Leseprobe

123 Textilien sind, wie Nahrung, ein Grundbedürfnis des Menschen und daher nehmen ihre Produktion, Verteilung und ihr Konsum eine wichtige Rolle in der Wirtschaft und im kulturellen Leben aller Gesellschaften ein. Die Textilproduktion war bereits in der Antike ein hoch spezialisiertes Handwerk.1 Dabei war die Herstellung von Textilien mit verschiedenen Formen von Abhängigkeit verbunden: der Verfügbarkeit von Ressourcen, der erzwungenen Arbeit, den ungleichen Geschlechterrollen und dem erreichten technologischen Fortschritt. Diese Aspekte der Unfreiheit sind in der Textilproduktion fast aller Kulturen und Epochen zu beobachten, und sie sind auch heute noch nicht überall beseitigt. Das vorliegende Kapitel wendet sich dem spätantiken Mittelmeerraum zu, d. h. der Zeit des 3.– 7. Jahrhunderts n. u. Z. (Abb. 1). ABHÄNGIGKEIT VON ROHSTOFFEN: SEIDE, GOLD UND PURPUR Eine wichtige Quelle zur Erforschung spätantiker Textilien sind Funde aus Ägypten, die sich dort dank des heißen und trockenen Klimas in gutem Zustand und in erstaunlicher Farbigkeit erhalten konnten. Die Textilien stammen in der Regel aus Gräbern, wo die Verstorbenen in ihrer Alltagskleidung bestattet und mit Decken und Behängen eingewickelt waren. Wegen ihrer engen Verwandtschaft zu Darstellungen von Kleidung und textiler Raumausstattung auf Mosaiken und Malereien gelten die Textilfunde aus Ägypten als repräsentativ für den gesamten spätantiken Mittelmeerraum. Die in der Spätantike gleichermaßen verfügbaren Rohmaterialien waren Leinen und Wolle. Je nach Bedarf wählte man das kühlende, reißfeste Leinen (Abb. 2) oder die wärmenden, farbaufnehmenden Eigenschaften der Wolle (Abb. 3). Baumwolle wurde erst nach der arabischen Eroberung Ägyptens im 7. Jahrhundert vermehrt benutzt und ersetzte dann im Mittelalter das Leinen als wichtigste Faser im gesamten Mittelmeerraum.2 Hier wird erkennbar, wie die Verfügbarkeit von Rohstoffen von der politischen Herrschaft abhängt, indem diese ihre eigenen Materialien in das eroberte Gebiet einführte und dort heimisch machte. Die textilen Luxusgüter der Spätantike waren Seide (Abb. 4), Gold und Purpurfärbung. Wegen ihres seltenen Vorkommens in der Natur und ihrer aufwendigen Verarbeitungstechnik waren diese nur beschränkt verfügbar. Seide wurde aus China oder Zentralasien in den Mittelmeerraum importiert. Nach schriftlichen Quellen soll Kaiser Justinian in der Mitte des 6. Jahrhunderts Eier der Seidenraupe von Zentralasien nach Byzanz geschmuggelt und damit die Seidenraupenzucht im Mittelmeerraum begründet haben.3 Die echte Purpurfarbe, die rötliche und blaue Farbtöne erzielte, wurde in einem äußerst aufwendigen Verfahren aus den Drüsen von Meeresschnecken gewonnen, die in den Küstenregionen des Mittelmeers beheimatet waren. Der echte Purpur stellte seit der Bronzezeit ein Statussymbol dar.4 In der Antike besaßen Kleidungsstücke und Einrichtungstextilien mit Goldfäden ein hohes Prestige.5 Die Goldfäden bestanden aus einem streifenförmig geschnittenen Goldblech, das spiralförmig um einen textilen Kernfaden gewickelt wurde. Mit Durchmessern von nur 0,1 bis 0,2 Millimetern waren Goldfäden Produkte von spezialisierten Goldschmieden. Die begrenzte Verfügbarkeit der Materialien Seide, Purpur und Goldfäden wurde zusätzlich eingeschränkt durch die kaiserliche Gesetzgebung, die ein Monopol des Kaiserhauses auf die Herstellung und den Vertrieb ganzseidener Gewänder, echter Purpurstoffe und Goldtextilien forderte. Archäologische Funde von Gold-, Seiden- und Purpurtextilien in privaten Kontexten zeigen jedoch, dass Gesetzeslücken genutzt oder das Gesetz umgangen wurde.6 Der Einfluss dieser Luxusmaterialien auf die Textilproduktion wird besonders in deren Imitationen deutlich: Für Seidengewebe typische Netzmuster wurden in den preiswerteren Materialien Wolle und Leinen nachgeahmt, der echte Schneckenpurpur wurde durch pflanzliche Farbstoffe wie Krapp und Indigo ersetzt und der leuchtende Effekt von Goldfäden wurde durch gelbe Wollfäden imitiert. GESCHLECHTSSPEZIFISCHE ROLLEN IN DER PRODUKTION: DAS SPINNEN Die Produktion von Textilien erfolgt in mehreren Arbeitsschritten: Rohstoffgewinnung, Fadenherstellung, Weben, Walken und Färben. Diese Arbeiten wurden, nach schriftlichen Zeugnissen zu schließen, überwiegend in professionellen Textilbetrieben durchgeführt.7 Während die mit der Stoffherstellung verbundenen Berufe von Männern ausgeübt wurden, scheint die Fadenherstellung, das Spinnen, eine ausschließlich von Frauen im häuslichen Bereich durchgeführte Tätigkeit gewesen zu sein.8 Das Spinnen der beim Weben verarbeiteten Fäden war sehr zeitaufwendig, so benötigte man für die Herstellung einer einzigen Tunika zwischen 122 und 350 Arbeitsstunden allein für das Spinnen der Woll- oder Leinenfäden.9 Benutzt wurde ausschließlich die Handspindel, die aus einem Holz- oder Knochenstab und einem aufgesteckten Spinnwirtel aus Ton, Stein oder Knochen bestand. In zahlreichen spätantiken Siedlungsgrabungen rund um das Mittelmeer fand man Hinweise auf häusliches Spinnen angesichts der Reste von Spinnwerkzeugen in Wohnhäusern (Abb. 5–6).10 Das Spinnen galt als typisch weibliche Tätigkeit und wurde mit weiblichen Tugenden wie Fleiß und Fürsorge verbunden. So wurden Spinnwerkzeuge zu typischen Attributen von Frauen, sowohl in Darstellungen von Lebenden als auch im Tod. Spinngeräte wurden Frauen in das Grab beigegeben und auf Grabsteinen wurden Frauen mit einer Spindel abgebildet. In wohlhabenden Haushalten galten Spinnwerkzeuge aus edlen Materialien wie Elfenbein, Bernstein oder Gagat als Statussymbole.11 Mit der Verkündigungsszene ging die Darstellung der spinnenden Maria in die christliche Ikonografie ein.12 Petra Linscheid

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