21 Balandier wollte eine neue Methodik schaffen, um damit das seiner Meinung nach größte politische Problem seiner Zeit zu analysieren: das Entstehen von Nationalismen in der dekolonialisierten Welt. Zwei Jahre vor der Veröffentlichung seines Aufsatzes hatten innovative Denker in den Wirtschaftswissenschaften einen neuen theoretischen Rahmen geschaffen, um damit die Definition von Abhängigkeit in Bezug auf die internationale politische und wirtschaftliche Dynamik der dekolonialisierten Welt neu zu überdenken. Sie wurde als Dependenztheorie bekannt. Drei einflussreiche Studien3 befassten sich mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit ›unterentwickelter‹, dekolonialisierter Länder und zeigten deren Einbindung in einen internationalen Wirtschaftskreislauf auf, der sie von den entwickelten ›neokolonialen Märkten‹ abhängig machte. Die Grundaussage der Dependenztheorie besagt, dass die Wirtschaft bestimmter Länder durch die Entwicklung und Expansion anderer Länder determiniert wird.4 In den 1970er und 1980er Jahren war dies die vorherrschende Theorie zur Erklärung der wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit der Länder der (damals so genannten) Dritten Welt als Folge des Kolonialismus. Sie ging einher mit einer anderen Folge des Kolonialismus: einem ›Abhängigkeitskomplex der Kolonisierten‹. Im Jahr 1952 schrieb der französische Soziologe Georges Balandier1: »Der Begriff der Abhängigkeit, der häufig in der Volkswirtschaftslehre und der Psychoanalyse Verwendung fand, hat sich zu einem beliebten Erklärungsinstrument entwickelt, das auch von Journalisten verwendet wird.« In seinem grundlegenden Aufsatz über die ›Soziologie der Abhängigkeit‹ forderte er eine soziologische Definition dieses Begriffs, den er im Hinblick auf die kapitalisierte koloniale Welt der Nachkriegszeit als wichtig betrachtete. Um zeitgenössische Ereignisse zu interpretieren und erklären, müsse man Situationen der Abhängigkeit, der Beherrschung und der Unterwerfung sowie ihre sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen genau definieren. Balandier unterschied lokale, traditionelle Formen der Abhängigkeit, die fest in die soziale Struktur einer bestimmten Gesellschaft eingebettet sind, von Abhängigkeit, die als Mittel zur Unterwerfung fremder Gesellschaften eingesetzt wird. Das Kastensystem in Indien (Abb. 1 a–b) ist ein charakteristisches Beispiel für die erste Form der Abhängigkeit, die britische Kolonialisierung Indiens für die zweite. Beide Formen werden, ebenso wie die Minderwertigkeit, die sie implizieren und die durch sie geschaffene Ungleichheit, durch eine kulturelle Logik gestützt und legitimiert. Beide dienen als Kontrollmaßnahmen für verschiedene Bevölkerungsteile, wobei die Kontrolle auf jeweils unterschiedliche Art und Weise ausgeübt wird. Die Abhängigkeit, die im Zuge der britischen Kolonisation in Indien eingeführt wurde, trat in Konkurrenz zur lokalen Abhängigkeit im Kastensystem. In beiden Fällen handelt es sich jedoch um Abhängigkeit in Form einer ungleichen Beziehung, in der eine Gruppe von der Ausbeutung der anderen profitiert und die somit in Macht- und Kontrollbeziehungen eingebettet ist. Abhängigkeit im Rahmen von Machtverhältnissen hat also einen wirtschaftlichen Hintergrund und ist definitionsgemäß asymmetrisch, da sie die Aneignung von Ressourcen beinhaltet. Dabei kann es sich um wirtschaftliche Ressourcen wie Arbeitskraft handeln oder um andere Ressourcen oder Produktionsmittel, die im Rahmen einer gesellschaftlichen Hierarchie in Bezug auf ihre Nutzung, Ausbeutung und Aneignung eingesetzt werden. Gleichzeitig wird derjenige, der die Abhängigen ausbeutet, auf einer ganz anderen Ebene ebenfalls abhängig, und zwar von den abhängigen und ausgebeuteten Personen, da diese die Quelle seiner Macht darstellen. Anders ausgedrückt hängt eine Machtposition ihrerseits von Abhängigkeitsverhältnissen ab. Solche gesellschaftspolitischen Dynamiken haben auch einen kulturellen Aspekt. Die mit ihnen einhergehende Unterlegenheit und die daraus resultierende Ungleichheit werden von einer kulturellen Ideologie gestützt und legitimiert. Dies kann zum Beispiel der Glaube an die Überlegenheit einer bestimmten Gruppe sein, die deren Machtposition und die damit verbundene Abhängigkeit legitimiert, oder etwa die Definition ihrer Position als »fortgeschrittener Entwicklungsstaat«2. In beiden Fällen rechtfertigen solche Vorstellungen die aus Abhängigkeit hervorgehende Ungleichheit als eine Form der Machtbeziehung.
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