321 erwartet, dass sie die Kinder der Mitarbeiter im Sinne der Lehren von Marx und Engels sowie der sozialistischen Moral und Ethik erzögen. In den Beurteilungen von Vorgesetzten, die in den Kaderakten zu finden sind, wurden nicht nur bisherige Leistungen beschrieben, sondern darüber hinaus Erwartungen formuliert, welche Entwicklungen der jeweilige Mitarbeiter noch zu durchlaufen habe, um dem geforderten Ideal eines guten »Tschekisten« zu entsprechen. Diese Beispiele illustrieren, wie stark das Verhalten der Mitarbeiter von wechselseitigen Erwartungshaltungen sowie dem Antizipieren des Gewünschten beeinflusst wurde. Die Ausprägung einer »Kampfbereitschaft« sowie der Glaube an den Sozialismus/Kommunismus wurden im Sinne eines gemeinsamen Grundkonsenses von jedem Mitarbeiter verlangt. Wer von dieser Norm abfiel, entsprach nicht mehr dem geforderten Rahmen und hatte mit Konsequenzen zu rechnen. Dieses anerzogene »tschekistische Selbstverständnis« bröckelte allerdings während des Zerfallsprozesses Ende der 1980er-Jahre. Als es Jörg Petters etwa im Herbst 1989 wagte, in kleiner Mitarbeiterrunde der offiziellen Auffassung zu widersprechen, die Demonstranten auf den Straßen Dresdens seien alles »Feinde der DDR«, stellte er den sozialen Rahmen (und die darin eingelagerten Erwartungen an einen MfS-Mitarbeiter) innerhalb der BV in Frage. Und um eben diesen aufrechtzuerhalten, wurde er am Folgetag disziplinarisch belangt und musste seinen Dienst quittieren.71 Dieser Versuch des Kaderleiters Braatz, den Zerfall des für das Funktionieren der Organisation notwendigen sozialen Rahmens zu stoppen, war letztlich erfolglos. In den Tagen der Revolution löste sich dieser mit dem Abschmelzen des Wahrheits- und somit Machtmonopols der SED sukzessive auf. Die Betonung der Wirkung von Erwartungen ist trivial wie einleuchtend. Das explizite Heranziehen der Goffmanschen Rahmenanalyse hilft allerdings dabei, ein Verständnis für den spezifisch »tschekistischen« Habitus der Mitarbeiter zu gewinnen. Noch stärker als ohnehin schon im öffentlichen Raum begegneten den Mitarbeitern Erwartungen in schriftlicher (etwa über Befehle und Dienstordnungen) und mündlicher Form (etwa durch Anweisungen der Vorgesetzten) sowie vermittelt über die symbolgetränkte Lebenswelt am Elbhang. Fahnen am Eingangstor, sinnstiftende Inschriften am Portal des »Heidehofes«, Spruchbänder im Inneren der Gebäude, traditionsgefärbte Stoffe während der Feierlichkeiten im »Mehrzwecksaal« sowie Traditionswimpel, Ehrenbanner, Ehrenteller und gerahmte Porträts der Staatsführer und ideologischen Bezugspersonen in den Diensträumen waren gemeinschaftlich wahrgenommene Sinnangebote, welche Vergangenheit, Auftrag und Ziel des Tuns beim MfS erklärten und rechtfertigten.72 Mitunter wurden die ideologiegeladenen Objekte auch materialisiert kombiniert. Etwa wurde im Februar 1970 das Erinnerungsabzeichen zum Jahrestag des MfS an die Mitarbeiter 68 Willems: Rahmen und Habitus, S. 51. 69 Vgl. ebd., S. 183. 70 Vgl. ebd., S. 113 f. 71 Vgl. Interview mit Jörg Petters am 26. 3. 2021. 72 So den Innenaufnahmen eines Büros aus dem »Heidehof« aus den 1980er-Jahren zu entnehmen. Vgl. MfS, BV Dresden, Abteilung 26, Leiter, OSL Nebe, 19. 11. 1986: »Protokoll über durchgeführte X-Maßnahmen in den Diensträumen des Leiter der Bezirksverwaltung, Genossen Generalmajor Böhm«, in: MfS, BV Dresden, Abt. 26, 7433, Bl. 14.
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