Leseprobe

Einleitung 18 Die Morgenstunden unterschieden sich nur geringfügig für den ehemaligen MfS-Major Dieter Webs. Von Montag bis Samstag klingelte halb sechs in der Früh der Wecker in der Dreiraumwohnung am Dresdner Fučíkplatz. Mit einem gemeinsamen Frühstück begann der Tag der Familie im neu errichteten Zehngeschosser. Da der offizielle Dienstschluss um 17.00 Uhr durch Überstunden, Sonderaufgaben und Einsätze nicht immer eingehalten werden konnte, war dies oft die einzige gemeinsame Mahlzeit am Tag, weswegen die Familie viel Wert darauf legte. Webs – der unter anderem in der Abteilung »Kader und Schulung« (»KuSch«) und später beim »Rückwärtigen Dienst« (»RD«) der Bezirksverwaltung Dresden (BV) tätig war – verließ im Herrenanzug, den er auch im Dienst trug, das Haus. Auf dem Weg zur Arbeit nutzte er die Straßenbahn, fuhr über die »Brücke der Einheit«, die heutige Albertbrücke, und querte somit die Elbe. Nach einem kurzen Umstieg in die Linie 11 fuhr er die lange Bautzner Straße Richtung Osten hinauf. Vorbei an alten Villen und der »Waldschlösschen-Brauerei« wurde in der Linkskurve die Spitze der »Villa Elysium«, die »Kreisdienststelle Dresden-Stadt«, als eines der ersten Gebäude des MfS-Areals sichtbar. Die mit Kopfstein gepflasterte Straße war gerahmt von Laubbäumen, einem schmalen Gehweg und einer ca. zwei Meter hohen, grau verputzten Mauer. Nachdem Webs die repräsentative Villa aus dem 19. Jahrhundert passierte, kam ihm der »Erweiterungsbau 1« und der daran angeschlossene alte »Heidehof« in den Blick. An der Haltestelle »Bautzner Straße« stieg Webs aus und stand direkt vor seiner Arbeitsstätte, der BV Dresden. Als sich morgens gegen 7.45 Uhr der Arbeitsort der Dresdner »Tschekisten«1 zu füllen begann, geschah dies wenig konspirativ. Nicht nur aus der Straßenbahn, sondern auch von den nahe gelegenen Parkplätzen strömten die Mitarbeiter2 des MfS auf das Areal am Elbhang – für Anwohner und Passanten weithin sicht- und zuordenbar.3 Als der MfS-Offizier am schmalen Personeneingang unmittelbar vor dem »Erweiterungsbau 1« ankam, zückte er seinen Dienstausweis und die jungen Mitarbeiter der »Wach- und Sicherungseinheit« (»WSE«) ließen ihn auf das Gelände. Wie fast jeden Morgen betrat er seine Dienststelle unbewaffnet. Seine Makarow-Pistole trug er nur bei Einsätzen außerhalb der BV. Vom Wachposten aus lief er über das Areal, vorbei an der Untersuchungshaftanstalt (UHA) – die er nicht betreten durfte – hin zum »Klubhaus«, in dem auch seine Abteilung (»RD«) untergebracht war. Auf den Gängen des Dienstobjektes grüßte man sich salopp.4 Die meisten Mitarbeiter kannten sich vom Sehen, viele sogar namentlich. Man war unter sich. Um 8.00 Uhr war regulärer Dienstbeginn. Zusammen mit dem Zimmerschlüssel holte Webs sich im Sekretariat das »Neue Deutschland« ab. Nach der halbstündigen Lektüre öffnete er seinen Stahlschrank, zog seine aktuellen Vorgänge heraus und bearbeitete diese bis zur Frühstückspause. In dieser oder ähnlicher Weise, wie es im Interview der ehemalige MfS-Major darstellte, begann für viele der Dresdner MfS-Mitarbeiter ein üblicher Arbeitstag – es war deren Alltag.5 Dieser Nicht-Ort für DDR-Bürger war gleichzeitig ein Lebens- und Arbeitsort für die Mitarbeiter des MfS. Dies ist nicht spezifisch für den ostdeutschen Geheimdienst, sondern ein trivialer Befund, der für Geheimdienste und deren Liegenschaften im Allgemeinen gilt. Aus diesem Grund war es für Außenstehende unklar, welch vielfältige Gebäude sich hinter der Adresse »Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden, Diensteinheit 8200, 8060 Dresden«6 verbargen. Erst bei einer näheren Betrachtung wird das funktionale und

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1