Leseprobe

89 Dieser Befund soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das MfS eine hochgradig formalisierte Organisation mit einer sich zunehmend ausweitenden Bürokratie war, in der der Dienstbetrieb bis ins Detail geregelt wurde. Bereits die »Vorläufige Geschäfts- und Büroordnung« des MfS vom April 1950 legte Kompetenzen, Arbeitszeiten, den Besucherverkehr und das Prozedere bei Krankheitsmeldungen fest. Selbst die verschiedenen Stiftfarben zur Kennzeichnung des Posteingangs wurden bestimmt53; althergebrachte deutsche Verwaltungskultur war bei allen Brüchen immer auch Teil des sozialistischen Neuanfangs.54 Von den strukturellen Beharrungstendenzen und der Funktionslogik bürokratischer Organisationen konnten sich auch die DDR-Organisationen nie ganz frei machen.55 Ausdruck moderner Organisationen ist das Prinzip der Hierarchie, welches im MfS als quasi-militärisch funktionierender Apparat durch den Mechanismus von »Befehl und Gehorsam« eine hervorgehobene Rolle spielte, wodurch der Minister und seine Hauptabteilungsleiter von Beginn an eine zentrale Anleitungs- und Kontrollfunktion besaßen.56 Dass das MfS nach diesen Prinzipien arbeitete, wurde den neu eingestellten Kadern zügig in Schulungen vermittelt. Kurz nach seiner Einstellung hielt ein späterer »Abwehroffizier« in seinem Aufzeichnungsbuch unmissverständlich fest: »Befehle u. Dienstanweisungen d. Ministers [besitzen; H. N.] Rechts-Charakter«.57 Die Richtlinien, Ordnungen, Direktiven, Dienstanweisungen, Anweisungen und Befehle aus Berlin besaßen eine hohe Bindungskraft und schöpften ihre Legitimation aus dem politischen Raum der staatsdominierenden SED.58 Des Weiteren verdeutlicht die folgende Aufzählung das komplexe Ineinanderwirken der Maßgaben von Partei, Ministerium und BV.59 Demnach wurde in einem internen Anschreiben der »Abteilung N« Ende der 1980er-Jahre festgehalten, dass die »Grundlagen der Führung und Leitung der DE […] die Beschlüsse von Partei und Regierung [die; H. N.], Befehle und Weisungen, der auf der Grundlage der Planorientierung und 52 MfS, BV Dresden, BdL, 17. 12. 1963: »Wörtliche Ausführungen über die Aussprache mit dem Gen. Polenz in der Leitungssitzung am 14. 12. 1963, in: BArch, MfS, BV Dresden, KS 100/72, Bd. 2, Bl. 8. 53 Vgl. MfS, Vorläufige Geschäfts- und Büroordnung des Ministeriums für Staatssicherheit §§ 28 f., 18. 4. 1950, in: Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente des MfS, S. 28. 54 Vgl. Rösler, Harald: Bürokunde und ein Blick ins Archiv, Duisburg 2015, S. 116 f. 55 Vgl. Kühl: Organisationen, S. 166. Kühl bezieht sich nicht allein auf das MfS oder die DDR-Verwaltungen, sondern skizziert eine Generallinie der Organisationen. Vgl. ebenso: Derlien, Hans-Ulrich/Böhme, Doris/ Heindl, Markus: Bürokratietheorie. Eine Einführung in eine Theorie der Verwaltung, Wiesbaden 2011, S. 110 f. 56 Der § 47, der die postalische Sprachregelung fixierte, ist aufschlussreich: »Nachgeordnete Dienststellen melden, berichten, überreichen, legen vor, bitten, Ihnen wird befohlen, angeordnet, mitgeteilt, übersandt, sie werden angewiesen, ersucht. Gleichgestellte Dienststellen teilen mit, übersenden und bitten, ihnen wird mitgeteilt, sie werden gebeten. Vorgesetzte Dienststellen befehlen, weisen an, ordnen an und ersuchen, ihnen wird gemeldet, berichtet und überreicht.« Zit. nach: MfS, Vorläufige Geschäfts- und Büroordnung des Ministeriums für Staatssicherheit, § 47, 18. 4. 1950, in: Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente des MfS, S. 31. Vgl. ebenso: Ebd. §§ 3 und 5 auf S. 22. Hervorhebungen wie im Original. 57 MfS, BV Dresden, Peter Spring, Buch ab 1965: »MfS – Organ des einheitlichen Systems der Arbeiter- und Bauernmacht in der DDR«, in: BStU, MfS, BV Ddn, Abt. VII 8443, Bl. 2. 58 Vgl. MfS, Vorläufige Ordnung über den Erlass von formgebundenen dienstlichen Bestimmungen im Ministerium für Staatssicherheit (Bestimmungsordnung), 25.2. 1970, in: Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente des MfS, S. 190 f. Vgl. ebenso: MfS, Ordnung Nr. 1/80 über die formgebunden dienstlichen Bestimmungen im Ministerium für Staatssicherheit – Bestimmungsordnung, 5. 2. 1980, in: Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente des MfS, S. 320. 59 Über den jeweiligen Erfüllungsgrad des Jahresarbeitsplanes sowie die konkreten Leitungstätigkeiten wurde wiederum in den Dienstberatungen auf Abteilungs- sowie Referatsebene der BV eingegangen.

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