fruchtbarkeit bringende Funktion ist im Reich der Flora schlechterdings unerlässlich.

161 Bis ins 19. Jahrhundert waren solche ambivalenten Narziss-Bilder eher die Ausnahme. Wie einsame Gipfel stehen die Werke Caravaggios und Poussins über dem Nebelmeer christlicher Konsens-Moral. Sie ergriffen intuitiv, was später die Psychoanalyse herausarbeiten würde und was ein wenig früher Dichter und Denker wie Baudelaire und Nietzsche ins Werk gesetzt haben. Gerade mit den Blumen des Bösen versuchte Baudelaire, die verteufelten Trieb-Gewächse der Seele gewissermaßen zu renaturalisieren (wenn so etwas möglich wäre). Denn natürlich kommt man nicht mehr ohne Weiteres in das Paradies vor der »Erkenntnis des Guten und des Bösen« zurück. Aber man kann, wie Nietzsche sagte, in ein »Jenseits« der gesellschaftlich sanktionierten Moral durchbrechen. Baudelaire geht es dabei weniger darum, die Gefährlichkeit der Triebe zu leugnen, sondern darum, das wuchernde Begehren trotzdem als den Stachel im (wissenschaftlich) gebändigten Fleisch anzuerkennen und (nicht ohne Verzweiflung) zu bezeugen. Nun spielt ausgerechnet die Eigenliebe keine explizite Rolle in Baudelaires Werk.5 Aber eine Generation später erkennt der siebenundzwanzigjährige André Gide in der Geschichte des Narziss die eigentliche Struktur des Symbols (Traité de Narcisse. Théorie du symbole, 1891). Er denkt die Narziss-Szene an der Quelle im Hain als Revindikation des verlorenen Paradieses durch den Dichter. Nach Gide verbleiben die kristallinen Wahrheiten hinter den fließenden Phänomenen. Sie sind es, die Narziss im Spiegel erblickt,6 und gerade nicht er selbst, sein Ego! Nur im »uneigennützigen Bezeugen« werden ihm die Phänomene zu Symbolen des Wahren. Gide statuiert: »Die einzige Aufgabe: zu manifestieren, die einzige Schuld: sich selbst zu bevorzugen.« Der Dichter »s’est volontierement et fatalement dévoué, jusque à la damnation, pour les autres«. Damit rückt ausgerechnet Narziss in die Erlöserposition Christi ein! Die solipsistische Selbstbespiegelung schlägt in der dichterisch »bezeugenden« (Selbstbe-)Schau um in die Opferung des Selbst. Von daher erklärt sich auch der Titel der Memoiren, Stirb und werde (1926), in denen Gide sich zu seiner Homosexualität bekennt. Auch hier fehlt übrigens nicht die Schilderung der Narzissen, die ihre Köpfe über die Wasser des Alzon bei Uzés neigen, wo Gide als Kind die Osterferien verbrachte. Sigmund Freud und in seiner Nachfolge Jacques Lacan transponierten diese symbolistischen Ahnungen in eine auf empirischer Beobachtung und sprachstrukturellen Konzepten basierende Theorie des Unbewussten, die bei Lacan zu den zwei zentralen Sätzen führte: »Das Ich ist ein anderer« und »Das Begehren ist strukturiert wie eine Sprache«. Verschiebung und Verdichtung (Metonymie und Metapher) sind die wesentlichen Vorgänge, mittels derer das Unbewusste und die verdrängten Triebregungen sich in Traum, Fehlleistung, Witz etc. Bahn brechen. Verblüffend ist nun die Rolle, die Narziss in diesem System zukommt. Lacan beschreibt, wie sich das kleinkindliche Ich, das ursprünglich nicht zwischen Ich und Anderem unterscheidet, im »Spiegelstadium« beginnt, sein imaginäres, »narzisstisches« Ego (»moi«) als imaginäres Ich überhaupt zu konstituieren. Im Spiegelbild – und nur da – ist es als Ganzes antizipiert, bevor der Säugling (6.–13. Monat) körperlich voll funktionsfähig ist. Zugleich beginnt im Spiegelstadium die Ablösung eines Objektes des Begehrens außerhalb des Kindes, das aber zunächst von dem imaginären Ich verdeckt ist. Im Zuge der weiteren Entwicklung lernt das Kind, durch die Reihe der »narzisstischen Kränkungen« seine Libido immer deutlicher vom imaginären Ich weg auf ein reales Du hinzuordnen. Diese Ablösung entspricht nun ziemlich genau der Symbolstruktur, die Gide beschrieben hat. Das »wahre Ich«, bei Freud das »Es«, bei Lacan das immer exzentrisch im Unbewussten verbleibende Subjekt (»je«) artikuliert sich immer nur indirekt im Traum, im Lapsus, im neurotischen Symptom oder im Witz. So wie der Dichter durch das fluktuierende Bild der Erscheinungen hindurch das »wahre« Symbol erkennt, so ist es die Aufgabe des Menschen, die narzisstischen Besetzungen seiner Wunschobjekte als imaginäre zu durchschauen. Dabei geht es Lacan weniger darum, dass da, wo (wie Freud formulierte) das unbewusste Es waltet, das bewusste Über-Ich herrschen solle, sondern umgekehrt darum, gegen diesen narzisstischen Egozentrismus die Exzentrizität des wahren Selbst zu betonen und die Gefahr anzuerkennen, die darin liegt, den Ich-Zentrismus (cogito ergo sum) als narzisstisch zu relativieren. Diese Einsicht sollte auch die Kunst verändern. Anhand von zwei prominenten Beispielen wollen wir kurz umreißen, wie die Figur des Narziss hier zum Tragen kommt. 1937 reiste Salvador Dalí nach London, um Sigmund Freud seine »paranoisch-kritische Methode« zu erläutern – und zwar am Beispiel der Metamorphose des Narziss. Vor der Höhle der Nymphe Echo neigt sich Narziss zur Kephissos-Quelle. Nach rechts verschoben kehrt diese Figur wieder, allerdings verwandelt in das steinerne Monument einer Hand, die anstelle des Narziss-Kopfes ein Ei 5 Auf dem von ihm selbst konzipierten Frontispiz erscheinen unter einem Skelett als dem »Baum der Erkenntnis« die sieben christlichen Todsünden in Gestalt stacheliger, wild-exotischer Blumen: Neid, Trägheit, Wollust, Hochmut, Zorn, Völlerei und Geiz. Eine harmlose Narzisse ist nicht dabei. 6 Genauer: Im Wasser spiegelt sich der Baum der Erkenntnis (bei Gide »Ygdrasil«), der im Rücken des Narziss steht. Hier scheinen unter anderem auch Aspekte des mittelalterlichen Rosenromans wirksam zu sein, wo die Quelle des Kephissos eine ähnliche Rolle spielt.

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