Innenansichten 320 4.2 »TSCHEKISTISCHER« HABITUS Die beschriebene weltanschauliche Aufladung der Lebenswelt der Mitarbeiter war ein konstitutiver Faktor für die Ausprägung eines genuin »tschekistischen Habitus« in den Farben des ostdeutschen Geheimdienstes. Wie stark der diesbezügliche eigene Habitus – die Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata und somit die Gewohnheiten und Normalitätsvorstellungen – bei jedem einzelnen Mitarbeiter ausgeprägt war, ist letztlich, wie bereits in der Einleitung ausgeführt, trotz aller Gemeinsamkeiten nicht zu ergründen. Allerdings lässt sich anhand der Annahmen des Soziologen Ervin Goffman darstellen, dass die MfS-Zentrale sowie die BV-Leitung Erwartungen über offizielle Regelwerke gegenüber den Mitarbeitern formulierte und adressierte, wodurch »Irritationen durch Zurückführung auf bekannte und vertraute Muster«68 vermieden werden sollten. Die vorherrschende »Rahmung« innerhalb des MfS sorgte – wie auch in anderen Interaktionssystemen – dafür, dass Normalisierungen eine zügige Informationsverarbeitung innerhalb der Organisation ermöglichten und schließlich gewünschtes Verhalten erzeugten. Mit anderen Worten ausgedrückt: Der spezifische soziale Rahmen des MfS sollte bei den Mitarbeitern Gewohnheiten im Denken und Handeln herstellen und stabilisieren. Diese Form der »Habitualisierung« sorgt nicht nur für eine möglichst große Entlastung im Alltag und somit Energiefreisetzung, sondern befördert auch den Prozess der persönlichen »Entschiedenheit« bis hin zur »Weltgeschlossenheit«.69 Der Schlüsselbegriff für ein Verständnis des Denkens und Handelns der MfS-Mitarbeiter sind hierbei die Erwartungen, die sich über den sozialen Rahmen ausdrücken.70 Erwartungen als solches waren konstitutiv für den SED-Staat im Allgemeinen. Anders als in pluralistisch-marktwirtschaftlichen Gesellschaften war die Zukunft niemals (ergebnis-) offen, sondern durch die »marxistisch-leninistischen« Wahrheitsansprüche vorgezeichnet. Innerhalb dieses ideologischen Denkkanals entstand eine Erwartungshaltung, die durch eigenes Tun in die Realität überführt werden sollte. Das »Ende der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen«, die »Sicherung des Friedens« und letztlich das kommunistische Utopia waren formulierte Ziele, für die es galt, sich einzusetzen, ganz gleich, ob als »Arbeiter« in der Fabrik oder »Tschekist« in der BV. Innerhalb dieses gesamtgesellschaftlichen Paradigmas basierte auch das (Arbeits-)Leben der Mitarbeiter auf wechselseitigen Erwartungshaltungen. Der Schließer der »Abteilung XIV« erwartete hinter den Zellentüren der UHA den »Klassenfeind«, den »Spion« oder »Verräter«, unabhängig davon, wie realistisch diese Annahme war. Schließlich erzeugte erst diese Erwartung und die mit ihr einhergehende Rollenverteilung (Schließer und Häftling) die für den tristen Arbeitsalltag im Mehrschichtsystem der UHA notwendige Sinnstiftung. Von den Vernehmern der »Abteilung IX« wurden ideologische Standhaftigkeit und intellektuelle Ebenbürtigkeit angesichts der »negativ-dekadenten« Ausführungen und Rechtfertigungen der Untersuchungshäftlinge erwartet. Aber auch von den Kindergärtnerinnen des »RD« wurde
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