Leseprobe

Unbedingte Kommunikation — Die Skulpturen von André Tempel Kabelbinder, Schläuche, Regentonnen, Grabvasen, Eimer und wieder Kabelbinder. Immer wieder Gebinde. Gebunden wird ein rotes Schlauchgewusel zu protzigen Tentakeln, deren Enden wie Stielaugen aus einer roten Tonne lugen. Beides balanciert gequetscht, verzurrt am Stahlträger eines ehemaligen Elektrizitätswerks, sechs Meter über Kopfhöhe in Richtung Innenraum. Traglast 750 kg. Kein Problem. Das rote Gigagebilde steuert zu auf das Zentrum der einstigen Industriehalle, heute ein Kunstverein. Von der Seite peilt es einen Schwall gelber Schläuche an, die vom rostigen Querträger aus sieben Meter Höhe herabfallen wie die kiloschwere Haarsträhne einer elektrischen Riesenrapunzel. Gegenüber ragt etwas aus der Wand heraus. Wie eine tausendfach vergrößerte giftgrüne Plastikraupe aus Regentonnen, behaart mit spitz zulaufenden Stacheln scheint sich der Koloss durch das Mauerwerk gearbeitet und dabei noch etwas Flüssigkeit abgesondert zu haben. In Streifen fließt das Grün an der erdachten Durchbruchstelle zu Boden. Es ist kühl, es ist komisch, es verstört und ist trotz aller Assoziation fern jeglichem pittoreskem Naturalismus.1 Ready founds. Werkstoffe und Elemente aus Bau- oder Technikfachgeschäften bilden die Grundlage der Objekte des Dresdner Künstlers André Tempel. Er arbeitet in knappen Zeitfenstern, wie er selbst sagt, und geht dabei so pragmatisch wie ruhelos vor. Es muss schnell gehen, heißt es. Natür- lich geht es niemals schnell, denn Regale voller Kisten mit Skizzen, Mappen und Vor- entwürfen füllen das Atelier in Dresden-Cotta. Hier entstehen die Entwürfe. Teilweise am Computer, werden sie digital modelliert, perspektivisch berechnet und statisch ergründet. Neben 3D-Modellen aus Kaffeerührstäbchen stapeln sich hier raumhoch auch jene Dinge, die in Baumärkten erhältlich sind. Aus fertig vorgefundenen Gegenständen konstruiert der Künstler überproportionale Werke, die zu überproportionalen Reaktionen einladen. Diese superlativen visuellen Manifestationen lassen die Frage aufkommen, ob unsere technisierte, plastifizierte Industrieproduktewelt nicht doch so etwas wie ein organisches Eigenleben birgt. Etwas, das sich partout mitteilen möchte. Was erzählen die Dinge? Oder was erzählt der Raum um sie herum über sie? Symmetrisch, fein verästelt fällt aus den Fensterfugen der dritten Etage eines ehemaligen Harmonikawerkes vollkommen eigensinnig ein Schlauchschwall, der Schwerkraft folgend, frech nach unten. Ein Stockwerk darunter fließt er neugierig durchs mittlere Fenster wieder ins Innere des Gebäudes hinein. Hier entfaltet sich das Schlauchgebinde und ruht verfangen wie ein Teppich vor dem Fenster. Welche Klangvolumen dürften an dieser Stelle von innen nach außen gedrungen sein? Wurden sie hier als visuelle Erinnerung installiert oder geben sie tatsächlich einen neuen Klang ab? 2 Mitten in einem Leipziger Park findet sich die Ablage, so der nüchterne Titel für das raketenförmige Objekt in armeegrün mit roten Spitzen. Ist es vom Himmel gefallen und in der Astgabel auf knapp acht Meter Höhe hängengeblieben? 3 Die skulpturalen Installationen von André Tempel gehen ein Verhältnis mit ihrer Umgebung ein. Es ist eng und zugleich ironisch. Wie exzentrische Fundstücke wirken manche Werke. Es scheint, als könne man dem sie umgebenden Raum ebenso wenig trauen wie den Werken selbst. Beide weisen aufein- ander hin. Rohmaterialien wie verwobene Stretchfolie, gigantische Gymnastikbälle oder simpel zusammengezimmerte Holzlatten erzeugen räumliche Bilder. Wie fröhliche Parasiten breiten sie sich auf der Wirtsoberfläche einer grauen Fassade aus. Oder sie mäandern an einem vorhandenen Bildwerk entlang. Manchmal liegen sie einfach gemütlich auf einem Dach, sind zwischen Fassaden eingeklemmt oder ergänzen eine Grünfläche. Lange bevor jedes Kind wusste, wie ein Virus in vergrößerter Aufnahme aussieht, ließ André Tempel knapp dreimeterhohe schwarzstachelige Bälle wie furchterregende Blasen durch geordnete Buxbaum-Rabatten hüpfen.4 Seit gut einhundert Jahren, spätestens jedoch seit den 1960er Jahren, wird der klassischerweise auf Körperproportionen bezogene Skulpturbegriff systematisch von Künstlern hinterfragt und erweitert.5 Als unkünstlerisch geltende Materialien haben, ebenso wie das Prozessuale, fragile Strukturen oder Handlungsformen, Eingang in die visuellen Künste gefunden. Ganz gleich, ob Hartfaserplatte oder Gummiband, angehäufte Steine oder arrangierte Industriematerialien: Skulpturen entstehen immer weniger durch den traditionellen Vorgang, ein Bildobjekt aus Stein zu hauen. Eher verbildlichen sie die „Mechanismen von Zweideutigkeit und Sinneswahrnehmung“.6 Nicht die Körperlichkeit selbst, sondern deren Antrieb werden ins visuelle Werk übersetzt. Der oder die hierbei auf den Plan gerufene mitwirkende Rezipientin ist lange schon darin geübt, diese geforderten Übersetzungsleistungen der Kunst aktiv nachzuvollziehen. André Tempel möchte diese Übung nun allerdings noch ausweiten. Es genügt ihm nicht, das Verhältnis des Menschen zu seinem Gegenüber zu reflektieren. Ebenso wenig geht es ihm darum, ein historisches Ereignis, Personen oder Augenblicke zu monumentalisieren. Weitaus komplexer scheint er etwas zu veranlassen, das sich explizit dem Moment des Schauens selbst widmet. Diesen buchstäblich inklusiven Daseinsmechanismus bringt der Künstler auf den Punkt. Die Sekunde, in der seine Skulptur erstmals gesehen wird, provoziert. Sie überfordert visuell, ohne auf pure Überwältigungstaktik zu setzen. Vielleicht ähnlich wie beim Finden eines schönen, schmackhaften Waldpilzes, ruft die Entdeckung ein punktuelles Staunen hervor. Dieser kaum fassbare Moment verleiht den Werken den charakteristischen Sinn ihres temporären Daseins im öffentlichen Raum. Die Objekte machen übermannshohe, übervolle, übergroße Wahrnehmungsangebote. Sie fordern das herkömmliche Sehen heraus, denn sie sind zugleich seltsam wie einfach: Schalter umgelegt - Bewegung an, Schlauch rein - Stiefel voll. Zunge raus - Kuss, YES OR NO.7 Der Impuls soll irritieren. Er soll zur Reaktion einladen. Oftmals scheint es, als würde das Werk selbst die Konversation führen. Mitteilung über einen unbestimmten Moment der Veränderung gibt beispielsweise ein Holzwagenanbau voller gestapelter Kisten als Ergänzung zum bestehenden bronzenen Reiterstandbild. Es erhebt sich mit seinem hölzernen Gepäck über den repräsentativen Platz vor der Mall City Royal in Hanoi.8 In Dresden balanciert ein aus Holzbalken gezimmerter Mädchenkopf auf einer Verkehrsinsel. Ist es ein Ruf, ein Schrei, ein Lied, das visuell in die Stadt hineintönt? Passanten halten an und fragen. Andere wollen die Skulptur erklettern oder testen die Entflammbarkeit an der weit sichtbaren Konstruktion aus.9 Die Reaktionen fallen unterschiedlich aus. Gleich bleibt die Idee des Bildes, das den kurzen Moment eines Übergangs markiert. Im organisierten Mix aus Schockstarre und Hyperaktivismus entsteht das diskurswütige Werk. Es unterbreitet das großzügige Angebot, den Blick zu öffnen und sich auf eine unvorhersehbare Situation einzulassen. Die Skulpturen leben von der aktiven Wechselwirkung mit ihrem Umgebungsraum, die den Betrachter unabwendbar erfasst. André Tempels räumliche Objekte laden zur Verwunderung ein. Von Irritation über Freude, von Stress bis Gelassenheit, vom Feixen bis zur Trauer - seine Kunst lässt es zu. Sie eröffnet einen leichtfüßigen Zugang zum Sehen, Fühlen und Zweifeln für jeden, der einfach nur näher hinschaut. Über diese Handlungsformen gemeinsam zu sprechen, sich zu amüsieren oder nachzudenken, motiviert Tempels Arbeiten. Die räumlichen Bilder André Tempels fordern die unbedingte Re-Aktion. Wie der Künstler selbst prägnant zusammenfasst: Sie machen „Bock auf Kommunikation“. 4

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