GLOBALHISTORISCHE PERSPEKTIVEN AUF RESSOURCEN UND SKLAVEREI
GLOBALHISTORISCHE PERSPEKTIVEN AUF RESSOURCEN UND SKLAVEREI Herausgegeben von Martin Bentz, Nikolai Grube und Patrick Zeidler Sandstein Verlag
EINFÜHRUNG GRUNDNAHRUNGSMITTEL UND ABHÄNGIGKEIT 46 Martin Bentz Grundnahrungsmittel und Abhängigkeit 56 Martin Bentz Anbau, Verarbeitung und Konsum von Getreide im antiken Rom 64 Christian Mader und David Beresford-Jones Landwirtschaft und soziale Asymmetrien in den prähispanischen Anden 76 Nikolai Grube Könige als Götter, welche über den Mais wachen. Die Handlungsmacht übermenschlicher Kräfte bei den Maya 6 Vorwort 10 Martin Bentz, Nikolai Grube und Patrick Zeidler Globalhistorische Perspektiven auf Ressourcen und Sklaverei 18 Youval Rotman Die Definition von Abhängigkeit – ein globaler Ansatz 84 Bethany Walker Getreideanbau und Politik im mittelalterlichen Syrien 90 Alice Toso und Anabela Novais de Castro Filipe Ernährung, Arbeit und Körper. Eine bioarchäologische Perspektive aus dem mittelalterlichen Lissabon 96 Christoph Witzenrath Kontrolle über Getreidelieferungen vom Moskauer Reich bis heute 30 Nikolai Grube Abhängigkeit in Dingen erkennen 38 Beatrix Hoffmann-Ihde Verstrickt und Verwoben: Texturen der Abhängigkeit. Eine multimediale QuiltErzählung als digitale Ausstellung
TEXTILIEN UND ABHÄNGIGKEIT 136 Birgit Ulrike Münch ›Harter Stoff‹ – Abhängigkeit und Versklavung im Kontext des »weißen Goldes«. Baumwolle im neuzeitlichen Europa und in den USA 142 Michael Zeuske Baumwollproduktion und Plantagensklaverei im 18. und 19. Jahrhundert 150 Claudia Jarzebowski und Karoline Noack Shades of Blue – die verflochtenen Wege der Farbe Blau 104 Patrick Zeidler Textilien und Abhängigkeit 114 Konrad Vössing »Kleider machen Leute« (?). Textilien, Status und Identität im Römischen Reich 122 Petra Linscheid Seide, Gold und Purpur. Textilproduktion und Abhängigkeiten in der Spätantike 128 Karoline Noack Baumwolle im Andengebiet – ›Industriepflanze‹ der ersten Stunde STIMULANZIEN, GENUSSMITTEL UND ABHÄNGIGKEIT 158 Nikolai Grube Stimulanzien, Genussmittel und Abhängigkeit 168 Ludwig Morenz und Frank Förster Bier versus Wein: Ein ›feiner Unterschied‹ (auch) in der altägyptischen Kultur 176 Patrick Zeidler Wein im antiken Griechenland – Bilder der Abhängigkeit 184 Nikolai Grube Rauch erobert die Welt – Tabak als Heilpflanze und Genussmittel 192 Karoline Noack Das Kokablatt – Alltagsdroge und rituelle Gabe 198 Michael Zeuske Das süße Gold der Tropen – Sklaverei auf Zuckerplantagen 206 Julia A. B. Hegewald Tee im kolonialen Indien 212 Anhang Bildnachweis / Impressum
19 Youval Rotman keitsverhältnis, bei dem mindestens zwei Entitäten voneinander abhängig sind. Dabei kann die jeweilige Abhängigkeit eine ähnliche oder auch ganz unterschiedliche Formen haben. Diese begriffliche Einteilung in Abhängigkeit, Interdependenz und Unabhängigkeit ist keine Selbstverständlichkeit, sondern spiegelt die Art und Weise wider, in der das menschliche Denken Beziehungen – mit Menschen oder anderen Entitäten; individuelle, soziale, wirtschaftliche oder sonstige Beziehungen – generell wahrnimmt. Analog dazu wird Unabhängigkeit als Zustand definiert, in dem keine Abhängigkeit zu etwas oder jemandem besteht. Im modernen Denken gilt dieses Konzept in der Regel als Entwicklungsstadium – beispielsweise im wirtschaftlichen, politischen oder psychologischen Bereich. In den modernen Theorien der Sozialwissenschaften wird Selbstständigkeit sogar als Ziel von Entwicklungsprozessen definiert. So kommt zu unserer Definition von menschlichen Beziehungen (und Beziehungen im Allgemeinen) ein moralischer Aspekt hinzu: Der Zustand der Abhängigkeit wird als negativ angesehen, wohingegen Unabhängigkeit als angestrebtes Ziel betrachtet wird, das man oft mit Freiheit – d. h. der Freiheit von Abhängigkeit – gleichsetzt. Diese Perspektive hat in Wissenschaft und Forschung über Phänomene der Abhängigkeit – besonders in den Sozialwissenschaften – zu einer Ausrichtung auf einen gesellschaftspolitischen Kontext von Machtbeziehungen geführt. Nach allgemeiner Definition bezeichnet Abhängigkeit eine Beziehung zwischen mindestens zwei Entitäten, von denen eine in einer bestimmten Weise von der anderen abhängig ist. Die Natur und letztlich der ganze Kosmos bestehen aus unendlich vielen Abhängigkeitsverhältnissen, wobei die menschlichen Abhängigkeiten besondere Formen darstellen, die mit menschlichen Organisationsformen zusammenhängen. Das Gleiche gilt auch für Interdependenz und Unabhängigkeit. Interdependenz ist ein gegenseitiges oder dyadisches AbhängigABHÄNGIGKEIT – INTERDEPENDENZ – UNABHÄNGIGKEIT
20 1 a–b Illustrationen aus dem Manuskript »Seventy-two Specimens of Castes in India« von T. Vardapillay, Madurai (Südindien), 1837. Die handgemalten Bilder zeigen Angehörige unterschiedlicher indischer Kasten bzw. religiöser und ethnischer Gruppen. Die Bekleidung und der Schmuck entsprechen dem traditionellen, noch nicht vom europäischen Kolonialismus beeinflussten Erscheinungsbild.
21 Balandier wollte eine neue Methodik schaffen, um damit das seiner Meinung nach größte politische Problem seiner Zeit zu analysieren: das Entstehen von Nationalismen in der dekolonialisierten Welt. Zwei Jahre vor der Veröffentlichung seines Aufsatzes hatten innovative Denker in den Wirtschaftswissenschaften einen neuen theoretischen Rahmen geschaffen, um damit die Definition von Abhängigkeit in Bezug auf die internationale politische und wirtschaftliche Dynamik der dekolonialisierten Welt neu zu überdenken. Sie wurde als Dependenztheorie bekannt. Drei einflussreiche Studien3 befassten sich mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit ›unterentwickelter‹, dekolonialisierter Länder und zeigten deren Einbindung in einen internationalen Wirtschaftskreislauf auf, der sie von den entwickelten ›neokolonialen Märkten‹ abhängig machte. Die Grundaussage der Dependenztheorie besagt, dass die Wirtschaft bestimmter Länder durch die Entwicklung und Expansion anderer Länder determiniert wird.4 In den 1970er und 1980er Jahren war dies die vorherrschende Theorie zur Erklärung der wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit der Länder der (damals so genannten) Dritten Welt als Folge des Kolonialismus. Sie ging einher mit einer anderen Folge des Kolonialismus: einem ›Abhängigkeitskomplex der Kolonisierten‹. Im Jahr 1952 schrieb der französische Soziologe Georges Balandier1: »Der Begriff der Abhängigkeit, der häufig in der Volkswirtschaftslehre und der Psychoanalyse Verwendung fand, hat sich zu einem beliebten Erklärungsinstrument entwickelt, das auch von Journalisten verwendet wird.« In seinem grundlegenden Aufsatz über die ›Soziologie der Abhängigkeit‹ forderte er eine soziologische Definition dieses Begriffs, den er im Hinblick auf die kapitalisierte koloniale Welt der Nachkriegszeit als wichtig betrachtete. Um zeitgenössische Ereignisse zu interpretieren und erklären, müsse man Situationen der Abhängigkeit, der Beherrschung und der Unterwerfung sowie ihre sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen genau definieren. Balandier unterschied lokale, traditionelle Formen der Abhängigkeit, die fest in die soziale Struktur einer bestimmten Gesellschaft eingebettet sind, von Abhängigkeit, die als Mittel zur Unterwerfung fremder Gesellschaften eingesetzt wird. Das Kastensystem in Indien (Abb. 1 a–b) ist ein charakteristisches Beispiel für die erste Form der Abhängigkeit, die britische Kolonialisierung Indiens für die zweite. Beide Formen werden, ebenso wie die Minderwertigkeit, die sie implizieren und die durch sie geschaffene Ungleichheit, durch eine kulturelle Logik gestützt und legitimiert. Beide dienen als Kontrollmaßnahmen für verschiedene Bevölkerungsteile, wobei die Kontrolle auf jeweils unterschiedliche Art und Weise ausgeübt wird. Die Abhängigkeit, die im Zuge der britischen Kolonisation in Indien eingeführt wurde, trat in Konkurrenz zur lokalen Abhängigkeit im Kastensystem. In beiden Fällen handelt es sich jedoch um Abhängigkeit in Form einer ungleichen Beziehung, in der eine Gruppe von der Ausbeutung der anderen profitiert und die somit in Macht- und Kontrollbeziehungen eingebettet ist. Abhängigkeit im Rahmen von Machtverhältnissen hat also einen wirtschaftlichen Hintergrund und ist definitionsgemäß asymmetrisch, da sie die Aneignung von Ressourcen beinhaltet. Dabei kann es sich um wirtschaftliche Ressourcen wie Arbeitskraft handeln oder um andere Ressourcen oder Produktionsmittel, die im Rahmen einer gesellschaftlichen Hierarchie in Bezug auf ihre Nutzung, Ausbeutung und Aneignung eingesetzt werden. Gleichzeitig wird derjenige, der die Abhängigen ausbeutet, auf einer ganz anderen Ebene ebenfalls abhängig, und zwar von den abhängigen und ausgebeuteten Personen, da diese die Quelle seiner Macht darstellen. Anders ausgedrückt hängt eine Machtposition ihrerseits von Abhängigkeitsverhältnissen ab. Solche gesellschaftspolitischen Dynamiken haben auch einen kulturellen Aspekt. Die mit ihnen einhergehende Unterlegenheit und die daraus resultierende Ungleichheit werden von einer kulturellen Ideologie gestützt und legitimiert. Dies kann zum Beispiel der Glaube an die Überlegenheit einer bestimmten Gruppe sein, die deren Machtposition und die damit verbundene Abhängigkeit legitimiert, oder etwa die Definition ihrer Position als »fortgeschrittener Entwicklungsstaat«2. In beiden Fällen rechtfertigen solche Vorstellungen die aus Abhängigkeit hervorgehende Ungleichheit als eine Form der Machtbeziehung.
31 Nikolai Grube lässigten jedoch häufig die materiellen Dimensionen, die eng mit den kolonialen Prozessen verbunden sind. Durch den material turn werden die materiellen Aspekte von Sklaverei, extremen Abhängigkeitsverhältnissen und Kolonialismus in den Vordergrund gerückt. Dies umfasst die Untersuchung von materiellen Objekten wie Handelswaren, Technologien, Architekturen (Abb. 1) und Landschaften, die im kolonialen Austausch und in starken Abhängigkeitsbeziehungen eine zentrale Rolle spielten. Darüber hinaus ermöglicht der material turn auch die Analyse von materiellen Spuren und Überresten kolonialer Herrschaft und Unterdrückung in der Gegenwart wie beispielsweise in der Form von Denkmälern, Gebäuden oder wirtschaftlichen Strukturen. Im Zusammenhang mit der Perspektive auf Abhängigkeit erlaubt die Erforschung von Dingen eine tiefere Analyse der materiellen Grundlagen und Ressourcen, die Kolonialismus und asymmetrische Abhänin den Kulturwissenschaften sowie neuere Debatten zur Umwelt- und Biohistorie, wie sie von Autoren wie Arjun Appadurai, Tim Ingold und Bruno Latour1 vertreten werden. Der material turn ist eine theoretische Perspektive, die sich mit der Bedeutung von Materialität und materiellen Artefakten in verschiedenen Bereichen der Wissensproduktion und der sozialen Praxis befasst. Diese Perspektive legt den Fokus auf die Rolle von Objekten, Rohstoffen und anderen materiellen Elementen bei der Gestaltung von Gesellschaften, Kulturen und historischen Prozessen. Im Kontext der Betrachtung des Kolonialismus und der Abhängigkeit eröffnet der material turn neue Wege, um die komplexen Dynamiken und Strukturen dieser historischen Phänomene zu verstehen. Traditionelle Ansätze zur Erforschung von Abhängigkeitsverhältnissen haben oft die Rolle von Ideen, Ideologien und Machtverhältnissen und damit vor allem deren normative Perspektive betont, vernachIn den Geschichts- und Sozialwissenschaften sowie der Anthropologie ist das allumfassende Phänomen extremer Abhängigkeiten in menschlichen Gesellschaften größtenteils durch die Untersuchung von Texten oder Bildern erforscht worden. Infolgedessen haben sich diese Wissenschaften bisher hauptsächlich auf Aussagen und Darstellungen konzentriert, die über abhängige Menschen und ihre Lebensumstände gemacht wurden. Unser Ansatz in diesem Buch hingegen unterscheidet sich von diesem Zugang. Anstatt uns auf Texte zu konzentrieren, richten wir unseren Fokus auf Objekte und Artefakte, auf die materielle Welt. Unser Ziel ist es, materielle Zeugnisse asymmetrischer Abhängigkeiten zu erforschen und ihr Spektrum an Ausdruck und Information als ebenbürtige Quelle asymmetrischer Abhängigkeiten neben dem geschriebenen Wort zu etablieren. Unser Zugang zur Erforschung von Abhängigkeit stützt sich auf den material turn
32 gigkeit ermöglichten und aufrechterhielten. Dies beinhaltet die Untersuchung von Rohstoffen, Produktionsmethoden und Handelsnetzwerken, die es den kolonialen Mächten ermöglichten, ihre wirtschaftliche und politische Dominanz auszubauen. Darüber hinaus kann dieser Ansatz auch dazu beitragen, die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Ausbeutern und den abhängigen Menschen zu analysieren, indem er die Rolle von materiellen Ressourcen und Technologien bei der Schaffung und Aufrechterhaltung dieser Beziehungen beleuchtet. Mit dieser Entwicklung geht eine Relativierung des traditionellen wissenschaftlichen Fokus auf Schriftkultur einher. Dies ist von entscheidender Bedeutung für die Erforschung von Abhängigkeitsverhältnissen, da die Mehrheit der Menschen, die sich in extremen Abhängigkeitssituationen befanden, keine schriftlichen Dokumente hinterlassen hat. Wenn wir Abhängigkeit nicht ausschließlich aus einer »von oben«- Perspektive betrachten wollen, sondern den Alltag und die Erfahrungen der direkt betroffenen Abhängigen einbeziehen möchten (Abb. 2), ist es dringend erforderlich, uns von der Privilegierung der Schriftquellen zu lösen. Dies erfordert jedoch, dass wir lernen, materielle Kultur zu lesen. Die Disziplinen der objektbasierten Wissenschaften wie Archäologie, Kunstgeschichte und Kulturanthropologie können dabei helfen, die Bedeutung von Materialität zu erkennen und materielle Hinterlassenschaften als Quellen für die Erforschung von Abhängigkeit zu nutzen. Materielle Zeugnisse haben das Potenzial, den oft verborgenen »stummen« Akteuren der Geschichte ihre Stimme zurückzugeben und uns Einblicke in die Erfahrungen von Unterdrückung sowie die Handlungsspielräume innerhalb menschlicher Gemeinschaften zu gewähren.2 Die geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit materieller Kultur befassen, haben deshalb in den vergangenen Jahrzehnten immer intensiver die Brücke zu den Naturwissenschaften mit ihrem breiten Methodenspektrum gesucht, um die Materialität und Herstellung von Dingen, aber auch die Gewinnung und Kontrolle von Ressourcen und ihre Handelswege zu erforschen. Das »Lesen« von Objekten setzt schließlich auch voraus, dass wir uns mit ihrer Lebensgeschichte befassen müssen. Dem von Arjun Appadurai geprägten Konzept der Objektbiografien3 liegt die Idee zugrunde, dass Objekte eine Geschichte 1 Luftbildaufnahme aus dem Jahr 2021. Blick auf die Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf (»Klingelpütz«). Gefängnisse und Strafanstalten sind physische Manifestationen von Kontrolle und Disziplin. Ihre Architektur und Gestaltung zielen darauf ab, Insassen zu überwachen, zu isolieren und zu kontrollieren, was die Machtverhältnisse zwischen den Insassen und denjenigen, die sie beaufsichtigen, deutlich macht.
33 haben, die über ihre materielle Existenz hinausgeht. Objekte haben eine Lebensgeschichte, die von ihrer Herstellung über ihre Verwendung bis hin zu ihrer möglichen Zerstörung reicht. In verschiedenen Kontexten werden Objekte umgedeutet. Ein Artefakt kann eine Bedeutung in einer antiken Gesellschaft haben und erhält eine andere Bedeutung durch seine archäologische Ausgrabung und wieder eine andere Interpretation durch seine Ausstellung in einem Museum. Daran lässt sich auch erkennen, dass Bedeutungen von Objekten nicht festgeschrieben sind, sondern sich in ständiger Transformation befinden. Die Orientierung an einer materialitätsbasierten Perspektive impliziert keineswegs den Verzicht auf Schrifttexte als Quellen zur Erforschung von Abhängigkeitsverhältnissen. Vielmehr würde eine solche radikale Abkehr die Vertiefung dichotomer Konzepte, wie etwa die Unterscheidungen zwischen Schrift und NichtSchrift, Mensch und Nicht-Mensch sowie Kultur und Natur, verstärken. Diese Dichotomien sind historisch tief in der europäisch-abendländischen Tradition verwurzelt. Durch die bewusste Einbeziehung materieller Aspekte in die Untersuchung von Abhängigkeitsbeziehungen wird jedoch eine Überwindung dieser traditionellen Trennungen angestrebt. Ziel ist es, eine ganzheitlichere Perspektive zu entwickeln, die die komplexen Wechselwirkungen zwischen materiellen und immateriellen Elementen berücksichtigt und so ein umfassenderes Verständnis der sozialen Dynamiken ermöglicht. 2 Foto, Quetzaltenango (Guatemala), 2018. Kaqchikel- und K’iche’-Maya bei Recherchen im Internet. In modernen Informationsgesellschaften können Computertechnologie und digitale Werkzeuge die Abhängigkeit von Wissen und Ressourcen verdeutlichen. Personen, die keinen Zugang zu solcher Technologie haben oder nicht über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen, können in ihrer beruflichen oder sozialen Mobilität eingeschränkt sein, was ihre Abhängigkeit von denen zeigt, die über solche Ressourcen verfügen.
47 Die Domestikation und Kultivierung von Getreidepflanzen, die sogenannte landwirtschaftliche Revolution, hat sich zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Regionen der Welt ereignet. Dies war eine treibende Kraft im Prozess der Sesshaftwerdung: Zum Beispiel waren es in Ägypten und im Mittelmeerraum seit ca. 8500 v. u. Z. Gerste, Emmer und Weizen; in Südostasien seit ca. 8000 v. u. Z. Reis und in Amerika seit ca. 8000 v. u. Z. Mais. Mit der Konsolidierung der Kultivierung von Getreidepflanzen entstanden verschiedene Formen von Abhängigkeiten. Einerseits eine Abhängigkeit von diesen pflanzlichen Ressourcen, die zur wichtigsten Grundlage der Ernährung wachsender Gesellschaften wurden, jedoch stets Umwelteinflüssen und anderen Risiken ausgesetzt waren. Andererseits entstanden durch Massenproduktionen und die damit verbundenen Bedingungen von Anbau und Distribution soziale Abhängigkeiten. Die spezialisierte Überproduktion führte dazu, dass sich nicht mehr alle Personengruppen mit der Gewinnung der eigenen Nahrung beschäftigen mussten. Hier sind die Ursprünge für spezialisiertes Handwerk und die Stratifizierung von Gesellschaften und damit auch für asymmetrische Abhängigkeitsverhältnisse zu sehen. Der Anbau von Getreidepflanzen veränderte schließlich auch den Zugang und Besitz von Land sowie die Formen der Nahrungsspeicherung und -verteilung. Darüber hinaus kam es in bevölkerungsreichen, urbanen Gesellschaften zu Spezialisierungen ganzer Regionen und einem wachsenden Handel. Dieser führte zur Entstehung von Abhängigkeiten von ausreichenden Einfuhren, den Verteilungsmechanismen und den damit verbundenen Kontexten (Infrastruktur) sowie den ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen (s. dazu auch S. 65–68). Martin Bentz
48 In Abhängigkeit von den jeweiligen Umweltbedingungen gab es sehr unterschiedliche Formen des Anbaus. Zudem wurden die Pflanzen kontinuierlich weiterentwickelt, um höhere Erträge zu erzielen. Für den Maisanbau in Mittelamerika – meist in Form von Mischpflanzungen zusammen mit Bohnen und Kürbis – war nur eine geringe Bodenbearbeitung nötig, dafür gab es zwei Ernten pro Jahr. Im Laufe der Zeit wurden künstliche Bewässerungssysteme angelegt und durch Züchtungen die Maiskolben bis auf das Vielfache des ursprünglichen, wild wachsenden Maises vergrößert. In Ägypten war man hingegen seit der Frühzeit auf die Uferrandzonen des Nils und dessen jährliche Schwemme angewiesen, welche die Felder für einige Wochen überflutete. Der fruchtbare Schlamm bildete die Voraussetzung für die Aussaat. Zur besseren Nutzung und Verteilung des Überschwemmungswassers wurden Auffangbecken, Dämme und Kanäle gebaut. Auch der wasserintensive Reisanbau in Asien bedurfte aufwendiger Terrassierungen und Bewässerungssysteme (Abb. 1). Die Weiterverarbeitung des Getreides erfolgte in allen Kulturen zunächst durch handbetriebene Reibeschalen (Abb. 2) oder Mörser für Mais. Je nach benötigter Menge und im Zuge einer Effizienzsteigerung entwickelten die Griechen z. B. Getreidemühlen mit zwei beweglichen Mahlsteinen; in der römischen Republik (2.–1. Jahrhundert v. u. Z.) setzten sich Rotationsmühlen mit großen Einfülltrichtern durch, die durch Esel oder Sklaven im Kreis gedreht wurden (s. dazu S. 61 Abb. 4), um den großen Bedarf der Stadtbevölkerungen decken zu können. Eine echte technologische Revolution bildeten Wassermühlen, die sich im Laufe der römischen Kaiserzeit verbreiteten und eine quasi industrielle Produktion erlaubten. Man schätzt, dass z.B. die im 2. Jahrhundert n. u. Z. errichtete Mühle von Barbegal in Südfrankreich eine Tagesproduktion von bis zu 4,5 Tonnen Mehl erbringen konnte, um das in der Nähe stationierte Militär zu versorgen. Die Endprodukte waren Brote (Abb. 3), Fladen, Brei oder Kuchen; Mais wurde auch zu Getränken, besonders Bier, verarbeitet. Die Verarbeitung der Speisen erfolgte entweder in den einzelnen Haushalten oder im Fall von größeren Städten in Bäckereien oder anderen spezialisierten Betrieben. Allein in der vom Vulkanausbruch des Vesuvs verschütteten römischen Kleinstadt Pompeji lassen sich über 30 Bäckereien unterschiedlicher Größe nachweisen (s. dazu S. 57). Es existiert eine Vielfalt an Akteuren, die an der Produktion der Grundnahrungsmittel beteiligt waren und deren Rolle sich in vielen vormodernen Gesellschaften im Laufe der Zeit veränderte. Überall gab es Kleinbauern, die ihr eigenes oder gepachtetes Land bestellten, um die lokale und 1 Foto, Japan, frühes 20. Jahrhundert. Reis gehört neben Getreide und Mais zu den bedeutendsten Grundnahrungsmitteln der Menschheit. In vielen Ländern Asiens wird Reis auf bewässerten Terrassen angebaut. Das historische Foto zeigt Männer und Frauen in traditioneller Kleidung beim Pflanzen von Reissämlingen.
49 2 Bemalte Holzfigur einer Kornmahlerin, Ägypten, Mittleres Reich (ca. 2100–1800 v. u. Z.), Ägyptisches Museum der Universität Bonn, Inv. BoSAe 2125 und 2128, H. 7,0 cm. Kleinformatige Darstellungen von Menschen, die Getreide mahlen, Brot backen oder Bier brauen, finden sich häufig als Beigaben in ägyptischen Gräbern. Sie stehen mit ihrer mühevollen körperlichen Tätigkeit der Nahrungsproduktion symbolisch für die Versorgung der Verstorbenen im Jenseits mit allen notwendigen Gütern. regionale Versorgung zu gewährleisten. Sie waren jedoch bei Krisen wie Missernten oder Kriegen besonders anfällig und in ihrer Existenz gefährdet: Beispielsweise konnten sie durch Schuldknechtschaft, Leibeigenschaft oder Sklaverei in die Abhängigkeit von Großgrundbesitzern geraten. Im römischen Italien lässt sich ein Wandel vom Kleinbauerntum zur Sklavenwirtschaft beobachten, welche auf großen Villen mit Zellentrakten für die Sklaven sowie verschiedenen Produktions- und Speichervorrichtungen basierte (s. dazu S. 57). Im mittelterlichen, islamisch geprägten östlichen Mittelmeerraum waren rechtlich freie, autonom arbeitende Kleinbauern für die Getreideproduktion zuständig, jedoch kam es zu ständigen Konflikten durch das Abhängigkeitsverhältnis zum Staat, welcher das Land besaß, Steuern erhob und den Großteil der Ernte zentral speicherte (s. dazu S. 85). In Russland entwickelte sich aus dem Kleinbauerntum insbesondere die Abhängigkeitsform der Leibeigenschaft, bei der die Leibeigenen ihrem Herrn abgabepflichtig und zudem seiner Gerichtsbarkeit unterstellt waren (s. dazu S. 97). Die nicht sehr zahlreichen Bilder der Getreideproduktion zeigen mehr oder weniger idealisierte Szenen, in denen die soziale Zugehörigkeit der Arbeitenden durch ihre Tätigkeit, Arbeit und Kleidung verdeutlicht wird, der legale Status der Beteiligten aber
50 3 Verkohltes Brot, Boscoreale (Italien), 1. Jahrhundert n. u. Z., Boscoreale, Antiquarium. Durch die große Hitzeentwicklung während des Vesuvausbruchs im Jahr 79 n. u. Z. sind organische Materialien verbrannt und haben sich dadurch zumindest in ihrer Form erhalten können. Dies ermöglicht einen seltenen Einblick in die stark standardisierte römische Brotproduktion unter Verwendung von Teigformen. nicht klar erkennbar ist. Gelegentlich wird jedoch die Mühe der Arbeit durch die gebeugte Haltung der Bauern dargestellt (s. S. 59 Abb. 1). Dies ist jedoch nicht sozialkritisch zu verstehen, sondern entweder als Ausdruck von Stolz auf die harte Arbeit oder als visuelles Mittel zur Unterstreichung der Macht der Auftraggeber der Bilder, welche in der Regel Landbesitzer oder für die Eintreibung der Pachten bzw. Steuern zuständige Beamte waren. Der aktuelle Krieg in der Ukraine verdeutlicht die Fragilität der Abhängigkeit von Nahrungsressourcen, da die Störung von Ernten und die Unterbrechung der Transportwege weltweite Versorgungsengpässe von Weizen zur Folge haben (Abb. 4). Die Sicherung des Agrarlands und der Handelswege war daher zu allen Zeiten eine zentrale Aufgabe zumeist staatlicher Institutionen. So war ein wichtiger Aspekt der Herrschaftslegitimation der russischen Zaren seit dem 16. Jahrhundert die Sicherung der Getreideversorgung und die ausreichende Speicherung der Vorräte (S. 97). Im antiken Athen des 5. Jahrhunderts v. u. Z. konnten Händler, die trotz des Kriegs ausreichend Weizen lieferten, die Ehrenbürgerwürde erhalten. Im Rom des 1. Jahrhunderts v. u. Z. beruhte z. B. der politische Aufstieg des Feldherrn Pompeius nicht zuletzt auf seinen Siegen gegen die Piraten, die im Mittelmeer die Handelsrouten empfindlich störten. Die Lagerung von Getreide ist von großer Bedeutung für die Versorgung der Bevölkerung und zumeist eine Aufgabe der öffentlichen Hand beziehungsweise von Herrschern, aber auch von Großgrundbesitzern oder Händlern. Die Kontrolle über die Speicherung und die Verteilung der Vorräte nach dem Prinzip der Redistribution bildete sowohl bei den Maya als auch im Vorderen Orient oder in Ägypten einen wichtigen Faktor bei der Etablierung asymmetrischer Abhängigkeitsverhältnisse. Emblematisch ist die Josefsgeschichte im Alten Testament (s. S. 98), bei der der versklavte Josef den Traum des Pharaos von den sieben fetten und den sieben mageren Kühen als eine Folge von sieben ertragreichen und sieben Hungerjahren auslegen kann mit dem Ergebnis, dass Josef als Wesir, d. h. als Hauptadministrator Ägyptens, mit der Oberaufsicht über die Kornspeicher betraut wurde und durch die Verteilung Hungersnöte linderte (Abb. 5). Noch in hellenistischer Zeit waren die Getreidespeicher Ägyptens wohl gut gefüllt: So spendete König Ptolemaios III. nach einem Erdbeben im Jahr 227 v. u. Z. in der für ihn
51 4 Foto eines ukrainischen Getreidefrachters im Bosporus (Türkei), 3. August 2022. Die Abhängigkeit von einer ausreichenden Versor- gung mit Grundnahrungsmitteln wie Getreide war stets und ist auch heute noch gefährdet, u. a. durch kriegerische Auseinandersetzungen. Im Zuge des Angriffs Russlands auf die Ukraine kam es zu einer Blockade der Seewege im Schwarzen Meer. Im Rahmen eines Abkommens zwischen der Türkei, der Russischen Föderation, der Ukraine und den Vereinten Nationen zur Bekämpfung der globalen Lebensmittelkrise konnte das Frachtschiff »Razoni«, das am Vortag in Odessa (Ukraine) mit 26 000 Tonnen Mais beladen wurde, am 3. August 2022 den Bosporus in Istanbul durchqueren. strategisch wichtigen griechischen Stadt Rhodos über 30 000 Tonnen Getreide.1 In Rom erhielten zur Zeit des Augustus 200 000 Empfänger – das war etwa ein Drittel der Bevölkerung – im Rahmen der annona civica kostenfrei ihr Getreide; diese Maßnahme sollte offenbar der Wahrung des sozialen Friedens in der Stadt dienen (s. dazu S. 57–58). Die Lagerhaltung von Getreide lässt sich archäologisch von der lokalen Haushaltsebene bis zu zentralen Speichern nachweisen. Gut erhalten sind etwa die großen Anlagen in den altorientalischen oder minoisch-mykenischen Palästen des 2. Jahrtausends v. u. Z., die mit ihren vielen kleinen Kammern den 2 000 Jahre jüngeren römischen granaria und horrea ähneln, welche sich beispielsweise in der Hafenstadt Ostia erhalten haben, aber auch in Militärlagern (castra) und Gutshöfen (villae rusticae) nachweisbar sind. Römische Autoren wie Columella und Plinius geben genaue Hinweise, wie diese Lagerhäuser gebaut sein müssen, damit sich die Naturalien – geschützt vor Feuchtigkeit und Nagetieren – lange Zeit halten. Besonders instruktiv sind Modelle von Lagerhäusern, welche aus ägyptischen Gräbern stammen. Im Grab des Gemniemhat in Saqqara schaut man von oben hinein und sieht Arbeiter bei der Anlieferung und Abmessung der Getreidemenge sowie einen Schreiber, der die Mengen notiert (Abb. 6). In Ägypten lässt sich die zentrale Bedeutung der Getreideversorgung an zahlreichen Bildern, vor allem aus dem privaten Bereich, ablesen. In Grabmalereien seit dem Alten Reich (ca. 2700–2200 v. u. Z.) werden Anbau, Ernte und Lagerung wiedergegeben, um zu zeigen, dass der Verstorbene auch im Jenseits versorgt ist: Im Grab des Sennedjem in Deir el-Medine schneidet der Mann die Ähren ab, die von seiner Frau sogleich eingesammelt werden. Im Grab des Nacht wird der verstorbene Beamte gleich zweimal dargestellt: Unter einem Baldachin sitzend beobachtet er die detailliert wiedergegebenen landwirtschaftlichen Tätigkeiten, die sich, der Inschrift nach, auf seinem eigenen Land abspielen (Abb. 7).
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85 In den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen islamischen Zivilisationen war die Getreideproduktion – so wie in den meisten vormodernen Agrargesellschaften – der wichtigste Agrarsektor. Getreide bildete die Grundlage der Wirtschaft. Der Staat erzielte seine höchsten Einkünfte aus den Getreidesteuern. Brot und andere getreidebasierte Produkte wie Getreidebreie stellten das Grundnahrungsmittel der lokalen Bevölkerung dar (Abb. 1–2).1 Vom 11. Jahrhundert an wurden Armeeoffiziere über ein dezentralisiertes Steuersystem, das sogenannte iqt.āʿ entlohnt. Sie erhielten dadurch das Recht, Steuern auf bestimmte Grundstücke zu erheben. Die einträglichsten dieser quasi feudalen Zuteilungen waren landwirtschaftliche Flächen für den Getreideanbau. Die Getreidespeicher wurden von Staatsbeamten kontrolliert, die in Zeiten von Dürre und Hungersnot Weizen und Gerste horteten und zu überhöhten Preisen verkauften. In der Wahrnehmung der breiten Bevölkerung gingen wirtschaftliches Elend und Hunger mit der skrupellosen Verwaltung von Getreideland und Getreideverteilung Hand in Hand. Muslimische Herrscher griffen nur selten direkt in den Getreideanbau ein, trotz der zentralen Rolle, die er für die Wirtschaft spielte; ganz anders als bei Plantagenkulturen wie beispielsweise Zuckerrohr. Die Entscheidung, wo und wie welches Getreide angebaut werden sollte, lag ganz in der Hand der Kleinbauern. Darüber hinaus genoss die Landbevölkerung in der muslimischen Welt bestimmte Freiheiten, die ihren Zeitgenossen im mittelalterlichen Europa verwehrt waren: Sie waren keine Leibeigenen. Rechtlich gesehen waren sie nicht »an die Scholle gebunden« oder Teil des Grundbesitzes: Als frei geborene Menschen stand es ihnen frei, sich anderswo niederzulassen. Das Land gehörte ihnen nicht, aber sie hatten über Generationen hinweg ein Recht darauf, es zu bestellen, das von der Obrigkeit nur selten infrage gestellt wurde. Doch die Realität des Lebens der Kleinbauern sah anders aus. Die Flucht der Landbevölkerung vor unerträglichen Steuerlasten und bewaffneten Konflikten stellte eine wirtschaftliche Bedrohung für den Staat dar, der darauf umwendend reagierte. In der Mamlukenzeit (vom 13. bis ins frühe 16. Jahrhundert) wurden Kleinbauern dazu gezwungen, auf kaiserlichen Gütern Fronarbeit zu leisten. In der Osmanischen Zeit (vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert) wurde auf flüchtige Kleinbauern Jagd gemacht, und man brachte sie mit Gewalt in ihre Dörfer zurück. All dies war zwar eigentlich nicht legal, wurde aber zur gängigen Praxis. Aus all diesen Faktoren entstand zwischen den Kleinbauern und dem Staat mit Blick auf die Getreideproduktion und -verteilung ein komplexes Verhältnis, das zu einer wechselseitigen, aber ungleichen wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit führte. Ohne die Arbeit der Kleinbauern drohte dem Staat ein politischer und wirtschaftlicher Zusammenbruch. Andererseits brauchten die Kleinbauern die staatliche Ordnung für die Instandhaltung der Bewässerungskanäle und Ackerterrassen und um in Ruhe sähen und ernten und das Land produktiv erhalten zu können. Es stand jedoch nie infrage, wer die natürlichen Ressourcen – sei das nun Land oder Wasser – kontrollierte. Im Gegensatz zu anderen Feldfrüchten wurde Getreide auf staatlichem Land angebaut. Den Kleinbauern stand ein bestimmter Anteil der Getreideernte zu, sie besaßen aber weder das Land noch die Erzeugnisse ihrer Arbeit. Zwischen Bauern und Beamten entstanden regelmäßig Konflikte über Steuern und Wasserverbrauch. Gewalttätige Auseinandersetzungen konnten auf dem Dreschplatz (wo die Getreidesteuer in Form von Naturalabgaben eingesammelt wurde), an einem Bewässerungskanal oder beim Getreidelager ausbrechen. An diesen Orten lässt sich die asymmetrische Abhängigkeit der Landbevölkerung am deutlichsten nachzeichnen, weit besser als auf dem Feld oder im Dorf. Bei den aktuellen Feldforschungen der Universität Bonn am Tell Hisban in Zentraljordanien haben wir damit begonnen, Einzelheiten des Getreideanbaus und der Konflikte um diesen Wirtschaftszweig im 13. und 14. Jahrhundert zu rekonstruieren (Abb. 3). Das Gelände eignet sich ideal für eine solche Studie, da es sowohl für die Römer als auch für die Mamluken eine regionale Kornkammer darstellte (Abb. 4). Dabei haben wir herausgefunden, dass die Kleinbauern hier eine große Vielfalt an verschiedenen Weizen- und Gerstensorten kultivierten, wobei bestimmte Sorten eigens für den Staat angebaut wurden. Sie eigneten sich für den Transport über weite Entfernungen und für langfristige Lagerung. Andere Sorten, die sich nur kurzfristig lagern ließen, waren für den Verbrauch vor Ort bestimmt. Im 14. Jahrhundert wurde der Weizen hier über mehrere Jahrzehnte bewässert. In dieser Zeit gab es wiederholt Dürreperioden, und der staatliche Bedarf an Weizen stieg.2 Getreide für den örtlichen Gebrauch in Transjordanien und Palästina wurde in der Regel in den zahlreichen Höhlen der Region und in umfunktionierten Zisternen gelagert.3 Größere Mengen für den Transport in die Städte lagerte man in speziellen Getreidespeichern, die shunah genannt wurden. Der »Getreideboom« im 19. Jahrhundert öffnete lokalen Agrarunternehmern Zugänge zum Getreideexport. Gleichzeitig fanden im Osmanischen Reich die TanzimatReformen statt, durch die unter anderem Einzelpersonen verpflichtet wurden, Land in ihrem eigenen Namen und nicht mehr im Namen der Gemeinschaft zu registrieren. Dies kam zwar letztlich nicht den Kleinbauern zugute, wohl aber städtischen Eliten, die über die Mittel und den Zugang zu Krediten verfügten. Sie konnten nun Land erwerben, registrieren und am internationalen Getreidehandel teilnehmen.4 Gleichzeitig kam es in dieser Zeit zu einer Verschuldung der Kleinbauern und einer zunehmenden Entfremdung von dem Land, das sie bewirtschaftet hatten. So entstanden im Zuge der Entwicklung neuer Formen von Landbesitz auch neue Formen von Abhängigkeit. Wie in früheren Epochen hatten die Kleinbauern auch in dieser Zeit wenig Kontrolle über ihre Arbeitskraft, obwohl es keine formalen Hemmnisse für die Abwanderung anderswohin gab. Eine der anschaulichsten Ausdrucksformen dieser neuen Form des »Getreidekapitalismus« sind die qus.ūr – befestigte Hofanlagen, in denen shunah lagen. Dort wurde das Getreide gelagert und dann weiter zum Markt oder zum Hafen transportiert (Abb. 5). Bethany J. Walker
86 1 Walker 2020. 2 Walker u. a. 2017. 3 Walker 2011. 4 Abujaber 1993. Literatur: Abujaber 1993 R. S. Abujaber, Pioneers over Jordan: The Frontier of Settlement in Transjordan, 1850–1914 (London 1993). Walker 2011 B. J. Walker, Jordan in the Late Middle Ages: Transformation of the Mamluk Frontier (Chicago 2011). Walker 2020 B. J. Walker, Operation ›Betty‹: Deutsch-amerikanische Ausgrabungen im jordanischen Tell Hisban, DFG Forschung (März 2020): 24–27. Walker 2017 B. J. Walker – S. Laparidou – A. Hansen – C. Corbino, Did the Mamluks Have an Environmental Sense? Natural Resource Management in Syrian Villages, Mamluk Studies Review 20 (2017): 167–245. 1 Schmortopf, Tell Hisban (Jordanien), 13. Jahrhundert n. u. Z. Der Topf wurde in einer Küche in der Siedlung von Tell Hisban gefunden. Archäologische, botanische, Residual- und Textanalysen haben ergeben, dass darin ein Getreidebrei aus Weizen gekocht wurde, dem man für den besseren Geschmack Feigen zugesetzt hat – ein typisches Grundnahrungsmittel in der Region.
87 2 Ausgrabungen, Tell Hisban (Jordanien). In einem der Räume eines Bauernhauses in Tell Hisban (Jordanien) wurde ein Kochtopf aus der Mamlukenzeit freigelegt. Der Topf enthielt noch die Überreste der letzten Mahlzeit, die die Bewohner*innen zu sich genommen hatten, bevor ihr Haus unter Kanonenbeschuss geriet.
105 Patrick Zeidler Region erst nach der arabischen Eroberung Ägyptens im 7. Jahrhundert n. u. Z. in größerem Umfang eingeführt und löste von da an Leinen als Hauptfaser zunehmend ab. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Verwendung unterschiedlicher Ressourcen stets auch von der jeweiligen kulturellen Prägung und den aktuell herrschenden politischen Machtverhältnissen abhängig war. In der Anden-Region wurde nach der spanischen Eroberung Seide als neue Faser eingeführt – eine Ressource, die erst durch die Veränderung der globalen Machtverhältnisse und die Kolonialisierung der Neuen Welt verfügbar wurde. Das chinesische Reich konnte aufgrund seiner Seidenproduktion bereits in der Antike seinen Einfluss auf den gesamten eurasischen Kontinent, einschließlich Japan und bestimmter Regionen an der Nordwestküste Afrikas, ausdehnen, indem es die Seidenstraße als Handelsweg und Wirtschaftsmotor etablierte.3 Heute nutzt die Weltmacht China die Symbolkraft der Seide als Namensgeberin für die »Seidenstraße 2.0«, eine programmatische und mit erheblichen finanziellen Investitionen verbundene Initiative, mit der Chinas Einfluss auf den Weltmarkt langfristig gestärkt werden soll. Textilien dienen nicht nur im alltäglichen Gebrauch als Kleidung oder zur Raumausstattung, sondern sie besitzen auch eine wichtige Funktion als Statussymbol. Die Rohmaterialien Baumwolle, Leinen, Wolle und Seide sowie die Produktion von Textilien spielen bereits seit vielen Jahrtausenden eine bedeutende Rolle in verschiedenen gesellschaftlichen und globalen Prozessen, die häufig mit der Entstehung menschlicher Abhängigkeitsverhältnisse verbunden waren und auch heute noch sind.1 In den Gesellschaften des antiken Mittelmeerraums wurden Textilien u. a. zur Ableistung von Tributen und Steuern genutzt. Im Zuge des transatlantischen Sklavenhandels wurden aus Afrika verschleppte Menschen als Arbeitskräfte auf den Baumwollplantagen des amerikanischen Kontinents ausgebeutet. In den europäischen Textilfabriken des 18. Jahrhunderts standen abhängige Lohnarbeiter*innen am Beginn der Industrialisierung. Aber auch heute noch treten in manchen Regionen – wie beispielsweise in Süd- und Südostasien – zum Teil noch Ausbeutung und Zwangsarbeit in der Textilproduktion auf, die mit dem Bedürfnis der westlichen Gesellschaften nach »fast fashion« und Billigmode im Zusammenhang stehen. Baumwolle unterschiedlicher Art wurde bereits vor Jahrtausenden in verschiedenen Teilen der Welt unabhängig voneinander kultiviert.2 Zu den frühesten Belegen für die Domestizierung von Baumwolle zählen Nachweise aus dem Gebiet des heutigen Indiens und Pakistans, insbesondere aus dem Indus-Tal, die auf die Zeit um 6000 v. u. Z. zurückgehen. Aber auch in einigen Regionen Afrikas, der arabischen Welt und Syriens lässt sich die Domestizierung und systematische Verarbeitung von Baumwolle bis zum 6. Jahrtausend v. u. Z. zurückverfolgen. Bemerkenswert sind zudem die ab dem 5. Jahrtausend v. u. Z. an der Nordküste Perus auftretenden Hinweise auf die Domestizierung von Baumwolle. Neuere Forschungen deuten darauf hin, dass dort die Nutzbarmachung dieses Rohstoffs für die systematische Herstellung von Netzen zum Fischfang entscheidend für die Entstehung sesshafter, komplexer Gesellschaften war (s. dazu S. 66 und 129) und nicht – wie häufig angenommen – die Nahrungsmittelproduktion durch die Landwirtschaft. Im mesoamerikanischen Raum war die Verwendung von Baumwolle zur Herstellung von Kleidung und anderen Textilien seit dem 3. bis 2. Jahrtausend v. u. Z. verbreitet. Im antiken Mittelmeerraum war Baumwolle dagegen weitgehend unbekannt. Die Fasern für die Textilherstellung wurden vielmehr durch die Domestizierung von Schafen (Wolle) und den Anbau von Flachs gewonnen. Baumwolle wurde in dieser
106 hält; ein nackter Knabe weist mit seiner rechten Hand auf einen zwischen den beiden Figuren auf dem Boden stehenden kalathos; die daneben sitzende Frau beugt sich mit ihrem Oberkörper leicht nach vorn und stemmt das linke Bein gegen den Hocker einer anderen Frau, gleichzeitig zieht sie mit beiden Händen einen Wollstrang aus einem auf dem Boden stehenden kalathos und führt diesen über ihren nach vorn ausgestreckten Unterschenkel; im Anschluss daran läuft eine kleine, sich mit dem Kopf nach hinten wendende weibliche Person nach rechts; die letzte sitzende Frau in der Reihe – wohl eine sozial hochrangigere Person – ist aufgrund ihres Mantels aufwendiger gekleidet als die übrigen Figuren und hält zudem einen Kranz in der linken Hand; von rechts nähern sich ihr zwei junge, bartlose Männer, die jeweils ihre rechte Hand im Redegestus erhoben haben. Der Rest des Frieses beschäftigt sich mit dionysischen Bildthemen: das Götterpaar Dionysos und Ariadne, eine große Weinranke sowie ein Satyr. Das Spinnen von Wolle wird somit als eine Tätigkeit im häuslichen Kontext gezeigt, die von Frauen unterschiedlichen Alters und sozialen Ranges ausgeführt wird. Dabei Der erste Schritt in der Textilherstellung – nach der Gewinnung und Reinigung des Rohstoffs – besteht im Spinnen der Fäden. Dieser Vorgang wurde in vielen vormodernen Kulturen mit einer einfachen Handspindel ausgeführt (Abb. 1). Dabei werden durch Ziehen und gleichzeitiges Drehen aus den einzelnen Fasern fortlaufende Fäden hergestellt. Hierfür wird ein Rocken – meist ein langer hölzerner Stab – unter den Arm geklemmt. Die vorbereiteten Fasern werden als lockeres Päckchen daran befestigt und mit einem Tuch zusammengehalten oder aber in einem Wollkorb platziert. Anschließend zieht man mit der einen Hand nach und nach die Fasern heraus und führt diese der Spindel zu, welche gleichzeitig von der anderen Hand gedreht wird. Der fest auf die Spindel gesteckte Spinnwirtel erleichtert dabei das Drehen, indem er als Schwunggewicht dient und für eine gleichmäßige Rotation sorgt (Abb. 2). Bildliche Darstellungen von Frauen mit Spindeln und Spinnrocken sowie Funde entsprechender Werkzeuge als Beigaben in Gräbern mit weiblichen Bestattungen weisen darauf hin, dass das Spinnen in der Antike (und darüber hinaus) als typisch weibliche Tätigkeit galt. Auf der Wandung einer attisch-schwarzfigurigen Pyxis (Schmuckbehältnis) aus der Zeit um 530/520 v. u. Z. sind verschiedene Arbeitsschritte der Textilproduktion im häuslichen Kontext wiedergegeben (Abb. 3 a–b):4 Am linken Rand der Szene steht eine Frau mit langem Gewand, die in ihrer linken Hand eine Spindel hält und mit der rechten den zum Spinnrocken herabhängenden Wollfaden dreht; ein kleiner, nackter Knabe beobachtet das Geschehen; rechts davon sitzt eine weitere Frau auf einem Hocker, vor ihr sind noch die Reste eines kalathos (Wollkorb) mit nach oben gezogenem Wollstrang sowie eines stehenden Mädchens zu erkennen; daneben sitzt eine weitere Frau, die sich zu der vorherigen umdreht und dabei einen Wollstrang in den Händen 1 Spindel mit roher und gesponnener Baumwolle, Salasaca (Ecuador), 20. Jahrhundert, Bambus, Holz, Ton, Bonn, BASA-Museum, Inv. 3025e, L. 41,0 bzw. 76,0 cm. Spindeln dienten zur Verarbeitung von Wolle zu Fäden. Der auf dem Rocken platzierte Baumwollballen ist mit einem purpurfarbenen Tuch umwickelt, um für einen besseren Halt zu sorgen. Obwohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts Schafwolle und synthetische Fasern den Gebrauch von Baumwolle und Kamelidenhaar ablösten, werden die ursprünglichen Materialien in vielen ländlichen Regionen bis heute verwendet.
107 2 Spinnwirtel, Terrakotta, attisch, 6.–5. Jahrhundert v. u. Z., New York, Metropolitan Museum of Art, Inv. 27.25, H. 3,8 cm. 3 a–b Schwarzfigurige Pyxis (Schmuckbehältnis) mit Deckel, Ton, attisch, 530–520 v. u. Z., Bochum, Kunstsammlungen der Ruhr-Universität, Inv. S 1212, H. 11,8 cm. Der Spinnwirtel wird an einem Ende der Spindel befestigt und sorgt als Schwunggewicht für eine gleichmäßige Rotation. Aufwendig hergestellte und verzierte Exemplare wie das hier gezeigte konnten auch als Beigabe in Frauengräbern Verwendung finden. In der Antike war die Tätigkeit des Spinnens den Frauen vorbehalten. Auf der Wandung des Gefäßes sind verschiedene Schritte der Textilproduktion im häuslichen Kontext dargestellt. Anhand der Größe und Kleidung werden unterschiedliche soziale Gruppen wie Bürgerfrauen, Dienerinnen und Sklaven unterschieden.
122 TEXTILPRODUKTION UND ABHÄNGIGKEITEN IN DER SPÄTANTIKE
123 Textilien sind, wie Nahrung, ein Grundbedürfnis des Menschen und daher nehmen ihre Produktion, Verteilung und ihr Konsum eine wichtige Rolle in der Wirtschaft und im kulturellen Leben aller Gesellschaften ein. Die Textilproduktion war bereits in der Antike ein hoch spezialisiertes Handwerk.1 Dabei war die Herstellung von Textilien mit verschiedenen Formen von Abhängigkeit verbunden: der Verfügbarkeit von Ressourcen, der erzwungenen Arbeit, den ungleichen Geschlechterrollen und dem erreichten technologischen Fortschritt. Diese Aspekte der Unfreiheit sind in der Textilproduktion fast aller Kulturen und Epochen zu beobachten, und sie sind auch heute noch nicht überall beseitigt. Das vorliegende Kapitel wendet sich dem spätantiken Mittelmeerraum zu, d. h. der Zeit des 3.– 7. Jahrhunderts n. u. Z. (Abb. 1). ABHÄNGIGKEIT VON ROHSTOFFEN: SEIDE, GOLD UND PURPUR Eine wichtige Quelle zur Erforschung spätantiker Textilien sind Funde aus Ägypten, die sich dort dank des heißen und trockenen Klimas in gutem Zustand und in erstaunlicher Farbigkeit erhalten konnten. Die Textilien stammen in der Regel aus Gräbern, wo die Verstorbenen in ihrer Alltagskleidung bestattet und mit Decken und Behängen eingewickelt waren. Wegen ihrer engen Verwandtschaft zu Darstellungen von Kleidung und textiler Raumausstattung auf Mosaiken und Malereien gelten die Textilfunde aus Ägypten als repräsentativ für den gesamten spätantiken Mittelmeerraum. Die in der Spätantike gleichermaßen verfügbaren Rohmaterialien waren Leinen und Wolle. Je nach Bedarf wählte man das kühlende, reißfeste Leinen (Abb. 2) oder die wärmenden, farbaufnehmenden Eigenschaften der Wolle (Abb. 3). Baumwolle wurde erst nach der arabischen Eroberung Ägyptens im 7. Jahrhundert vermehrt benutzt und ersetzte dann im Mittelalter das Leinen als wichtigste Faser im gesamten Mittelmeerraum.2 Hier wird erkennbar, wie die Verfügbarkeit von Rohstoffen von der politischen Herrschaft abhängt, indem diese ihre eigenen Materialien in das eroberte Gebiet einführte und dort heimisch machte. Die textilen Luxusgüter der Spätantike waren Seide (Abb. 4), Gold und Purpurfärbung. Wegen ihres seltenen Vorkommens in der Natur und ihrer aufwendigen Verarbeitungstechnik waren diese nur beschränkt verfügbar. Seide wurde aus China oder Zentralasien in den Mittelmeerraum importiert. Nach schriftlichen Quellen soll Kaiser Justinian in der Mitte des 6. Jahrhunderts Eier der Seidenraupe von Zentralasien nach Byzanz geschmuggelt und damit die Seidenraupenzucht im Mittelmeerraum begründet haben.3 Die echte Purpurfarbe, die rötliche und blaue Farbtöne erzielte, wurde in einem äußerst aufwendigen Verfahren aus den Drüsen von Meeresschnecken gewonnen, die in den Küstenregionen des Mittelmeers beheimatet waren. Der echte Purpur stellte seit der Bronzezeit ein Statussymbol dar.4 In der Antike besaßen Kleidungsstücke und Einrichtungstextilien mit Goldfäden ein hohes Prestige.5 Die Goldfäden bestanden aus einem streifenförmig geschnittenen Goldblech, das spiralförmig um einen textilen Kernfaden gewickelt wurde. Mit Durchmessern von nur 0,1 bis 0,2 Millimetern waren Goldfäden Produkte von spezialisierten Goldschmieden. Die begrenzte Verfügbarkeit der Materialien Seide, Purpur und Goldfäden wurde zusätzlich eingeschränkt durch die kaiserliche Gesetzgebung, die ein Monopol des Kaiserhauses auf die Herstellung und den Vertrieb ganzseidener Gewänder, echter Purpurstoffe und Goldtextilien forderte. Archäologische Funde von Gold-, Seiden- und Purpurtextilien in privaten Kontexten zeigen jedoch, dass Gesetzeslücken genutzt oder das Gesetz umgangen wurde.6 Der Einfluss dieser Luxusmaterialien auf die Textilproduktion wird besonders in deren Imitationen deutlich: Für Seidengewebe typische Netzmuster wurden in den preiswerteren Materialien Wolle und Leinen nachgeahmt, der echte Schneckenpurpur wurde durch pflanzliche Farbstoffe wie Krapp und Indigo ersetzt und der leuchtende Effekt von Goldfäden wurde durch gelbe Wollfäden imitiert. GESCHLECHTSSPEZIFISCHE ROLLEN IN DER PRODUKTION: DAS SPINNEN Die Produktion von Textilien erfolgt in mehreren Arbeitsschritten: Rohstoffgewinnung, Fadenherstellung, Weben, Walken und Färben. Diese Arbeiten wurden, nach schriftlichen Zeugnissen zu schließen, überwiegend in professionellen Textilbetrieben durchgeführt.7 Während die mit der Stoffherstellung verbundenen Berufe von Männern ausgeübt wurden, scheint die Fadenherstellung, das Spinnen, eine ausschließlich von Frauen im häuslichen Bereich durchgeführte Tätigkeit gewesen zu sein.8 Das Spinnen der beim Weben verarbeiteten Fäden war sehr zeitaufwendig, so benötigte man für die Herstellung einer einzigen Tunika zwischen 122 und 350 Arbeitsstunden allein für das Spinnen der Woll- oder Leinenfäden.9 Benutzt wurde ausschließlich die Handspindel, die aus einem Holz- oder Knochenstab und einem aufgesteckten Spinnwirtel aus Ton, Stein oder Knochen bestand. In zahlreichen spätantiken Siedlungsgrabungen rund um das Mittelmeer fand man Hinweise auf häusliches Spinnen angesichts der Reste von Spinnwerkzeugen in Wohnhäusern (Abb. 5–6).10 Das Spinnen galt als typisch weibliche Tätigkeit und wurde mit weiblichen Tugenden wie Fleiß und Fürsorge verbunden. So wurden Spinnwerkzeuge zu typischen Attributen von Frauen, sowohl in Darstellungen von Lebenden als auch im Tod. Spinngeräte wurden Frauen in das Grab beigegeben und auf Grabsteinen wurden Frauen mit einer Spindel abgebildet. In wohlhabenden Haushalten galten Spinnwerkzeuge aus edlen Materialien wie Elfenbein, Bernstein oder Gagat als Statussymbole.11 Mit der Verkündigungsszene ging die Darstellung der spinnenden Maria in die christliche Ikonografie ein.12 Petra Linscheid
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