Leseprobe

85 In den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen islamischen Zivilisationen war die Getreideproduktion – so wie in den meisten vormodernen Agrargesellschaften – der wichtigste Agrarsektor. Getreide bildete die Grundlage der Wirtschaft. Der Staat erzielte seine höchsten Einkünfte aus den Getreidesteuern. Brot und andere getreidebasierte Produkte wie Getreidebreie stellten das Grundnahrungsmittel der lokalen Bevölkerung dar (Abb. 1–2).1 Vom 11. Jahrhundert an wurden Armeeoffiziere über ein dezentralisiertes Steuersystem, das sogenannte iqt.āʿ entlohnt. Sie erhielten dadurch das Recht, Steuern auf bestimmte Grundstücke zu erheben. Die einträglichsten dieser quasi feudalen Zuteilungen waren landwirtschaftliche Flächen für den Getreideanbau. Die Getreidespeicher wurden von Staatsbeamten kontrolliert, die in Zeiten von Dürre und Hungersnot Weizen und Gerste horteten und zu überhöhten Preisen verkauften. In der Wahrnehmung der breiten Bevölkerung gingen wirtschaftliches Elend und Hunger mit der skrupellosen Verwaltung von Getreideland und Getreideverteilung Hand in Hand. Muslimische Herrscher griffen nur selten direkt in den Getreideanbau ein, trotz der zentralen Rolle, die er für die Wirtschaft spielte; ganz anders als bei Plantagenkulturen wie beispielsweise Zuckerrohr. Die Entscheidung, wo und wie welches Getreide angebaut werden sollte, lag ganz in der Hand der Kleinbauern. Darüber hinaus genoss die Landbevölkerung in der muslimischen Welt bestimmte Freiheiten, die ihren Zeitgenossen im mittelalterlichen Europa verwehrt waren: Sie waren keine Leibeigenen. Rechtlich gesehen waren sie nicht »an die Scholle gebunden« oder Teil des Grundbesitzes: Als frei geborene Menschen stand es ihnen frei, sich anderswo niederzulassen. Das Land gehörte ihnen nicht, aber sie hatten über Generationen hinweg ein Recht darauf, es zu bestellen, das von der Obrigkeit nur selten infrage gestellt wurde. Doch die Realität des Lebens der Kleinbauern sah anders aus. Die Flucht der Landbevölkerung vor unerträglichen Steuerlasten und bewaffneten Konflikten stellte eine wirtschaftliche Bedrohung für den Staat dar, der darauf umwendend reagierte. In der Mamlukenzeit (vom 13. bis ins frühe 16. Jahrhundert) wurden Kleinbauern dazu gezwungen, auf kaiserlichen Gütern Fronarbeit zu leisten. In der Osmanischen Zeit (vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert) wurde auf flüchtige Kleinbauern Jagd gemacht, und man brachte sie mit Gewalt in ihre Dörfer zurück. All dies war zwar eigentlich nicht legal, wurde aber zur gängigen Praxis. Aus all diesen Faktoren entstand zwischen den Kleinbauern und dem Staat mit Blick auf die Getreideproduktion und -verteilung ein komplexes Verhältnis, das zu einer wechselseitigen, aber ungleichen wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit führte. Ohne die Arbeit der Kleinbauern drohte dem Staat ein politischer und wirtschaftlicher Zusammenbruch. Andererseits brauchten die Kleinbauern die staatliche Ordnung für die Instandhaltung der Bewässerungskanäle und Ackerterrassen und um in Ruhe sähen und ernten und das Land produktiv erhalten zu können. Es stand jedoch nie infrage, wer die natürlichen Ressourcen – sei das nun Land oder Wasser – kontrollierte. Im Gegensatz zu anderen Feldfrüchten wurde Getreide auf staatlichem Land angebaut. Den Kleinbauern stand ein bestimmter Anteil der Getreideernte zu, sie besaßen aber weder das Land noch die Erzeugnisse ihrer Arbeit. Zwischen Bauern und Beamten entstanden regelmäßig Konflikte über Steuern und Wasserverbrauch. Gewalttätige Auseinandersetzungen konnten auf dem Dreschplatz (wo die Getreidesteuer in Form von Naturalabgaben eingesammelt wurde), an einem Bewässerungskanal oder beim Getreidelager ausbrechen. An diesen Orten lässt sich die asymmetrische Abhängigkeit der Landbevölkerung am deutlichsten nachzeichnen, weit besser als auf dem Feld oder im Dorf. Bei den aktuellen Feldforschungen der Universität Bonn am Tell Hisban in Zentraljordanien haben wir damit begonnen, Einzelheiten des Getreideanbaus und der Konflikte um diesen Wirtschaftszweig im 13. und 14. Jahrhundert zu rekonstruieren (Abb. 3). Das Gelände eignet sich ideal für eine solche Studie, da es sowohl für die Römer als auch für die Mamluken eine regionale Kornkammer darstellte (Abb. 4). Dabei haben wir herausgefunden, dass die Kleinbauern hier eine große Vielfalt an verschiedenen Weizen- und Gerstensorten kultivierten, wobei bestimmte Sorten eigens für den Staat angebaut wurden. Sie eigneten sich für den Transport über weite Entfernungen und für langfristige Lagerung. Andere Sorten, die sich nur kurzfristig lagern ließen, waren für den Verbrauch vor Ort bestimmt. Im 14. Jahrhundert wurde der Weizen hier über mehrere Jahrzehnte bewässert. In dieser Zeit gab es wiederholt Dürreperioden, und der staatliche Bedarf an Weizen stieg.2 Getreide für den örtlichen Gebrauch in Transjordanien und Palästina wurde in der Regel in den zahlreichen Höhlen der Region und in umfunktionierten Zisternen gelagert.3 Größere Mengen für den Transport in die Städte lagerte man in speziellen Getreidespeichern, die shunah genannt wurden. Der »Getreideboom« im 19. Jahrhundert öffnete lokalen Agrarunternehmern Zugänge zum Getreideexport. Gleichzeitig fanden im Osmanischen Reich die TanzimatReformen statt, durch die unter anderem Einzelpersonen verpflichtet wurden, Land in ihrem eigenen Namen und nicht mehr im Namen der Gemeinschaft zu registrieren. Dies kam zwar letztlich nicht den Kleinbauern zugute, wohl aber städtischen Eliten, die über die Mittel und den Zugang zu Krediten verfügten. Sie konnten nun Land erwerben, registrieren und am internationalen Getreidehandel teilnehmen.4 Gleichzeitig kam es in dieser Zeit zu einer Verschuldung der Kleinbauern und einer zunehmenden Entfremdung von dem Land, das sie bewirtschaftet hatten. So entstanden im Zuge der Entwicklung neuer Formen von Landbesitz auch neue Formen von Abhängigkeit. Wie in früheren Epochen hatten die Kleinbauern auch in dieser Zeit wenig Kontrolle über ihre Arbeitskraft, obwohl es keine formalen Hemmnisse für die Abwanderung anderswohin gab. Eine der anschaulichsten Ausdrucksformen dieser neuen Form des »Getreidekapitalismus« sind die qus.ūr – befestigte Hofanlagen, in denen shunah lagen. Dort wurde das Getreide gelagert und dann weiter zum Markt oder zum Hafen transportiert (Abb. 5). Bethany J. Walker

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