Leseprobe

EIN ORT FÜR MENSCHEN MIT NEUEM BEWUSSTSEIN Lebenswelten hauptamtlicher Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Dresden des MfS 1950 bis 1989

Heiko Neumann (Autor) · Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hrsg.) EIN ORT FÜR »MENSCHEN MIT NEUEM BEWUSSTSEIN« SANDSTEIN VERLAG LEBENSWELTEN HAUPTAMTLICHER MITARBEITER DER BEZIRKSVERWALTUNG DRESDEN DES MFS 1950 BIS 1989 Dissertationsschrift

INHALT 8 Zum Geleit Markus Pieper 11 Zum Geleit Uljana Sieber 14 Vorwort 1. EINLEITUNG 21 1.1 Fragestellung 24 1.2 Forschungsstand 28 1.3 Quellenkritik und methodisches Vorgehen 38 1.4 Aufbau der Arbeit 2. EINBETTUNG: DIE BEDEUTUNG DER BV DRESDEN INNERHALB DER REALSOZIALISTISCHEN SICHERHEITSARCHITEKTUR 44 2.1 Prolog: Zur Genese eines »revolutionären« ostdeutschen Sicherheitsorgans 51 2.2 Zur parteilichen Einbindung der BV Dresden 51 2.2.1 Sicherheitsrelevante Charakteristika des Bezirkes 54 2.2.2 Herrschaftspraxis an der parteilichen Schnittstelle zwischen Zentrale und Bezirk 60 2.2.3 Austausch und Kontrolle: Zum Verhältnis zwischen SED-BL und BV 71 2.3 Die BV Dresden als Teil der »bewaffneten Organe« im Bezirk 3. DER APPARAT: STRUKTURENTWICKLUNG UND FÜHRUNGSPERSONAL DER BV 80 3.1 Strukturentwicklung der BV Dresden 80 3.1.1 Einführung: Zur Strukturentwicklung einer politischen Polizei in Sachsen 1945 bis 1949 84 3.1.2 Überblick: Strukturentwicklung der BV Dresden von 1950 bis 1989 84 a) Funktionsweise des Apparates: Grundüberlegungen, Merkmale, Prozesse und Strukturen 96 b) Die Parteiorganisation der BV 107 c) Quantitäten I: Strukturelle und personelle Entwicklung der BV 121 d) Quantitäten II: Altersstruktur in den 1980er-Jahren 126 e) Quantitäten III: Die Bedeutung von Frauen in der BV 132 3.2 Die dienstlichen und parteilichen Leiter der BV Dresden 132 3.2.1 Die Leiter – Taktgeber der BV Dresden 132 Joseph Gutsche (1950–1953) – ein Architekt des sächsischen Sicherheitsapparates 136 Gerhard Harnisch (1953) – der Regisseur des Ortswechsels 139 Rolf Markert (1953–1981) – der alte General mit Prägekraft 150 Horst Böhm (1981–1989) – der junge Aufsteiger 164 3.2.2 Die 1. Sekretäre der Parteiorganisation – das parteiliche Gewissen der Bezirksverwaltung

166 Erich Glaser (1954–1955 und 1956– 1957) – der kommunistische Bergsteiger 170 Heinrich Aurich (1955–1956) – der Interimssekretär mit pädagogischen Fähigkeiten 175 Erich Woitha (1957–1959) – der selbstbewusste Kritiker 178 Günter Müller (1959–1961) – der gestürzte Protegé Markerts 184 Kurt Polenz (1961–1964) – der überforderte Alkoholiker 190 Paul Bormann (1964–1970) – der operativ erfahrene Vorzeigesekretär 197 Hardi Anders (1970–1979) – die personifizierte Kontinuität der BV 200 Dieter Hoffmann (1979–1983) – der aufstrebende KD-Leiter aus Meißen 204 Roland Kloß (1983–1989) – der akzeptierte Sekretär 206 Zusammenfassung: Die 1. Sekretäre der BV Dresden im Längsschnitt 209 3.3 Fallstudien: Analyse ausgewählter Abteilungen und deren Leiter 210 3.3.1 Abteilung VIII – Feindbekämpfung von der Beobachtung bis zum Zugriff 212 Josef Nossol (1953–1964) – der robuste Leiter aus dem Arbeitermilieu 216 Hermann Glöckner (1964–1985) – der vorbildliche »Klassenkämpfer« 219 Jürgen Meinhardt (1985–1989) – der kompetente Schüler Glöckners 222 Zusammenfassung: Die Leiter der »Abteilung VIII« im Längsschnitt 223 3.3.2 Abteilung IX – nahm im »Republikmaßstab einen geachteten Platz« ein 231 Harry Winter (1949–1953) – der Waffenspezialist aus kommunistischem Adel 234 Walter Nestler (1953–1955) – der anmaßende Egoist 238 Günter Simon (1955–1976) – der selbstherrliche Konsolidierer 244 Werner Settnik (1976–1989) – vom Bergmann zum aufstrebenden Funktionär 246 Zusammenfassung: Die Leiter der »Abteilung IX« im Längsschnitt 248 3.3.3 Die Abteilung XIV – »man hatte eben wenig, also kaum Kommunikation mit den Leuten« 254 Arthur Richter (1954–1965) – ein alter Eisendreher formt die Abteilung 256 Erich Meier (1965–1971) – ein Kommunist mit Selbstbedienungsmentalität 262 Johannes Reinicke (1971–1989) – die langjährige Idealbesetzung 264 Zusammenfassung: Die Leiter der »Abteilung XIV« im Längsschnitt 266 3.3.4 Abteilung Kader und Schulung – Personalrekrutierung, Weiterbildung und Disziplinierung 267 Erich Bär (1949/50–1952) – der vielversprechende Kaderleiter, der operativ scheiterte 270 Oskar Stefan (1952–1958) – ein von der Missachtung zermürbter NKWD-Offizier 275 Fritz Schweckendieck (1958–1964) – ein Waise aus dem kommunistischen Milieu 278 Erich Dolze (1964–1978) – vom Wehrmachtssoldaten zum anerkannten Kaderleiter 284 Rudolf Braatz (1978–1989/90) – vom KD-Leiter zum langjährigen Kaderchef 286 Zusammenfassung: Die Leiter der Abteilung »KuSch« im Längsschnitt

6 287 3.3.5 Abteilung Rückwärtige Dienste – das baulich-technische Rückgrat der BV 289 Hildegard Kleefisch/Groschupf (1951– 1963) – eine Frau lässt die BV erbauen 294 Heinz Schneider (1963–1979) – ein Techniker koordiniert die räumliche Expansion 296 Günther Gerlach (1979–1988) – vom operativen zum baulichen Experten 300 Günter Wenzel (1988–1989/90) – auf Umwegen zum Abteilungsleiter 302 Zusammenfassung: Die Leiter der Abteilung »VuW« bzw. »RD« im Längsschnitt 4. INNENANSICHTEN: »TSCHEKISTISCHE« LEBENSWELTEN AM ELBHANG 307 4.1 Weltanschauliche Rahmung und »Traditionspflege« 307 Weltanschauung als Sinnstiftungs- und Rechtfertigungsquelle 310 Die Partei als weltanschaulicher Transmissionsriemen 312 Die Bedeutung der sowjetischen »Freunde« für die Mitarbeiter der BV 316 Die »Traditionspflege« innerhalb der BV 320 4.2 »Tschekistischer« Habitus 324 Personalpolitische Weichenstellungen während der »Aufbaujahre« 326 Die Bedeutung der unterschiedlichen Generationen von Mitarbeitern 331 Der geeignete Personenkreis – relevante Einstellungsmerkmale künftiger Mitarbeiter 335 Die Entscheidung zum Eintritt – Motivlagen der Mitarbeiter 337 Die Zugänge ins MfS – geläufige Rekrutierungskanäle 343 Der Fürsorgeanspruch des MfS gegenüber seinen Mitarbeitern – die materielle Absicherung 346 Die Durchschnittlichkeit der unteren und mittleren Kader 350 Abseits der Erwartungen – die entlassenen Mitarbeiter 353 Die Schnittmengen – allgemeine Merkmale eines »tschekistischen« Habitus 357 4.3 Dienstalltag 357 »Tschekisten« unter sich – die Arbeit im Kollektiv 360 Die Bereitschaft zur Dauerverfügbarkeit – die Arbeitszeit 361 Abseits des Gewünschten und dennoch Teil des Alltags – die Fehlerkultur in der BV 364 Der (un-)liebsame Begleiter – zur Bedeutung des Alkoholkonsums 370 Jenseits des Toleranzrahmens – Disziplinarprobleme in der BV 373 »Büffeln« für den »Klassenkampf« – Qualifizierung und Weiterbildung der Mitarbeiter 377 Der Körper des Mitarbeiters – zwischen Funktions- und Gesunderhaltung 380 Das Soldatische im »Tschekisten« – militärische Kompetenzen der Mitarbeiter 389 4.4 Wohnen, Familie und Freizeit 389 Mitarbeiter unter sich – die Wohnsituation 391 Leben für und mit dem MfS – die Entgrenzung von Dienst- und Privatleben 392 Mit Druck zur Norm – das Liebes- und Eheleben der Mitarbeiter 395 Erziehungs-, Fürsorge- und Beobachtungssubjekt – die Kinder der Mitarbeiter 397 Wenn Vati wieder einmal nicht zu Hause ist – Familienbelastungen durch den Dienst für das MfS 399 Erholung und Entspannung – Freizeit- und Urlaubsangebote des MfS 5. RÄUME: TOPOGRAPHISCHE ENTWICKLUNG DER BV 404 5.1 Vorgeschichte: Vom 19. Jahrhundert bis zur Nutzung durch die sowjetischen Sicherheitsorgane von 1945 bis 1953 415 5.2 Baugeschichtlich-funktionale Entwicklung des Areals 1953 bis 1989 415 5.2.1 Rahmung: Administrative und städtebauliche Grundlagen 422 5.2.2 Überblick: Entwicklung des Areals

7 423 5.2.3 Arbeit: Verwaltung im Büro 424 a) »General-Müller-Block« | Der erste Dienstsitz der BV – Königsbrücker Straße 123 und 125 429 b) »Heidehof« | Die Zentrale – Bautzner Straße 116 430 c) »Mittelbau« (1/54) | Der erste neue Verwaltungsbau – Bautzner Straße 114/116 435 d) »Villa Elysium« | KD Dresden-Stadt – Bautzner Straße 110 436 e) »Villa Scheibe« | Kindergarten und Dienstsitz der »Abteilung VI« – Bautzner Straße 120 438 f) »Villa Bella Vista« | Dienstsitz der »Abteilung Finanzen« – Bautzner Straße 122 441 g) »Erweiterungsbau 1« (10/54) | Verwaltungsgebäude – Bautzner Straße 114 445 h) »Mehrzweckgebäude« | Bautzner Straße 112 450 i) »Villa Brockhaus« | KD Dresden-­ Land – Bautzner Straße 175 452 j) »Erweiterungsbau 2« | Der brachiale Verwaltungsblock – Bautzner Straße 110/112 459 k) »Erweiterungsbau 3« | Das gescheiterte Zukunftsprojekt der BV – Bautzner Straße 116 462 5.2.4 Haftort: MfS-Untersuchungshaftanstalt (UHA) 467 5.2.5 Arbeitsleben: Versorgungsstrukturen der hauptamtlichen Mitarbeiter 468 a) »Villa Sadofsky« | Klubhaus, Ledigenheim, Verwaltung: Bautzner Straße 118 474 b) »Mehrzwecksaal« – Bautzner Straße 116 476 c) »Versorgungskomplex« – Bautzner Straße 116 486 d) »Villa Madaus« | »Medizinischer Dienst«: Bautzner Straße 114 490 e) Unterkünfte und Gästehäuser außerhalb des Kernareals der BV Dresden 492 5.2.6 Privatleben: Wohnobjekte der hauptamtlichen Mitarbeiter 500 5.2.7 Infrastruktur: Arbeitsgrundlagen der BV 500 a) Versorgungsstrukturen: Strom, Heizung und Lebensmittel 504 b) Kommunikationsstrukturen: Von der internen Absicherung zum »Bezirkssendezentrum« 510 c) Mobilitätsstrukturen: Treibstoff, Parkflächen und Werkstätten 514 d) Lagerstrukturen: Materialen und militärische Güter 516 5.2.8 Sicherheit: Wach- und Sicherungsanlagen 518 a) Sicherung der BV: Personal, Technik und Baumaßnahmen 525 b) Partielle Lücken: Der Umgang mit Nicht-Mitarbeitern in den Liegenschaften 526 c) Exkurs: Sicherheit in Zeiten des Kalten Krieges – die »Ausweichführungsstelle« zwischen Brauna und Schwosdorf 528 5.2.9 Raumästhetik: Gestaltung des Areals 6. FAZIT ANHANG 549 Abkürzungen 551 Quellen 557 Literatur 567 Impressum

Einleitung 18 Die Morgenstunden unterschieden sich nur geringfügig für den ehemaligen MfS-Major Dieter Webs. Von Montag bis Samstag klingelte halb sechs in der Früh der Wecker in der Dreiraumwohnung am Dresdner Fučíkplatz. Mit einem gemeinsamen Frühstück begann der Tag der Familie im neu errichteten Zehngeschosser. Da der offizielle Dienstschluss um 17.00 Uhr durch Überstunden, Sonderaufgaben und Einsätze nicht immer eingehalten werden konnte, war dies oft die einzige gemeinsame Mahlzeit am Tag, weswegen die Familie viel Wert darauf legte. Webs – der unter anderem in der Abteilung »Kader und Schulung« (»KuSch«) und später beim »Rückwärtigen Dienst« (»RD«) der Bezirksverwaltung Dresden (BV) tätig war – verließ im Herrenanzug, den er auch im Dienst trug, das Haus. Auf dem Weg zur Arbeit nutzte er die Straßenbahn, fuhr über die »Brücke der Einheit«, die heutige Albertbrücke, und querte somit die Elbe. Nach einem kurzen Umstieg in die Linie 11 fuhr er die lange Bautzner Straße Richtung Osten hinauf. Vorbei an alten Villen und der »Waldschlösschen-Brauerei« wurde in der Linkskurve die Spitze der »Villa Elysium«, die »Kreisdienststelle Dresden-Stadt«, als eines der ersten Gebäude des MfS-Areals sichtbar. Die mit Kopfstein gepflasterte Straße war gerahmt von Laubbäumen, einem schmalen Gehweg und einer ca. zwei Meter hohen, grau verputzten Mauer. Nachdem Webs die repräsentative Villa aus dem 19. Jahrhundert passierte, kam ihm der »Erweiterungsbau 1« und der daran angeschlossene alte »Heidehof« in den Blick. An der Haltestelle »Bautzner Straße« stieg Webs aus und stand direkt vor seiner Arbeitsstätte, der BV Dresden. Als sich morgens gegen 7.45 Uhr der Arbeitsort der Dresdner »Tschekisten«1 zu füllen begann, geschah dies wenig konspirativ. Nicht nur aus der Straßenbahn, sondern auch von den nahe gelegenen Parkplätzen strömten die Mitarbeiter2 des MfS auf das Areal am Elbhang – für Anwohner und Passanten weithin sicht- und zuordenbar.3 Als der MfS-Offizier am schmalen Personeneingang unmittelbar vor dem »Erweiterungsbau 1« ankam, zückte er seinen Dienstausweis und die jungen Mitarbeiter der »Wach- und Sicherungseinheit« (»WSE«) ließen ihn auf das Gelände. Wie fast jeden Morgen betrat er seine Dienststelle unbewaffnet. Seine Makarow-Pistole trug er nur bei Einsätzen außerhalb der BV. Vom Wachposten aus lief er über das Areal, vorbei an der Untersuchungshaftanstalt (UHA) – die er nicht betreten durfte – hin zum »Klubhaus«, in dem auch seine Abteilung (»RD«) untergebracht war. Auf den Gängen des Dienstobjektes grüßte man sich salopp.4 Die meisten Mitarbeiter kannten sich vom Sehen, viele sogar namentlich. Man war unter sich. Um 8.00 Uhr war regulärer Dienstbeginn. Zusammen mit dem Zimmerschlüssel holte Webs sich im Sekretariat das »Neue Deutschland« ab. Nach der halbstündigen Lektüre öffnete er seinen Stahlschrank, zog seine aktuellen Vorgänge heraus und bearbeitete diese bis zur Frühstückspause. In dieser oder ähnlicher Weise, wie es im Interview der ehemalige MfS-Major darstellte, begann für viele der Dresdner MfS-Mitarbeiter ein üblicher Arbeitstag – es war deren Alltag.5 Dieser Nicht-Ort für DDR-Bürger war gleichzeitig ein Lebens- und Arbeitsort für die Mitarbeiter des MfS. Dies ist nicht spezifisch für den ostdeutschen Geheimdienst, sondern ein trivialer Befund, der für Geheimdienste und deren Liegenschaften im Allgemeinen gilt. Aus diesem Grund war es für Außenstehende unklar, welch vielfältige Gebäude sich hinter der Adresse »Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden, Diensteinheit 8200, 8060 Dresden«6 verbargen. Erst bei einer näheren Betrachtung wird das funktionale und

19 1 Laut Ilko-Sascha Kowalczuk wurde der Ehrenname »Tschekist« erst seit 1970 verwendet. In der vorliegenden Studie wird der Begriff als Sammelbegriff für die MfS-Mitarbeiter unabhängig von der zeitgenössischen Verwendung genutzt. Durch die explizite Nutzung als Adjektiv soll das Spezifische des MfS betont werden. Es sei darauf hingewiesen, dass der Traditionsbegriff sicher nicht von allen Mitarbeitern kritiklos übernommen wurde. Die Interviews zeigten, dass einige Mitarbeiter diese Selbstzuschreibung für sich persönlich nicht übernahmen. Vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR, Bonn 2013, S. 204. 2 Der Personenkreis der MfS-Bezirksverwaltung Dresden setzte sich in allen vier Jahrzehnten des Bestehens zum größten Teil aus Männern zusammen. Das MfS war eine – wenn auch keine reine – Männerdomäne. Wohl wissend, dass die vorwiegende Nutzung des Maskulinums Unschärfen mit sich bringt, wird aus forschungspraktischen Notwendigkeiten heraus bei allgemeinen Personenangaben die männliche Form genutzt. Es ist nicht möglich, den Frauenanteil der verschiedenen Referate und Abteilungen zu jedem gewünschten Zeitpunkt zu quantifizieren, wodurch erst eine empirisch korrekte Nennung beider Geschlechter mit einer entsprechenden Gewichtung sinnvoll wäre. Dort, wo explizit Frauen oder beide Geschlechter differenziert gemeint sind, wird dies sprachlich entsprechend berücksichtigt. Zudem widmet sich das Kapitel 3.1.2. e) dem Thema Frauen in der BV. Des Weiteren ist anzumerken, dass stets der Terminus des »Mitarbeiters« bzw. »Häftlings« benutzt wird, wobei jeweils die Präzision »ehemaliger« vorangestellt werden müsste. 3 Vgl. Interview mit Sven Herrmann am 24. 9. 2021, in: Archiv GBSD. Der Name wurde wunschgemäß pseudonymisiert. Interview geführt von Heiko Neumann. 4 Das geschilderte Grußverhalten in der Praxis unterschied sich vom normierten Verhalten. Vorgesetzte sollten demnach stets mit »Genosse« und dem dazugehörigen Dienstgrad angesprochen werden. Alle Angehörigen des MfS hatten sich im Dienst mit »Sie« anzureden. Vgl. MfS, Berlin, Minister, 1. 10. 1982: »Ordnung Nr. 8/82 über den inneren Dienst im Ministerium für Staatssicherheit – Innendienstordnung«, in: BStU, MfS, BV Ddn, Abt. KuSch 4373, S. 10 [der heftartigen Ordnung]. 5 Vgl. Interview mit Dieter Webs am 18. 8. 2020, in: Archiv GBSD. Der Name wurde wunschgemäß pseudonymisiert. Interview geführt von Heiko Neumann. In ähnlicher Weise äußerte sich Jörg Petters. Vgl. Interview mit Jörg Petters am 26. 3. 2021, in: Archiv GBSD. Interview geführt von Heiko Neumann. 6 VEB Maschinenbauhandel Dresden, 14. 12. 1984: [ohne Titel, Rechnung], in: BStU, MfS, BV Ddn, Abt. Fin. 579, Bl. 1086. Zuvor wurde folgende Postadresse genutzt: »Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden. 806 Dresden. PF 959«. Vgl. MfS, BV Dresden, BdL, Leiter Major Quaas, 2. 5. 1979: »Neue Postanschrift im Postverkehr mit Außenstehenden«, in: BStU, MfS, BV Ddn, Abt. KuSch 4796, Bl. 1. Die Zitate aus Quellen und Interviews wurden orthographisch der aktuell geltenden Rechtschreibung stillschweigend angepasst, ohne hierbei Inhalt und Aussage zu verändern (Ausnahme: Quellentitel wurden im Original belassen). Weiterhin wurden die bis zur Überführung des BStU in das Bundesarchiv (BArch) im Juni 2021 eingesehenen Akten in der ursprünglichen Signaturkennzeichnung (BStU) belassen. Alle nach der Überführung verwendeten Akten wurden mit der neuen Signatur (BArch) angegeben. Bautzner Straße stadtauswärts, im Hintergrund die »KD Dresden-Stadt«, undatiert BArch, MfS, BV Ddn, Abt RD Fo 267

Einleitung 20 räumliche Geflecht am Elbhang deutlich. Im öffentlichen Bewusstsein gilt »Die Stasi an der Bautzner« vielen als Synonym für Vernehmungen und (Untersuchungs-)Haft in Zeiten der SED-Diktatur. Doch die damalige BV war zweifelsohne mehr. Der bisherige Fokus auf die politisch Verfolgten war angesichts des umfassenden Transformationsprozesses der ostdeutschen und mithin Dresdner (Stadt-)Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten verständlich. Es entstand mit der Konzentration auf das Thema MfS-Untersuchungshaft allerdings eine gewisse »Erinnerungsasymmetrie«. So wurden die geheimdienstlichen und geheimpolizeilichen Methoden des MfS sowie deren Auswirkungen auf die Menschen weitestgehend aufgedeckt. Die heutige Gedenkstätte Bautzner Straße Dresden hat hierfür als überregional bekannter Erinnerungsort einen wichtigen Beitrag geleistet. Was bisher allerdings fehlte, ist das Aufzeigen der Verantwortung derjenigen, welche auf lokaler Ebene für die Sicherheit der (Weltanschauungs-)Diktatur zuständig waren. Denn im Lokalen lässt sich mitunter das Konkrete einer Zeit fassbarer beschreiben. Mit diesem Ansatz soll ein Beitrag dafür geleistet werden, die Aufarbeitung auf eine weitaus breitere, in Einzelfällen tiefergehende und vor allem multiperspektivische Grundlage zu stellen, ohne hierbei den Bezug zum übergeordneten zeitgeschichtlichen Kontext aus den Augen zu verlieren. Die Geschichte der Mitarbeiter der BV Dresden sowie die der zugrundeliegenden administrativen und räumlichen Strukturen sind zu rekonstruieren, um zu einem umfassenderen Verständnis des MfS-Apparates auf lokaler Ebene zu gelangen, wodurch auch dem verstärken Interesse von Forschung und Öffentlichkeit an lokalgeschichtlichen Schlüsselorten entsprochen wird.7 Die vorliegende Dissertation versteht sich nicht nur als Qualifikationsarbeit, sondern entstand vor allem aus der eigenen, mehr als zwölfjährigen Tätigkeit an der Gedenkstätte heraus. Mit dieser Arbeit eröffneten sich vielfältige empirische Detailfragen des Gedenkstätten-Teams sowie interessierte Nachfragen der (immer jünger werdenden) Besucherinnen und Besucher, weswegen ich mich dazu entschlossen habe, eine umfassendere Geschichte der BV Dresden zu schreiben: »Wann wurden die Gebäude gebaut, welche Abteilung war darin untergebracht, welche Funktionen erfüllten die Gebäude?«, »Was arbeiteten hier für Menschen, was waren das für Typen?«, »Wie sah deren damaliger Arbeits- und Lebensalltag aus?« Und vor allem: »Warum haben die das gemacht?« Es sind diese einfachen Fragen, die bisher nicht für diesen Ort (und die meisten anderen Bezirksverwaltungen des MfS) beantwortet werden konnten. Schließlich wurde es auch zu einem ganz persönlichen Bedürfnis, zu wissen, was hier einmal war. 7 Der historische Ort als solcher ist ein »Speicher der realen Geschichte und der persönlichen Erinnerungen« – so formulierte es der Dresdner Historiker Thomas Widera. Vgl. Widera, Thomas: Annähern an Orte – Plädoyer für eine lokalisierte Erinnerung, in: Hermann, Konstantin (Hg.): Führerschule, Thingplatz, »Jugendhaus«. Topographien der NS-Herrschaft in Sachsen, Dresden 2014, S. 11–17, hier: S. 15. Insgesamt ist die zunehmende topographische Schwerpunktsetzung bei Arbeiten zum sächsischen Raum zu entnehmen. Vgl. Hermann, Konstantin (Hg.): Fuhrerschule, Thingplatz, »Judenhaus«. Orte und Gebaude der nationalsozialistischen Diktatur in Sachsen, Dresden 2014. Vgl. ebenso: Schmeitzner, Mike/Weil, Francesca: Sachsen 1933–1945. Der historische Reiseführer, Berlin 2014 und Kaule, Martin: Sachsen 1945–1989. Der historische Reiseführer, Berlin 2015. Vor dem Hintergrund konkurrierender Erinnerungsperspektiven zum Themenfeld DDR nahm auch der englischsprachige Band von Hodgin und Pearce die Bedeutung von Gedenkstätten als Erinnerungsorte in den Blick: Hodgin, Nick/Pearce, Caroline: The GDR Remembered. Representations of the East German State since 1989, Rochester/New York, 2011.

21 1.1 FRAGESTELLUNG Die Bezirksverwaltung des MfS am Elbhang war ein Ort, der nicht isoliert von der kommunistischen Ideologie zu verstehen ist. Die dort tätigen Menschen verstanden sich – oder sollten dies zumindest – als »Tschekisten«, als Kämpfer für die Herrschaftsdurchsetzung der SED, letztlich als Parteisoldaten. »Menschen mit neuem Bewusstsein«, dies waren die Worte von Hauptmann Kurt Opitz aus dem Jahr 1954.8 Der aus einem sozialdemokratischen Elternhaus stammende Maschinenschlosser9 erlebte sechs Jahre des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges als Soldat und machte Karriere10 als »Chefstellvertreter Allgemein«11 und Mitglied der »Zentralen Parteileitung« (ZPL) der Dresdner BV.12 Er begleitete unruhig und kritisch die Errichtung des »Mittelbaus« samt Zellenhaus in den Jahren 1953 bis 1955, welches das erste prägende Großbauprojekt am Elbhang war. Opitz setzte sich energisch für den kombinierten Verwaltungs-, Repräsentations- und Repressionsbau ein und forderte die der »neuen Zeit« entsprechende Disziplin und Umsichtigkeit von allen am Bau beteiligten Akteuren. Seinen Ausführungen lässt sich die Überzeugung von der Notwendigkeit eines solchen multifunktionalen Bauwerkes entnehmen. Diese Episode verdeutlicht den Zugang zum Thema dieser Studie: Es werden die Menschen mit den ihnen innewohnenden weltanschaulichen Gewissheiten und zeitgenössischen Prägungen betrachtet und in einen Zusammenhang mit den (wachsenden) organisatorischen Strukturen der BV sowie deren topographischen Resultaten gestellt. Infolgedessen 8 Vgl. MdI, SfS, BV Dresden, Abt. Verwaltung und Wirtschaft, Hpt. Opitz, 30. 12. 1954: »Fertigstellung des Verwaltungsanbaus und der Nebenarbeiten in unserer Bezirksverwaltung«, in: BStU, MfS, BV Ddn, Abt. RD 348, Bl. 24. 9 Opitz gab in seinem Lebenslauf von Januar 1953 an, dass er in seiner Kindheit die »soziale Not des Arbeiters durch Arbeitslosigkeit« des Vaters kannte und er von seinem »Vater, der aktiv in der Arbeiterbewegung stand, erzieherisch dahingehend beeinflusst« wurde, dass er selbst eine »Bindung zur Arbeiterklasse« einging. Kurt Opitz, 28. 1. 1953: »Mein Lebenslauf«, in: BStU, MfS, KS 25536/90, Bl. 125. 10 Der Karriere-Begriff wurde kaum von den damaligen Mitarbeitern verwendet. Man sprach eher von Entwicklung. 11 Diese Dienststellung wurde in den Unterlagen auch »Stellvertreter allgemein« oder »Chefstellvertreter administrativ« genannt. 1962/63 wurde mit der Verrentung von Ernst Woitha, dem letzten »Chefstellvertreter«, die Planstelle aufgelöst. 12 Kurt Opitz, Jahrgang 1918, zählte zu den Mitarbeitern im mittleren Alter. 1946 aus sowjetischer Gefangenschaft entlassen, trat er noch im gleichen Jahr in die SED ein und kam 1952 zum MfS. Im Februar 1954 wurde er zum »Chefstellvertreter Allgemein« ernannt. Damit unterstand ihm unter anderem die Anleitung und Kontrolle der Leiterin der Abt. VuW, Hildegard Kleefisch. Vgl. MfS, KuSch, [ohne Datum]: »I. Teil. Zusammengefasste Auskunft«, in: BStU, MfS, KS 25536/90, Bl. 2 und 16. Vgl. ebenso: MfS, KuSch, ohne Datum: »II. 1. Einstellungsvorschlag, 2. Nachträge und Ergänzungen zum Einstellungsvorschlag, die im Zusammenhang mit Nachüberprüfungen gefertigt wurden«, in: BStU, MfS, KS 25536/90, Bl. 19 f. sowie MfS, BV Dresden, Leiter Oberst Markert, 3. 1. 1958: »Beurteilung«, in: BStU, MfS, KS 25536/90, Bl. 52. Vgl. ebenso: SfS, Berlin, Staatssekretär Mielke, 3. 2. 1954: »Befehl Nr. 34/54«, in: BArch, MfS, HA KuSch 1360, KB 34/54, Bl. 50.

Einleitung 22 werden die sozialwissenschaftlichen Kategorien – Struktur und Akteur13 – um die des Raumes erweitert. Denn der Raum spezifisch »tschekistischer« Arbeits- und Lebenswelten – verstanden als die Gesamtheit der Liegenschaften der BV Dresden in und um die Bezirkshauptstadt14 – wurde den ideologieimmanenten Notwendigkeiten und Bedürfnissen immer wieder angepasst und somit baulich erweitert. Bauwerke übermitteln Gestaltungsabsichten, Funktionsbedürfnisse, zeitgenössische Ästhetik. In ihnen, so die Überlegung, drücken sich die Vorstellungen der Menschen aus, welche sie planten, schufen und letztlich nutzten.15 Die strukturelle und topographische Entwicklung der BV sowie deren Mitarbeiter stehen folglich in einer interdependenten Beziehung zueinander. Aus diesem Ansatz heraus leitet sich die untersuchungsleitende Forschungsfrage ab: Wie entwickelte sich die BV Dresden auf den Ebenen Struktur – Raum – Mensch im Zeitraum von 1950 bis 1989 und in welcher Weise prägten diese Ebenen schließlich den Lebensalltag und die Mitarbeiter selbst? Attestationsblatt aus der Kaderakte von Kurt Opitz, November 1952 BArch, MfS, KS 25536 90

23 Um diese übergeordnete Frage mit ihren wechselseitigen Bezügen konkret zu beantworten, ist es erforderlich, Teilfragen abzuleiten. Die BV Dresden war eine Mittelinstanz innerhalb der zentralistischen Herrschaftsarchitektur in der DDR und befand sich organisatorisch zwischen dem Ministerium in Berlin und den 16 Kreisdienststellen im Bezirk Dresden, weswegen ihr eine besondere Rolle im Bezirk zukam und notwendige Ressourcen entsprechend dem MfS-spezifischen Aufgabenprofil bereit gehalten werden mussten.16 Durch diese exponierte Stellung im Bezirk handelte es sich beim »Mikrokosmos BV Dresden« – so die komprimierte Formel – um eine (MfS-)Stadt in der Stadt (Dresden).17 Um diese These zu begründen und die bereits angeführte Leitfrage zu beantworten, ergeben sich folgende Teilfragen: 1. Welcher Zusammenhang bestand zwischen der strukturell-administrativen Entwicklung der MfS-Bezirksverwaltung sowie den daraus resultierenden baulichen Notwendigkeiten? 2. Welche Art von Habitus18 wurde durch die Dresdner MfS-Mitarbeiter im Betrachtungszeitraum entwickelt? 3. Welche Auswirkungen hatten die baulichen Veränderungen auf den Lebensalltag der MfS-Mitarbeiter, wie stark prägten diese letztlich die Lebenswelten? 13 Die moderne Sozialgeschichte als geschichtswissenschaftliche Teildisziplin umfasst Strukturen, Prozesse sowie individuelle »Wahrnehmungen, Erfahrungen und Handlungen« von Akteuren. Insgesamt sind die Übergänge von der Sozialgeschichte zur Alltags- und Kulturgeschichte fließend. Vgl. Kocka, Jürgen: Sozialgeschichte, in: Jordan, Stefan (Hg.): Grundbegriffe der Geschichtswissenschaft, Ditzingen 2019, S. 265–269, hier: S. 266, 269. Einen übersichtlichen Beitrag zur Entwicklung der Kulturgeschichte lieferte Achim Landwehr. Insbesondere der kulturgeschichtliche Ansatz der Zusammenführung der Makro- (Strukturen und übergeordnete Prozesse) und Mikroperspektive (Lebensalltag der Menschen) wird in dieser Studie vom Ansatz her geteilt. Vgl. Landwehr, Achim: Kulturgeschichte, 2013, in: URL: http://docupedia.de/zg/landwehr_kulturgeschichte_v1_de_2013 DOI: http:// dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.248.v1, letzter Zugriff am 21. 2. 2019. Vgl. ebenso: Hübinger, Gangolf: Kulturgeschichte, in: Jordan, Stefan (Hg.): Grundbegriffe der Geschichtswissenschaft, Ditzingen 2019, S. 198–202, hier: S. 201. 14 Die über 80 Objekte, die der Dresdner BV zugeordnet wurden, werden nicht vollumfänglich in der vorliegenden Studie dargestellt, jedoch ein Großteil angesprochen und in den Zusammenhang eingeordnet. Vgl. MfS, BV Dresden, Abt. RD, [ohne Datum, wahrscheinlich 1980er-Jahre]: »Grundstücksverzeichnis der Bezirksverwaltung Dresden«, in: BStU, MfS, BV Ddn, Abt. Fin. 177, Bl. 1 ff. 15 In ähnlicher Weise formulierten Susann Buttolo und Alf Furkert ihre Gedanken zu den Hinterlassenschaften der »Ostmoderne«. Vgl. Buttolo, Susann/Furkert, Alf: Archivgut »Moderne«. Vom Sammeln, Erschließen und Streiten ums Erbe, in: Ulbricht, Justus (Hg.): Dresdner Hefte: Moderne in Dresden. Spurensuche in einer »Barockstadt«, Heft 137, 1/2019, S. 63–70, hier: S. 68. 16 Vgl. Catrain, Elise: »Zutritt für Unbefugte verboten« – die Abschottung der Dresdner Stasi-Zentrale, in: Boeger, Peter/Catrain, Elise (Hg.): Stasi in Sachsen. Die DDR-Geheimpolizei in den Bezirken Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig, Berlin 2017, S. 40–44, hier: S. 40. 17 Diese Formulierung gebrauchte bereits Christian Halbrock für die Zentrale in Berlin, wenngleich er stärker Bezug auf die räumliche Ausbreitung des MfS-Komplexes in Berlin-Lichtenberg nahm und nicht unbedingt die funktionale Differenzierung der Gebäude meinte. Vgl. Halbrock, Christian: Mielkes Revier. Stadtraum und Alltag rund um die MfS-Zentrale in Berlin-Lichtenberg, Berlin 2010, S. 55. 18 Der hier verwendete Habitus-Begriff wird im Bereich des methodischen Vorgehens (1.3) näher erläutert.

80 Apparat 3.1 STRUKTURENTWICKLUNG DER BV DRESDEN 3.1.1 EINFÜHRUNG: ZUR STRUKTURENTWICKLUNG EINER POLITISCHEN POLIZEI IN SACHSEN 1945 BIS 1949 Die historische Grundlage für die Existenz der Dresdner Staatssicherheit stellt das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa dar. Mit der Besetzung des zu großen Teilen schwer zerstörten Dresdens am 7. und 8. Mai 1945 durch die »Erste Ukrainische Front« entstand der Ausgangspunkt für das kommende realsozialistische Gesellschaftsexperiment. Nachdem die militärische Entscheidung gefallen war, galt es aus Sicht der Kommunisten, die politische Tiefenstruktur des Landes Sachsen und mithin der Stadt Dresden radikal zu verändern.1 Personell hatte dies die »Initiativgruppe Ackermann« zu besorgen, indem die administrativen Schlüsselpositionen besetzt wurden. Die sowjetische Besatzungsmacht stellte hierfür die nötigen Ressourcen bereit – eine ernstzunehmende Drohkulisse inklusive.2 Die Genese der politischen Polizei in Sachsen stand in enger Verbindung mit dem sächsischen Innenminister Kurt Fischer (KPD/SED), welcher der Gruppe um Anton Ackermann angehörte.3 Unter Fischers Führung (1945 bis 1948) entwickelte sich der sächsische Polizeiapparat zu einem Vorbild für die Polizeistruktur in der gesamten SBZ. Charakteristisch war die enge Verbindung zur KPD, wodurch die gesamte Polizei mit einem »Klassenauftrag« versehen und insgesamt stark politisiert wurde. Die Entwicklung einer dezidiert politischen Polizei begann bereits im Mai 1945. Der KPD-Funktionär Kurt Liebermann gründete mit dem »Kommissarischen Außendienst«, der bei der Stadtverwaltung Dresden und nicht beim eigentlichen Polizeiapparat angesiedelt war, einen ersten Vorläufer einer politischen Polizei, der sich in dieser Form allerdings nicht durchsetzte.4 Aufgrund des sowjetischen Drängens formierte der damalige Dresdner Polizeipräsident, Max Opitz, bereits im Juli 1945 die so genannte »Abteilung N«5, die weitaus eher den Kriterien einer politischen Polizei entsprach. Deren Zielstellung war es, NS-Verbrecher und ab Spätherbst 1945 auch Gegner der »neuen Ordnung« zu verfolgen. Im Oktober 1945 wurde die »Abteilung N« dem sächsischen Landeskriminalamt (LKA) unterstellt, ohne jedoch ihre strukturelle Verankerung gegenüber dem Dresdner Kriminalamt zu verlieren.6 Zur weiteren Formung einer politischen Polizei kam es im Oktober 1945 durch die »Zentralisierung der regionalen Kriminalämter«7 beim LKA Sachsen. Ab Februar/März 1946 wurden aufgabendifferenzierte Zentralstellen beim LKA und den fünf städtischen Kriminalämtern, darunter Dresden, eingerichtet. Hierbei befassten sich die Zentralstellen C und H

81 schwerpunktmäßig mit politischen Delikten, Ende 1946 übernahm die »Fachabteilung VI« beim LKA diesen Aufgabenbereich.8 Parallel zu dieser sächsischen Entwicklung wurde auf Veranlassung der SMAD die »Deutsche Verwaltung des Inneren« (DVdI) am 30. Juli 1946 mit dem Ziel gegründet, die Vereinheitlichung der Polizeistruktur innerhalb der SBZ herbeizuführen.9 Im Herbst des gleichen Jahres bildete die »DVdI« auf SBZ-Ebene eine Abteilung Kriminalpolizei, die wiederum nach einer Umstrukturierung zum Jahreswechsel 1946/47 das »Referat K 5« hervorbrachte, welches ähnliche Deliktfälle bearbeiten sollte wie die »Fachabteilung VI« des LKA Sachsen. Schließlich vollzog das LKA Sachsen Anfang 1947 eine schrittweise Angleichung an die Strukturen der »DVdI«. Entsprechend gab es in den fünf sächsischen Kriminalämtern–Bautzen, Chemnitz, Dresden, Leipzig und Zwickau–je ein Kommissariat der K 5.10 Im Kriminalamt Dresden waren Ende 1947 beispielsweise 133 Mitarbeiter mit politischen Strafsachen beschäftigt, in ganz Sachsen waren es 640 Mitarbeiter.11 Im April 1947 wurde der spätere Chef der »Verwaltung für Staatssicherheit« (VfS) in Sachsen, Joseph Gutsche, zum Präsidenten des LKA Sachsen ernannt.12 Dieser forcierte den Aufbau der K 5-Kommissariate maßgeblich. Der SMAD-Befehl Nr. 201 vom August 1947 bestärkte Gutsche, da der Befehl einen Kompetenzzuwachs der K 5 vor allem im Bereich 1 Zur politisch-administrativen Transformation in Sachsen vgl. Thüsing, Andreas: Landesverwaltung und Landesregierung in Sachsen 1945–1952. Dargestellt am Beispiel ausgewählter Ressorts, Frankfurt am Main et al. 2000. 2 Vgl. Richter, Michael/Schmeitzner, Mike: »Einer von beiden muß so bald wie möglich entfernt werden«. Der Tod des sächsischen Ministerpräsidenten Rudolf Friedrichs vor dem Hintergrund des Konfliktes mit Innenminister Kurt Fischer, Leipzig 1999, S. 48 f. Zur »Gruppe Ackermann« gehörte u. a. auch Artur Hofmann, der zwischen 1960 und 1970 als »Stellvertreter Operativ« in der BV Dresden tätig war. 3 Vgl. Müller-Enbergs: Wer war wer in der DDR?, Bd. 1, S. 326. 4 Für detaillierte Ausführungen zum »Kommissarischen Außendienst« vgl. Schmeitzner, Mike: Formierung eines neuen Polizeistaates. Aufbau und Entwicklung der politischen Polizei in Sachsen 1945–1952, in: Hilger, Andreas/Schmeitzner, Mike/Schmidt, Ute (Hg.): Diktaturdurchsetzung. Instrumente und Methoden der kommunistischen Machtergreifung in der SBZ/DDR 1945–1955, in: Berichte und Studien, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, 35, Dresden 2001, S. 201–267, hier: S. 209 f. 5 Zum Agieren der »Abteilung N« bzw. »Kriminalpolizei N« in Dresden vgl. Widera, Thomas: Dresden 1945–1948. Politik und Gesellschaft unter sowjetischer Besatzungsherrschaft, Göttingen 2004, S. 211 ff. 6 Insgesamt agierte die Abteilung recht selbstständig. Vgl. Schmeitzner: Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 205–214. 7 Ebd., S. 217. 8 Die »Zentralstelle H« arbeitete insbesondere den sowjetischen Sicherheitsagenturen zu. Vgl. Spors, Joachim: Der Aufbau des Sicherheitsapparates in Sachsen 1945–1949. Die Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit unter den Bedingungen eines politischen Systemwechsels, Frankfurt am Main et al. 2003, S. 266. 9 Vgl. Naimark, Norman M.: Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997, S. 448 ff. Vgl. ebenso: Vgl. Spors: Aufbau des Sicherheitsapparates, S. 108–112. 10 Vgl. Schmeitzner: Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 219–221. Vgl. ebenso: Engelmann: Das MfS-Lexikon, S. 119 und Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit, S. 55. Joachim Spors datiert den Übergang von der »Fachabteilung VI« zum K 5-Vorschlag der DVdI in Sachsen bereits auf Mitte Mai 1946. Fortan gab es das K 5-Dezernat beim LKA und die K 5-Kommissariate bei den fünf sächsischen Kriminalämtern. Vgl. Spors: Aufbau des Sicherheitsapparates, S. 268. 11 Vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit, S. 57. 12 Vgl. Ausweis für den Präsident des Landeskriminalamtes Sachsen, Gutsche, Joseph, Dresden, 5. 4. 1947, in: BStU, MfS, ZAIG/Fo/87, Bl.1, Vgl. ebenso: Engelmann: MfS-Lexikon, S. 122 f.

82 Apparat der Entnazifizierung13 und damit auch eine Vergrößerung des sächsischen Apparates bedeutete.14 Im Juli 1948 wurde Innenminister Kurt Fischer zum Präsidenten der »DVdI« berufen und trieb von Berlin aus den Aufbau der politischen Polizei voran. In diesem Zusammenhang wurde Rolf Markert, der spätere und am längsten im Dienst befindliche Leiter der BV Dresden, zum neuen Chef des K 5-Dezernates beim sächsischen LKA. Nachdem Stalin im Dezember 1948 schließlich dem Drängen der SED-Führung nachgab, kam es Anfang 1949 einerseits zu einer größeren Eigenständigkeit der K 5 gegenüber dem sowjetischen MGB und andererseits zur Trennung der regulären Polizeibehörden von der entstehenden Geheimpolizei.15 Die Abteilung K 5 wurde im März 1949 im Zuge der Umstrukturierung der Kriminalpolizei ausgegliedert.16 Stattdessen erfolgte die Zuordnung der jeweiligen K 5-Dezernate unter das Dach der »Abteilung K 5« beim »DVdI«, wodurch es sich um eine Zentralisierung und gleichzeitige Entkopplung der politischen Polizei handelte. Im Spätsommer 1949 erfolgte der Übergang von K 5 zum »Dezernat D«.17 Anfang September zählte das sächsische »Dezernat D« gerade mal rund 60 Mitarbeiter, die den kaderpolitischen Anforderungen des sowjetischen MGB und OVD (Abteilung für innere Angelegenheiten) entsprachen; zum Jahreswechsel waren es bereits ca. 340 Mitarbeiter.18 Nach der Staatsgründung im Oktober 1949 wurde das »Dezernat D« dem MdI zugeordnet und erhielt die Bezeichnung »Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft«.19 Am 8. Februar 1950 verabschiedete die provisorische Volkskammer das »Gesetz Hardi Anders (2.), Artur Hofmann (3.) und Rolf Markert (4.) (v. r. n. l.) im Mehrzwecksaal der BV Dresden, Ende der 1960er-Jahre BArch, MfS BV Ddn, AKG, Fo 7003

83 über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit«, wodurch die stufenweise Genese der politischen Polizei in Ostdeutschland ihren Abschluss fand.20 Der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in den Farben der SED war nicht ohne einen starken Repressionsapparat zu realisieren. In einem Kommentar von Mitarbeitern der BV Dresden zum »Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit« heißt es rückblickend: »Die Bildung des MfS am 8. 2. 1950 war unmittelbarer Bestandteil des Aufbaus der zentralen Staatsorgane der Arbeiter-und-Bauern-Macht nach der Gründung der DDR. […] Mit der Bildung des MfS wurde eine weitere Voraussetzung geschaffen, die Funktionen der Diktatur des Proletariats erfolgreich zu realisieren und alle Aufgaben der sozialistischen Etappe der Revolution zu lösen.«21 Es gab keinen ernst gemeinten demokratischen Anspruch beim Aufbau dieses Staates. Revolutionäre schufen sich ihre Strukturen für ihre Gesellschaftstransformation, da sie sich inmitten einer Nachkriegsrevolution wähnten. An der Spitze des Apparates stand der »langjährige sowjetische Vertrauensmann Wilhelm Zaisser«.22 Die Führung und den Aufbau der VfS in Sachsen übernahm, wie bereits erwähnt, der vormalige LKA-Präsident Joseph Gutsche. Als ehemaliger Moskau-­ Kader war er die zentrale Figur in Sachsen bis zur Auflösung des VfS im Zuge der Gebietsreform vom August 1952. Seine guten Kontakte zur sächsischen Polizeiverwaltung sowie zum späteren sächsischen Innenminister Artur Hofmann kamen seinem »Aufbauwerk« zugute. Das Personal dieser ersten Jahre rekrutierte sich aus recht unterschiedlichen Institutionen.23 Selbstredend nutzte die VfS das Potenzial der Polizei, insbesondere der vormaligen K 5. Darüber hinaus gewann man politisch zuverlässiges Personal aus den Reihen der Hauptamtlichen bei der SED, staatlichen Verwaltungen und Massenorganisationen. Instruiert und kontrolliert wurden die oftmals jungen Geheimdienstler von den »Freunden«.24 Mit der DDR-weiten Gebietsreform im Juli/August 1952 wurden auch die VfS 13 Vgl. Engelmann, Roger: Aufbau und Anleitung der ostdeutschen Staatssicherheit durch sowjetische Organe 1949–1959, in: Hilger, Andreas/Schmeitzner, Mike/Schmidt, Ute (Hg.): Diktaturdurchsetzung. Instrumente und Methoden der kommunistischen Machtergreifung in der SBZ/DDR 1945–1955, in: Berichte und Studien, Hannah-­ Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, 35, Dresden 2001, S. 55–64, hier: S. 56. 14 Vgl. Schmeitzner: Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 235. 15 Vgl. Schmeitzner: Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 252. 16 Roger Engelmann benennt den 6. Mai 1949 als Termin für die Ausgliederung der K 5-Dezernate aus den jeweiligen Landespolizeien hin zur DVdI. Vgl. Engelmann: MfS-Lexikon, S. 119. 17 Joseph Rutsche berichtete retrospektiv vom Aufbau eines eigenständigen »Dezernates D« in Sachsen ab Mai 1949. Die Territorialgliederungen nannten sich bereits »Landesverwaltungen«. Vgl. Schmeitzner: Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 254. 18 Vgl. ebd., S. 254. 19 Vgl. ebd., S. 253. Vgl. ebenso: Weinke/Hacke: U-Haft am Elbhang, S. 31–35. und Petrow, Nikita W./Foitzik, Jan: Die sowjetischen Geheimdienste in der SBZ/DDR von 1945 bis 1953, Berlin 2009, S. 55 f. sowie Engelmann: Aufbau und Anleitung, S. 56 f. und Naimark: Die Russen in Deutschland, S. 464 und Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit, S. 62. 20 Vgl. MfS, Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit, 8. 2. 1950, in: Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente des MfS, S. 21. 21 MfS, BV Dresden, Oberstleutnant Hoffmann und Oberst Böhm, 3. 9. 1981: »70. Geburtstag«, in: BStU, MfS, BV Ddn AKG Fo/10225, Bl. 7. 22 Schmeitzner: Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 253. Wilhelm Zaisser war 1948/1949 Innenminister in Sachsen und wurde von Artur Hofmann abgelöst. Vgl. Müller-Enbergs: Wer war wer in der DDR?, Bd. 1, S. 566 sowie Müller-Enbergs: Wer war wer in der DDR?, Bd. 2, S. 1465. 23 Zu den Rechtsgrundlagen bei Einstellungen im sächsischen Polizeiapparat nach Kriegsende vgl. Spors: Aufbau des Sicherheitsapparates in Sachsen, S. 115–119. 24 Vgl. Schmeitzner: Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 257 f.

84 Apparat aufgelöst. Fortan besaß das sächsische MfS in Chemnitz, Leipzig und Dresden seine Zentralen. MfS-Chef Zaisser ernannte am 24. Juli 1952 Joseph Gutsche zum Leiter der Dresdner BV, die im Herbst 1952 mit 712 Mitarbeitern die größte der drei Bezirksverwaltungen war.25 Im Januar 1953 wurde Gutsche ins Ministerium nach Berlin berufen; sein vormaliger Stellvertreter Gerhard Harnisch26 übernahm dessen Posten, der wiederum 1954 von Rolf Markert abgelöst wurde.27 In der Aufbauphase der sächsischen Staatssicherheit hatten sich diese Männer verdient gemacht. Darüber hinaus kam der Gutsche-Vertraute und Innenminister Artur Hofmann28 (ein »Moskauer« der »Initiativgruppe Ackermann«) im Jahr 1960 als »Stellvertreter Operativ« zur BV Dresden. Zusammen mit dem ersten Kaderchef Erich Bär, seinem Nachfolger Oskar Stefan (»Gruppe Mecklenburg«) und Parteisekretär Erich Glaser fand sich eine erste Generation von leitenden MfS-Mitarbeitern in der Dienststelle an der Königsbrücker Straße ein, die als »Politemigranten« vor und nach Kriegsende an der Seite der sowjetischen Besatzungsmacht für die kommunistische Diktaturdurchsetzung in Ostdeutschland kämpften. 3.1.2 ÜBERBLICK: STRUKTURENTWICKLUNG DER BV DRESDEN VON 1950 BIS 1989 a) Funktionsweise des Apparates: Grundüberlegungen, Merkmale, Prozesse und Strukturen Die BV Dresden war Teil des umfassenden Staats- und Sicherheitsapparates der DDR. Der Chef-Propagandist des hauptamtlichen Parteiapparates der BV, Gerd Appelt, brachte die Funktion des MfS folgendermaßen auf den Punkt: »Die tschekistische Arbeit dient der Durchsetzung der Politik der Partei. Die Partei richtet sich nicht danach, ob es uns Mühe macht, sondern die Strategie und Taktik der Partei ist das Maßgebende.«29 Beim MfS arbeiteten Menschen, die der SED folgten und deren Zukunftsvisionen teilten. Auf die Frage hin, was das MfS von anderen Geheimdiensten unterschied, antwortete der ehemalige Major Dieter Webs nach einem kurzen Stocken im Interview: »Das ist schwer zu sagen, weil ich immer sage: ›Jeder Geheimdienst arbeitet gleich.‹ Das ist so meine Auffassung. Ja, der prinzipielle Unterschied, den sehe ich, wir hatten an und für sich eine andere Zielstellung. Und zwar: Wir wollten ja eine andere Gesellschaftsordnung aufbauen und die wollten wir ja absichern. Das war für mich so der große Unterschied. Die Mittel und Methoden selbst, die ähneln sich, das ist nun einmal so.«30 Der Dienst beim MfS war aus der Binnenperspektive heraus ein Dienst für die richtige Sache. Die genannte Absicherung des sozialistischen Gesellschaftsentwurfes war nicht allein auf der Zentralebene zu erreichen, sondern bedurfte einer Repräsentanz in der Fläche; allein dies ist allerdings schon ein quantitativer Unterschied zu den anderen, westlichen Diensten. Die BV Dresden war eine Mittelinstanz innerhalb einer vertikalen Struktur, die vom Ministerium in Berlin mit seinen Hauptverwaltungen, Hauptabteilungen und Abteilungen über die BV bis zu den Kreisdienststellen führte. Gemäß dem »Linienprinzip« setzten die entsprechenden Abteilungen auf Bezirksebene die Befehle der Hauptabteilung aus Berlin um.31 Die Leiter der Kreisdienststellen waren wiederum dem Chef der BV direkt unter­

85 stellt.32 Das Verhältnis zwischen Zentrale und Mittelinstanz war – wie oben bereits eingeführt – engmaschig und erfolgte auf verschiedenen Kanälen (telegrafisch, telefonisch und per Brief). Die Vielzahl an strukturellen, organisatorischen, personellen und operativen Anweisungen des Ministeriums sind nur schwer überschaubar und waren im Rahmen dieser Studie nicht zu quantifizieren.33 Dennoch sind allgemeine Aussagen über die Funktionsweise der BV möglich. In diesem Zusammenhang ist auf das enge wechselseitige Verhältnis und die beständigen Rückkopplungen zwischen BV und Zentrale einzugehen. Demnach besaßen die BV-Leiter einen engen (fern-)mündlichen und schriftlichen Kontakt zum Ministerium.34 Die schriftliche Korrespondenz und damit die konkrete Weisungsbefugnis zwischen der BV und der Zentrale wurde bereits in den Aufbaujahren formal festgelegt.35 Deren regelmäßiges persönliches Einfinden zu »Arbeitsbesprechungen«36, »Chefbesprechungen« oder »Dienstberatungen«37 in der Berliner Zentrale sorgte für eine 25 Vgl. ebd., S. 264. Zur Auflösung der Länder und Einführung der Bezirke: Niemann, Mario: Zur Kaderpolitik der SED in Sachsen. Die Sekretäre der 1952 gebildeten Bezirksleitungen Chemnitz, Dresden und Leipzig, in: Richter, Michael/Schaarschmidt, Thomas/Schmeitzner, Mike (Hg.): Länder, Gaue und Bezirke. Mitteldeutschland im 20. Jahrhundert, Dresden 2007, S. 231–254, hier: S. 231. Insgesamt befanden sich auf dem sächsischen Territorium 2 221 Mitarbeiter, davon entfielen 491 auf Leipzig und 642 auf Chemnitz. Vgl. Schmeitzner: Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 265. 26 Kurzbiographie zu Gerhard Harnisch (1916–1996): Engelmann: MfS-Lexikon, S. 129 f. 27 Vgl. Schmeitzner: Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 265. 28 Artur Hofmann (1907–1987) war u. a. Teil der KPD »Initiativgruppe Ackermann« und seit Oktober 1945 als Chef der sächsischen Landespolizeiverwaltung und sächsischer Innenminister (1949–1952) maßgeblich an der Machtdurchsetzung der KPD in Sachsen beteiligt. Hofmann zufolge sollte die neue sächsische Polizei »nicht unpolitisch sein«, sondern »die Interessen der arbeitenden Klassen vertreten«. Zit. nach: Donth, Stefan: Die KPD als Partei der Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Erste Weichenstellungen bis zur Zwangsvereinigung mit der SPD, in: Behring, Rainer/Schmeitzner, Mike (Hg.): Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Studien zur Genese der kommunistischen Herrschaft 1945–1952, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 103–128, hier: S. 120. Vgl. ebenso: Schmeitzner: Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 255. Nach schwerer Erkrankung begleitete Hofmann von 1960–1970 die Position des »Stellvertreters Operativ« der BV Dresden. Anders als Markert blieb Hofmann in der Sowjetunion und geriet im Februar 1938 in den Strudel der stalinistischen Säuberungen durch den NKWD. Im Januar 1939 wurde er entlassen. Beide Männer kannten sich aus der Zeit in der Sowjetunion. Vgl. Engelmann: MfS-Lexikon, S. 162 f. Vgl. ebenso: Müller-Enbergs: Wer war wer in der DDR?, Bd. 1, S. 566. Vgl. Petersen, Andreas: Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte, Frankfurt am Main 2019, S. 124. 29 MfS, BV Dresden, GO 101, April 1987: »Schlußwort des Genossen Appelt«, in: BArch, MfS BV Dresden, ZPL 2148, Bl. 88. Appelt sprach zur Mitgliederversammlung der »Abteilung KuSch« (GO 101). 30 Interview mit Dieter Webs am 1. 12. 2020, in: Archiv GBSD. Der Name wurde wunschgemäß pseudonymisiert. Interview geführt von Heiko Neumann. 31 Vgl. Gieseke: Ministerium für Staatssicherheit, S. 372. 32 Vgl. SfS, Dienstordnung des Staatssekretariats für Staatssicherheit, II., § 5, 17. 9. 1954, in: Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente des MfS, S. 92. 33 Vgl. exemplarisch Sammlung von Anweisungen und Befehlen des Stellvertreters des Ministers (Markus Wolf) aus den 1970er- und frühen 1980er-Jahren gegenüber dem Leiter der BV: BArch, MfS, BV Dresden, Leiter 10844, Bl. 1–24. 34 Im Rahmen des »Berichtswesens« wurden Lageberichte, Einschätzungen und operative Vorgänge gegenüber dem Minister und entsprechenden Hauptabteilungen in Berlin schriftlich kommuniziert. 35 Vgl. SfS, Dienstordnung des Staatssekretariats für Staatssicherheit, VI., §§ 3, 4, 5, 8, 9, VII., 17. 9. 1954, in: Engelmann/ Joestel: Grundsatzdokumente des MfS, S. 95 ff. Entsprechend verlief der schriftliche Anleitungs- und Kommunikationsweg vom Staatssekretär bzw. Minister direkt zum Leiter der BV bzw. von den Hauptabteilungsleitern zu den Abteilungsleitern »auf Linie«. 36 Vgl. MfS, Berlin, Staatssekretär, Mielke, 2. 3. 1951: »Arbeitsbesprechung der Leiter der Abteilung IX«, in: BArch, MfS, AS 102/66, Bl. 6. 37 Vgl. MfS Berlin, BdL, Leiter, Generalmajor Ludwig, 11. 11. 1988: »Einladung zur Dienstberatung am 25. 11. 1988, in: BArch, MfS, BV Dresden, KuSch 4399, Bl. 328. Im vorliegenden Fall wurden die Leiter der jeweiligen Abteilung »KuSch« der Bezirksverwaltungen zur Dienstberatung am 25. 11. 1988 von 10.00 bis 17.30 Uhr eingeladen. Den Terminen der »Dienstbesprechungen« in den 1950er-Jahren ist zu entnehmen, dass diese im Schnitt zweimal im Jahr stattfanden.

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